Seeschule "Peter Gan"

Peinliche Stellen oder: Staiger statt Szondi

Über einen neuerdings erhobenen pfäffischen Ton in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft (NDL)

Zu Wolfgang Braungarts „Die Kunst ist keine Immaculata. Einige Thesen zur Bedeutung schöner Stellen für die Kanonbildung. Auch der Versuch einer Antwort an Heinz Schlaffer.“ (in: Germanisch-Romanische Monatsschrift Neue Folge Band 68 Heft 2018 S.89ff.)

„Wir tun etwas, das für uns Sinn hat und macht.“

W. Braungart (ibid. S.91)

Wo sich Dorothee Sölle („große Theologin“ Braungart ibid. S.96)), Martin Walser („einer der ganz großen Autoren der deutschen Literatur nach 1945“ ibid. S.104), Sibylle Lewitscharoff („kluge wie oft provozierende S.L.“ ibid. S.104) und Jan Wagner („Von der Zeichensprache der Natur und ihrer Bedeutung für das Gedicht handelt Jan Wagners Lyrik oft.“ ibid. S.94) ein Stelldichein geben, ist grober Unfug nicht weit.

Braungart, dessen Seitenwechsel, d. h. Outing als biedermeierlicher Schmock unmittelbar bevorzustehen scheint, gibt, im peinlich berührenden Ton des pietistischen Briefkastenonkels, Bruchstücke einer ästhetischen Konfusion zum Besten, die bemerkenswert ist:

„Weil wir Bewusstsein haben und uns – die eine mehr, der andere weniger (sic! RF) - unserer selbst bewusst sind, können und müssen wir uns zu unserer Um-Welt und zu uns selbst bewusst verhalten.“ (ibid. S.91).

„Es hat seinen guten Sinn, dass wir grundsätzlich, was sich am und im Leben bewährt, nicht leichtfertig über Bord zu werfen pflegen.“ (ibid. S.93. Dass Braungart diese eminente Einsicht einem „wichtigen, hilfreichen Hinweis von Manfred Frank“, für den er sich mit bizarrem Aplomb bedankt, verdanken will, wie er in der Fußnote vermerkt, lässt die Dimension seiner Konfusion wenigstens erahnen.)

Inmitten des „Schuldzusammenhangs alles Lebendigen“ (Benjamin), inmitten der Autonomie und Heteronomie des literarischen Kunstwerks von Hölderlin bis Heym und inmitten des Tathandlungsreisenden („weil das Ich mehr ist als bloßes 'Ich', ein Subjekt nämlich: Es kommt aus einer Lebensgeschichte subjektiver ästhetischer Erfahrungen, die nicht nur bloß partikulär sind.“ (ibid. S.105) löffelt Braungart sein dünnes Brotsüppchen und rinsert* - „mit schwachen, doch emsigen Schritten“ (BWV 78) - vor sich hin.

Das saturierte Sektierertum im Gewand philologischer Vernunft kommt schließlich, wie auf jeder Kanzel, im Dank zu sich selbst:

„Es gibt auch die Erfahrung des Geschenkt-Bekommens, die Erfahrung, sich verdanken zu dürfen, und zwar in der Weise des ganz unverdienten Geschenkt-Bekommens, an das ich durch mein Verstehen nicht mehr wirklich (sic! RF) herankomme.“ (ibid. S.105)

Es ist und bleibt gute Sitte unter Predigern wie Braungart, Gegengötter diskret zu perhorreszieren.

Adorno etwa, dessen Rundfunkbeitrag Schöne Stellen (abgedruckt in: Gesammelte Schriften Band 18 S.695ff.) Kanonikus Braungart en passant verdruckste Erwähnung tut, ist ihm so wenig Gewährsmann wie die, die mit dem „Allgemeinn-Menschlichen nichts mehr anfangen“ (ibid. S.99) können und auf „das Glück menschlicher Zugehörigkeit" (ibid. S.100) pfeifen, nämlich die „Zunft der Literaturwissenschaftler nach 1968“ (ibid. S.99) oder der allen Dichter- und Pfaffenkitsch verabscheuende Brecht.

Braungart ist es um das „affirmativ-anthropologische Potential“ (ibid. S.99) aller großen Kunst zu tun, „was den Menschen gemeinsam ist (von Natur und Kultur her!).“ (ibid. S.100) und so landet er endlich in der „Heimat Mensch“, einer der prominenten Spielplätze zeitgemäßer Esoterik. (Nach dem gleichnamigen Buch Christoph Antweilers, Hamburg, 2008, das Braungart zustimmend anführt.

Dass er gegen Ende seiner, nach Lage der Dinge, anachronistischen Diatribe nebst bibliographischem Pfauenrad ein Stück gelebter Erfahrung artikuliert, indem er erzählt, warum er und seine Gattin ihr Haus einmal ohne Ecken und Kanten im Wohnbereich haben bauen lassen.

lassen (ibid. S100/101), ehrte jeden Autor öder Fertighauskatalogtexte; dem Braungartschen Elaborat aus Wehmut und Weihe setzt es die Narrenkrone auf.

*Luise Rinser (1911-2002)

Fortsetzung folgt:

Unbefleckter Appendix 1:

„Ingebrauchnahme“ und „Parekbase“:

Anmerkungen zu Schlegel und Braungart, mit einem Ausblick auf die Weisheitsliteratur Charles Bukowskis und sein Gedicht Rentner:

Alles

Ist bestens geordnet: Jeder

Kriegt einen Löffel Honig und dann

Das Messer rein.

Unbefleckter Appendix 2:

Das Auf-der-Stelle-Treten des W. B. / Thesendenken im Post-Schulfunk

Unbefleckter Appendix 3:

Literatur- oder behandlungsbedürftig? Braungarts philologischer Vulgäridelismus im Licht des Thomas-Theorems.

Unbefleckter Appendix 4:

Netzwerken qua Namedropping / Hermeneutik des Zitatkartells.

Unbefleckter Appendix 5:

The Good, the Bad and the Ugly: Schiller, Hölderlin und Braungart im Fußnotenelchtest.

Ralf Frodermann August 2018