Hase und Igel und Anagnorisis / Spiegelstriche
Das Wiedererkennen ist ein Erkennen, dem keine Neugier vorausging, sondern eine Disposition, eine Art disponierter Aufmerksamkeit. Das unscheinbare Seitenthema einer Sinfonie oder Sonate zum Beispiel wiederzuerkennen, ist ein Vermögen, dem der Geistesgegenwärtige keinen großen Wert zumisst, das ihn aber dennoch, sei es auch beiläufig, erfüllt. Das deja- vu ist das begriffslose Wiedererkennen, das bis zum rauschhaften Schock reichen kann, dem jedoch die Ernüchterung auf dem Fuß folgt. Das Traumgeschehen kennt kein Widererkennen, denn dieses speist sich nicht aus Träumen. Wie Erkenntnis von Evidenz gesäumt wird, so Wiedererkennen von Wehmut, dem allen vertrauten Ich- Siegel.
Das Wiedererkennen, entwicklungsgeschichtlich wohl eine Frucht des mimetischen Vermögens des Menschen, sichert den Alltag nebst allen seinen Routinen fundamental.
Wird das Wiedererkennen unter Menschen absichtsvoll verweigert, so befinden wir uns in einer Komödie, die in dem Maß ernst zu werden beginnt, wie Einlenken oder Auflösen ausbleiben., eine Ungleichung.
Das Wiedererkennen entbehrt des Zeremoniellen, was etwa die Feierlichkeit bei Bestattungen, denen seine Absenz wesentlich ist, e contrario bezeugt.
Der Wiedererkennende kann noch nicht, wie der Chronist in Paul Valerys „Monsieur Teste“, von sich sagen „Dummheit ist nicht meine Stärke.“
Ralf Frodermann IV 2013