Neue Flüchtlingsgespräche

"Wenn der Kapitalismus ohne den Faschismus gegangen wäre, wär der Faschismus nicht gegangen."

Brecht, Flüchtlingsgespräche

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"Der Massenzustrom desorganisiert den Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes, belastet dessen Sozialfürsorge mit unerträglichen Kosten, stellt die Verwaltung vor schwer lösbare Wohnraumbeschaffungs-, Gesundheits-, Erziehungs- und Berufsumschulungsaufgaben und vermehrt konfessionelle und nationale Reibungsflächen; Gefahren, die vom möglichen Druck eines neuen Erwerbslosenheeres herrühren, bringen zweideutige, widerspruchsvolle und sogar offen feindselige Reaktionen innerhalb der gewerkschaftlichen Organisationen hervor und stürzen sie in einen inneren Konflikt, in dem der Grundsatz der Freizügigkeit gegen das Gebot der Verteidigung des Arbeitsplatzes steht. Nur selten wirkt sich die stolze Erinnerung an Vorfahren, die in längst vergangenen Zeiten fliehenden Juden oder Hugenotten Schutz vor den politischen Umwälzungen ihrer Heimatländer gewährten, so aus, daß den Wanderern von heute Zufluchtsrechte eingeräumt werden."

Otto Kirchheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischer

Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken.

(amerik. Original Princeton, 1961) dt. Frankfurt a. M., 1985 S. 517

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http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web72-2.html

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Maren Gag, Franziska Voges (Hrsg.)

Inklusion auf Raten

Zur Teilhabe von Flüchtlingen an Ausbildung und Arbeit

2014, Bildung in Umbruchsgesellschaften, Band 10, 304 pages, broschiert, 39,90 €, ISBN 978-3-8309-3043-3

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"Es ist für mich die höchste Zeit, von dem allgemeinen, falsch-objektiven Geltenlassen von allem und jedem endlich frei und wieder recht intolerant zu werden.“

Jacob Burckhardt (13. August 1852 an Paul Heyse)

"Das politische Asyl - schon Herodot war das bekant - hat seine Schwächen; häufig wird es nur deswegen wirksam, weil die Menschen die Fähigkeit, sich zu schämen, nicht gänzlich eingebüßt haben."

Otto Kirchheimer (ibid.)

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Flüsterasphalt / Interview mit N.N., Flüchtling aus Phnom Penh

Uni Bockwurst: Seit wann leben Sie in der Bundesrepublik?

N.N.: Seit ca. 45 Jahren.

Uni Bockwurst: Dafür sprechen Sie sehr gut Deutsch.

N.N.: Soll ich jetzt etwa ‚danke’ sagen?

Uni Bockwurst: Schildern Sie doch bitte kurz Ihre Geschichte.

N.N.: In Phnom Penh wurde meine Arbeitskraft irgendwann nicht mehr nachgefragt. Ich erkundigte mich nach Gebieten auf diesem Planeten, wo man sie noch verkaufen kann. Das war alles.

Uni Bockwurst: Was haben Sie gelernt?

N.N.: Ich bin Chirurg.

Uni Bockwurst: Fahren Sie noch manchmal in die Heimat?

N.N.: Ja, manchmal.

Uni Bockwurst: Und was fällt Ihnen dann am meisten auf?

N.N.: Die vielen Frauen hier, die selbstbewusst ihre Unterdrückung in Arbeits- und Islamwelten fordern. Das habe ich nicht mehr erwartet.

Uni Bockwurst: In Kambodscha?

N.N.: Nein, in Berlin.

Uni Bockwurst: Wann ist man integriert?

N.N.: Wenn man die Scheiße, die man hinter sich hat, angesichts der Scheiße, in der man zu leben gezwungen ist, nicht mehr riecht.

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M. Oulios: „Blackbox Abschiebung: Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären.“

Frankfurt a. M., 2013

"Nutzlos in der neuen Welt / Von verhinderten Ärzten, geduldeten Tellerwäschern und Afrikanern, die für einen Euro arbeiten wollen"

FAZ 1.11. 2013

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"Refugees sind nicht der wohlfeile, von einer verrohten Geschichtsphilosophie begehrte Ersatz fürs Proletariat, auf das die kapitale Herrschaft einst als lebendiges Substrat noch angewiesen war; sie sind genauso überflüssig wie Du und ich. Deshalb gilt ungebrochen das, was Wolfgang Pohrt vor mehr als einem Vierteljahrhundert in seinem Essay Der moderne Flüchtling. Über 'Ambler by Ambler' notierte:

'Ähnlich wie heute, wo 100.000 zusätzliche Menschen in der BRD eine vernachlässigbare Größe wären, während 100.000 Asylbewerber, denen das Recht auf Freizügigkei wie auf Arbeit entzogen wurde, bereits jetzt einen die Grundrechte unterminierenden Sonderfall darstellen und sich tatsächlich zu dem sozialen Problem entwickeln können, als welches man sie betrachtet; ähnlich wie heute also wurden damals (in der Dekolonialisierungs-Ära ab 1918; (U.K.) die Flüchtlinge zu einem destabilisierenden Element durch Behandlung, die ihnen widerfuhr. Festgehalten im Stand der Rechtlosigkeit, welcher den der Gesetzlosigkeit enschließt, waren sie das anschaulichste Beispiel für das Schrumpfen des Geltungsbereichs von Gesetzen, für Zersetzungsersccheinungen im Bereich staatlicher Kontrolle über die Bevölkerung und überhaupt für die wachsende Unfähigkeit des überkommenen Sozialgefüges, das Leben der Menschn in geregelten Bahnen zu halten.' (W. Pohrt, Ein Hauch von Nerz. Berlin, 1989)

Das Flüchtlingsregiment abschaffen, das ist tatsächlich die angemessene Parole: aber genau in dem Sinne, dass die Flüchtlinge als solche nicht mehr durch ihren rechtlichen Sonderstatus, durch Lebensmittelgutscheine, Arbeitsverbot, Residenzpflicht und Sammelunterkünfte kenntlich gemacht blieben, sondern ihnen auf jeden Fall komplette Rechtsgleichheit zuteil würde. Und das ohne Wenn und Aber, ohne Rassisten-Malus, aber auch ohne Migranten-Bonus - samt verquaster Hoffnungen, mit dem 'nacktem Leben' irgendwie linke Politik (weiter)machen zu können. Gleichheit bedeutet deshalb selbstverständlich auch keine kulturalistisch inspirierte Nachsicht für die Spuren, die das autochthone Milieu, aus dem nicht wenige Flüchtlinge kommen, hinterlassen haben mag, also definitiv keine mildernden Umstände für klassisch patriarchale Verhaltens- und Lebensformen."

Uli Krug: Refugee Revolution? in: BAHAMAS (68) Frühjahr 2014 S. 25/26