38. Griechisches Denken des Traums. Pindar
Vormals und in dem Lande, dessen Geschichte und Fest Höl-derlin grüßt, wurde das Seiende anders gedacht, anders daher auch das Nichtseiende. Gesetzt, daß das Traumhafte das Nicht-seiende im Unterschied zum Seienden ist, und gesetzt, daß im Gedicht die goldenen Träume im Wesensbezug zum Griechenland genannt sind, dann mag es nahe liegen, bei den Griechen selbst einen Rat zu holen darüber, wie sie den Traum gedacht haben.
Wir wollen dies versuchen und zwar auf dem jetzt vielleicht gemäßeren Wege, daß wir nicht die Denker des Griechenlands oder gar die Naturkundigen und Ärzte, sondern einen seiner Dichter fragen, und wiederum nicht einen beliebigen, sondern jenen, dessen Wort für Hölderlin in der Hymnenzeit zum zweitenmal und anders noch als bei der ersten Begegnung wesentlich wurde. 'Vir halten uns zur Erhellung des Wesens-bezirks des Traumes an ein Wort von Pindar. Es steht am Schluß einer seiner späten Oden, Pythia VIII, 135sqq..
ἐπάμεροι· τί δέ τις; τί δ᾽ οὔ τις; σκιᾶς ὄναρ
ἄνθρωπος. ἀλλ᾽ ὅταν αἴγλα διόσδοτος ἔλθῃ,
λαμπρὸν φέγγος ἔπεστιν ἀνδρῶν
καὶ μείλιχος αἰών.
Hölderlin hat selbst diese Ode übersetzt. Wir folgen zunächst seiner übertragung (V, 71):
»Tagwesen. Was aber ist einer? was aber ist einer nicht? Der Schatten Traum, sind Menschen.«
»Tagwesen« nennt Pindar die Menschen, und er meint hier Wesen, die unbeständig und flüchtig sind wie der Vorbeigang eines Tages: Eintagswesen. Aber es ist nicht ohne weiteres klar, was das ἐπάμεροι (dor. ἐφήμεροι) meint. Etwa nur dies, daß die Menschen >Eintagswesen< sind, kurzdauernd? Das Tag-wesen ein flüchtiges Wesen. Was heißt dies, und was heißt es griechisch gedacht? Indem das Tagwesen nur ein Vorbei-gehendes ist wie der Tag, ist es in gewisser Weise noch und hat doch zugleich auch stets schon aufgehört zu >sein<. Kaum daß einer ist, ist er schon nicht mehr, ist er nicht. Daher die Frage: τί δέ τις; τί δ᾽ οὔ τις; : was ist einer und was ist einer nicht?
Solches Wesen muß sein, aber zugleich auch nicht sein, es ist Seiendes und Nichtseiendes; aber wenn der Mensch wesentlich auch Nicht-seiender ist, dann muß er auch als Seiender schon vom Nichtsein bestimmt werden. Auch das Seiende an ihm ist nicht von eigengründigem Bestand und in sich ruhender Beständigkeit. Schon das Seiende an ihm ist kein von sich her Aufgehendes und Auf-sich-gestelltes. Schon das Seiende am Menschen ist nicht wie das Aus-sieh-aufgehende, das Licht der Sonne, sondern was nicht mehr Licht ist, aber in solchem Nicht-mehr doch auf das Licht bezogen bleibt und von ihm herkommt, eine Mitgift des Lichtes. Schon das Seiende am Menschen ist nicht in sich stehende und aus sich stehende Gestalt, sondern nur ein Abkomme und Nachkomme dieser im Licht, - das von der Gestalt im Licht Abkommende und von ihr Abgeworfene, das von der Gestalt im Licht Geworfene - ein Schatten (σκιά).
Wiederholung
[...] Der Ursprung und das Eigene des südlichen Landes haben ihr Wesen in dem, was von den einwiegenden Lüften gesagt wird. Sie sind schwer von goldenen Träumen. Schwer, d. h. hier erfüllt und reich davon, so daß die »goldenen Träume« gleichsam das Schwergewicht sind, in dem alles Wesenhafte dieses Landes, d. h. seine Geschichte, d. h. die Entgegnung seiner Götter und Menschen ruht. Der We-sensgrund des Eigenen des Griechenlandes sind» Träume«.
Was der Traum sei, versuchen wir uns am Traumhaften nach zwei Hinsichten zu klären. »Das Traumhafte« ist einmal das Unwirkliche gegenüber dem Wirklichen. Nach dieser Hinsicht scheint auch Pindar zu denken, wenn er vom Menschen sagt, er sei ein Schatten, ja eines Schattens ein Traum. Pindar sagt dies vom Menschen als Antwort auf die Frage, was der Mensch und zwar als» Tagwesen« sei. Schon die Art der Frage nach diesem Wesen des Menschen hat das Wesen selbst in den Blick gefaßt; die Frage ist schon in sich, wie jede echt entsprungene, dem Bezug zum Befragten entstammende Frage, eigener Art.
Pindar fragt: Was ist einer, was ist einer nicht? Diese Frage sucht keineswegs die Feststellung dessen zu treffen, was der Mensch ist, um dann noch ergänzend all das anzugeben, was er nicht ist; denn »nicht« ist der Mensch Vieles und Vielerlei; und dies aufzuzählen, wäre ohne Sinn und Tragkraft. Die Doppelfrage meint: Worin besteht das Sein des Menschen und worin das ihm eigene Nichtsein? In der Doppelfrage liegt schon die Antwort: Zum Sein des Menschen gehört ein Nichtsein.
Auf die Frage, worin das Sein, d. h. griechisch die Art der Anwesenheit des Menschen bestehe, antwortet Pindar: Darin, daß er ein Schatten ist. Schatten ist immer geworfener, aber als dieser ist er doch auch wieder ein Abschattendes, was selbst noch eine Art von Anblick gibt und so zeigt, wie ein Ding aussieht: εἶδος. Allein dieses >Aussehen< läßt schon nicht mehr das Seiende selbst heraustreten und deshalb nennen die Grie-chen einen solchen Anblick, den die Schatten bieten und der sie selbst sind, εἲδωλον - (>Idol<).
39. Der Traum als schattenhaftes Erscheinen des Entschwindens ins Lichtlose. Anwesung und Abwesung
Pindar sagt nicht einfach: der Mensch ist ein Schatten. So bliebe er doch unmittelbar nur auf das Licht bezogen. Pindar sagt: der Mensch ist des Schattens ein Traum. Er sagt dies vom Menschen, sofern er als Tagwesen genommen wird. Gleich irrig wäre es nun, rundweg zu meinen, der Mensch sei ein Traum. Er ist weder dieses: nur Schatten oder nur Traum, noch ist er nur beides: Schatten plus Traum in der Summe. Zwar liegt das Gewicht in dem zuletzt Gesagten: ὄναρ, Traum, aber der Traum ist Traum eines Schattens. Schatten ist schon als Abschattendes nicht mehr das Leuchtende und gar das Licht selbst, sondern schon eine Art Abwesung des Leuchtenden und des eigentlich selbst Erscheinenden. Der Mensch: nicht das Leuchtende selbst, aber auch nicht das Abschattende selbst, sondern von diesem Abschattenden ein Traum.
Was ergibt sich aus all dem für das hier gedachte Wesen des Traumes? Ist der Traum nur eine Steigerung des Schattenhaften, also der Schatten eines Schattens und damit das Flüchtigste alles Flüchtigen; ein Nichts, und daher das ganz und gar Unwirkliche? So meinend, würden wir das Griechische verfehlen, denn Pindar will in der Nennung des Bezugs von Schatten und Traum sagen, daß der Traum die Weise der Abwesung des selbst schon in gewisser Weise Lichtlosen ist: der Traum die, äußerste Abwesung ins Lichtlose und dennoch nicht nichts, sondern auch so noch ein Erscheinen: dieses Entschwinden selbst noch ein Erscheinen, das Erscheinen des Weggangs in das völlig Glanzlose, nicht mehr Leuchtende. Der Traum des Schattens ist die ermattende Anwesenheit des Matten, Licht-losen; keineswegs ein Nichts; im Gegenteil, vielleicht sogar das Wirkliche - das allein als wirklich Zugelassene dort, wo der Mensch nur am ständig Entschwindenden hängt, dem Täg-lichen des Alltags, sofern dieser für das Einzige gilt, was das Leben als das Nahe und Wirkliche kennt. Indem der Mensch sich nur an das bloß Tägliche, an dies verschwindende Erscheinen des Entschwindenden hält, entschwindet er selbst in seinem Erscheinen, das ohne eigenes Leuchten ist: eines Schattens der Traum. Solches ist der Mensch als »Tagwesen«, das nur hinter dem Täglichen hertaumelt.
Allein Pindar sagt ja nicht nur dieses: der Mensch ist ein Tag-, d. h. Alltagswesen und so eines Schattens ein Traum; Pindar sagt dieses nur als Vorwort zum anderen Wort:
ἀλλ᾽ ὅταν αἴγλα διόσδοτος ἔλθῃ
Aber wenn der Glanz, der gottgeschenkte kommt, Leuchtend Licht ist 'da bei den Männern
καὶ μείλιχος αἰών
Hölderlin übersetzt: »und liebliches Leben«. Gemäßer müssen wir sagen: »und die Weltzeit der Milde«, die Weile des Ausgleichs, d. h. das Fest.
Doch bei solcher Gegenüberstellung der Worte über das Menschenwesen wird nur noch deutlich.er, daß der Traum und das Traumhafte hiet als das ganz Lichtlose dem Glanz des Festes entgegen steht. Das Traumhafte ist also auch hier das un-eigentlich Wirkliche im Gegensatz zum eigentlich Wirklichen. Wozu dann dieser Hinweis auf Pindar? Soll er uns nur umständlich bestätigen, was auch wir schon zu wissen meinen, wenn wir sagen: >Träume sind Schäume<? Wollen wir uns nur einen Beleg dafür verschaffen, daß auch bei den Griechen das Traumhafte als das Unseiende am Seienden gemessen wird? Mit diesem Hinweis auf Pindars Wort gewinnen wir keine Aufhellung des Wesens des Traumes, die dem Verständnis des Hölderlin-Verses dienen könnte. Im Gegenteil: hier ist doch von »goldenen Träumen« gesagt; die Träume sind hier das Glänzende und das soll überdies zugleich das Eigene des griechischen Menschentums kennzeichnen. Statt einer Klärung schaffen wir lediglich Verwirrung. So sieht es aus, wenn wir nur nach >wirklichen< Resultaten und Definitionen schnappen, statt mögliche Wege der Besinnung zu erkennen und zu gehen.
Das Traumhafte soll nach zwei Hinsichten gekennzeichnet werden. Einmal in seinem Bezug zum Wirklichen, d. h. als das am Wirklichen Gemessene. Diese Kennzeichnung haben wir jetzt gewonnen. Sie scheint zugleich überflüssig zu sein. Aber wir haben sie noch gar nicht gewonnen. Denn das Wesentliche an Pindars Wort haben wir trotz allem übersehen. Das Traumhafte läßt sich nicht globig verrechnen auf das nur Unwirkliche und die Minderung des Wirklichen bis ins Nichtige. Das Traumhafte und der Traum ist Entschwinden des selbst schon abwesenden Lichtes und Glanzes, dessen, was von sich her an-west und scheinend (leuchtend) erscheint. Auch die Abwesung als Abwesung dieses Entschwindens ist noch eine Anwesung. Der Bezug zu dieser bleibt das Entscheidende im Traum, nicht daß er ein bloßes Nichtiges ist.
Neuzeitlich denkend denken wir daher auch meistens die griechische Unterwelt, das Reich der Schatten, nur als das Reich des Unwirklichen und Nichtigen. Wir verkennen dabei das Wesen des Erscheinens und Anwesens, das auch hier waltet. Die »Schatten« sind da nicht eine Verdünnung eines Wirklichen, sondern die eigenständige Art der Anwesung eines Wesenden.
So wie in der Abwesung des Traumes ein Erscheinendes anwest, so waltet nun auch umgekehrt im Anwesenden stets die Abwesung. Daher gilt: auch was der Mensch als anwesender in der Weise des Schattens ist, das ist er nicht in der Art des bloßen Anwesens und Vorkommens. Dergleichen gibt es gar nicht; sondern alle Anwesung ist in sich zugleich Abwesung. Das Anwesende erstreckt sich als ein solches, nicht etwa nur nachträglich und beiläufig, sondern seinem Wesen nach in die Abwesung.