Zentrum für Balneologie (abgewickelt)

Lichter der Kurstadt, erloschen

Einmal, als sein Leben dem Menschen noch nicht wie ein zerbrochener Teller vor den Füßen lag, da er noch ein großer Leimkünstler war, blühte das Kurwesen, um ihm leimen zu helfen. Alle Kurtage waren lichte Tage, der lose Hans fand seine lose Lise und ihrer beider Schatten schnitten sich in seliger Unendlichkeit. Wer wollte es ihnen verdenken! Der erfahrene Badearzt riet der frigiden Betschwester aus Elmshorn zu entspannenden Schäferstündchen mit Hamburger Matrosen in der Nachbarpension, dem Bergmann aus dem Ruhrgebiet zu Bier ohne Schnaps und der eleganten Diseuse mit hartem Schanker zu einem Gastauftritt im nahe gelegenen Müttergenesungsheim. Die „Weinstube“ war jedermann noch ein Begriff, so gut wie das im Souterrain gelegene Wirtshaus; die Eckkneipe, das Beletage und – Himmel auf Erden! – das Tanzlokal. Allein seine köstlichen Namen, die alles hielten oft, was sie versprachen: „Rheingold“, „Scala“, „Domizil“. Musikanten spielten auf oder wenigstens legte ein Bach-Sohn den Riemen auf die Hammondorgel. Im Hotel garni gingen die Lichter niemals aus, Hutgeschäfte florierten und der Kolonialwarenhandel blühte wie nur das Eisgeschäft. Die Melancholie war keineswegs abgeschafft, doch war man seitens einer peniblen Kurverwaltung um nicht weniger bemüht, als sie wenigstens für die Zeit der Kur außer Kraft zu setzen. In Kur- und Badehäusern ging man seinen Anwendungen nach, lernte das Flanieren im Kurpark und steckte den Brieftauben Ansichtspostkarten zu zwecks Beförderung derselben an die Lieben, zuweilen ungeliebten Lieben, daheim. Der Kurort war ein Ort gestillter Sehnsucht. Der Atem ging bald ruhiger vor Saline und im Thermalbad, bald rascher am Abend im Kurtheater oder dem Kurlichtspielhaus. Vornehmere, wahrhaft solennene Badeorte, die auf sich hielten im Großen und Kleinen, verfügten über eine Konzertmuschel, über ein Casino, das noch dem verwöhntesten Gast die Illusion von Urbanität inmitten geometrisch oder sonst wie angelegter Blumenrabatte gab. Und selbst für den, der es vorzog auf Spiel und Spieler, auf Roulette, Baccara und Black Jack, herabzusehen, der lieber unter freiem Himmel saß, lesend, mit seiner Zigarettenspitze die Küsten der Wörter und Sätze seines Buches entlangfahrend, war gesorgt, konnte er doch allezeit ein Gespräch aufnehmen mit anderen Badegästen und mit launigen Einwürfen glänzen; etwa dem von der Kur als „Ehebruch mit Rückfahrkarte“, vor und nach kalten Güssen oder Wechselbädern, selbst das Schweigen wurde nicht beargwöhnt, sondern gelassen geduldet. In diesem Arkadien galt nur eine Losung, ein Wahlspruch, ein Motto: „Morgens Fango, abends Tango!“. Unter dieser Parole, diesem Schlachtruf zog man ins Feld, um die Zeiten öden Alltags zu unterpflügen. Mit Sport und Tanz, Freiluftschach und Mini-Golf, Boule und Bowle, Gesellschaftsspielen aller Art, Wanderungen, mit und ohne Führung. Behagliches Rauchen an Kaminen im Winter, Kutschenfahrten im Sommer, auch Vogelbestimmungen und Staunen über Staunen angesichts der Blumenpracht, die geschickte Kurgärtner angerichtet hatten zum Vergnügen der zahllosen Gäste; nicht zu reden von den Schwänen, von den Trauerschwänen, all dies verdunkelte die Erinnerung an den unweigerlich kommenden Tag der Abreise. Mit dem nahenden Ende der verlängerten Kur nahm die Sehnsucht auf die nächste und übernächste zu. Und so sehr der Bahnhof der Kurstadt am Tag der Anreise den Zauber des überwundenen Alltags, der bereits während der Fahrt gelodert hatte, beförderte, so war er jetzt, beim Abschied, zum traurigen Mausoleum aufs Eis gelegter Träumereien, zum Sinnbild abgrundtiefer Einsamkeit geworden.

Denn was war schon das Ende des Lebens gegen ein Ende des Vergnügens, ein Badegast, ein Gast aller Erd- und Wassergötter und ihrer Wohltaten gewesen zu sein!

Ralf Frodermann VI 2013