Oswald-Kolle-Kolleg

Bei aller Liebe…/Heiratswut und Ehehass auf der Benutzeroberfläche Natalja Diring in memoriam

„Der allerboshafteste Mann wird niemals über die Frauen so viel Gutes und so viel Böses sagen, wie sie selber von sich denken.“

Balzac, Physiologie der Ehe

„Bis zum Alter von dreißig Jahren ist das Antlitz einer Frau ein Buch, das in einer fremden Sprache geschrieben ist und das man auch übersetzen kann – trotz den Schwierigkeiten, die die vielen ›Gynäcismen‹ des Idioms bereiten; ist sie aber über die Vierzig hinaus, so wird eine Frau ein unentzifferbares Gekritzel, und wenn überhaupt jemand eine alte Frau erraten kann, so ist es eine andere alte Frau.“

op.cit.

Während das Merchandising um Hochzeit, Heirat, Ehe und Familie auf vollen Touren läuft, halten Zeitkritiker an der nüchternen Einsicht fest, wonach es sich bei der Ehe um ein Waren-Termin-Geschäft (H. E. Dohrendorf) handelt. „Figaros Hochzeit“ wird da und dort zwar noch gegeben, die matte Lateinlehrerzote für Akronymstudenten: Errare humanum est ist hier und da noch in Gebrauch, Ingmar Begmans Szenen einer Ehe werden dann und wann auf Filmhochschulen noch analysiert, doch im Vordergrund heutiger Ehekalkulationen stehen zweifellos wieder Versorgungsdenken, Glücksverlangen und Ichschwäche. Seit den Zeiten Theodor Hendrik van de Veldes und seines alten Bestsellers und Standardwerks „Die vollkommene Ehe“ war Ehe und eheliches Leben wieder in aller Munde. Hatte Max Horkheimer ihr vor fünfzig Jahren noch einen Totenschein ausgestellt, so erfreut sie sich als Lebens- und Überlebensmodell heute wieder großer Anteilnahme. In weiten Kreisen ist das Verheiratet-Sein eine notwendige Bedingung von Sein überhaupt. Verheiratet-Sein, reines Verheiratet-Sein, ohne alle weiteren Bestimmungen. Scheitern Ehen, ist die Demütigung total. Sie hat dann einen Reifegrad erreicht, der sie unbeherrschbar macht: Frauen werden zu Hyänen oder Harpyien, Männer zu Saufbolden und Jüngern universaler Niedertracht. Die Ehe hat in solchen Zeiten auch alle Rücksichtnahme auf Vorteile usw. abgestreift, selbst die pragmatische Vorstellung „Ehe als Steuersparmodell“ ist unwirksam geworden, es regiert der ungetrübte Vernichtungswille.

Komplementär zur Heiratswut verhält sich der Ehehass. Er ist unter Scheidungsopfern in der Form zynischer Gelassenheit verbreitet und pflegt sich in schalen Witzchen bzw. Haßtiraden zu erkennen zu geben.

Im Alter hat Ehe keine Geschäftsgrundlage mehr, vergl. Verf. „Altern in Kurorten“, in: Im Rücklicht der Gegenwart/Inventionen I Berlin, 2012. Aus dem Recht der ersten Nacht ist ein Gewohnheitsrecht geworden, das selten eingefordert wird. Die Akkumulation von Lebenslügen führt zum Wuchern der Schutzbehauptungen. War das Leben einmal eine Last, so ist es dann nur lästig: Alone togehter.

Ralf Frodermann VI 2012