Rezensionswesen

Carolin Butterwegge: Armut von Kindern mit Migrationshintergrund. Ausmaß, Erscheinungsformen und Ursachen.

Wiesbaden, 2010

Endlos Evidenzen ratifizieren: Über ein akademisches Nullsummenspiel

Dissertationen aus der sozialwissenschaftlichen bzw. sozialpädagogischen Sphäre dienen traditionell weniger einem präzise auszumachenden Erkenntnisfortschritt, der ohnehin seinerseits nicht problemlos auf seinen wissenschaftstheoretischen Begriff zu bringen wäre, sondern vielmehr dem Fortschreiten der Karriere. Sie sind integraler Teil des akademischen Initiationsritus und „Hazard“ (Max Weber) geblieben, das nicht selten ein bloße Mixtur aus Materialschlacht, Konzessionen an Zitierkartelle, menschenfreundlichen Postulaten und Spiegelfechterei darstellt.

Um einen solchen Text hat Caroline Butterwegge in ihrer hier anzuzeigenden Arbeit das entsprechende, weitgehend redundante Schrifttum bereichert.

Butterwegges gut 500 Seiten starkes Werk zerfällt in vier Teile: ein erster Teil resümiert die in Rede stehende Forschungslage, gibt einschlägige Verbaldefinitionen und klärt über Methode und Konzeption der Arbeit auf. Die zentralen Kapitel II und III liefern Analysen zu Lebenslagen von Kindern mit Migrationshintergrund und versuchen Erklärungen ihres hohen Armutsrisikos. Der kürzeste, vierte Abschnitt bietet ein Fazit und 11 bekannte, weil sachlich naheliegende Thesen zur Verbesserung der Integration armer Kinder mit Migrationshintergrund.

Empirische Sozialstudien heute bestehen zuweilen aus einem knapp kommentierten, ohne weitere Wertung präsentierten statistischen Zahlenwerk und konstatieren oft Skandalöses, ohne es damit zu reskandaliseren, vergl. „Von Verhärtungen und neuen Trends. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2011.“ Hrsg.: Der Paritätische Gesamtverband. Berlin, Dezember 2011.

Die solchen Untersuchungen oftmals immanente Kritik an gesellschaftlichen Dystopien wird zur Deutungsmasse interessierter Interpreten, erfährt in aller Regel jedoch kaum noch nennenswerte Aufmerksamkeit.

Schlägt immanente Kritik ins humanistische Pseudomanifest um, sieht man sich unversehens ins Reich der „Simplifizierung als Norm“ (Adorno) versetzt, vergl.: Fischer-Lescano, Möller, „Der Kampf um globale soziale Rechte. Zart wäre das Gröbste.“ Berlin, 2012.

In den reparaturbedürftigen Bereichen der Gesellschaft ist die Gemeinwesen- oder Soziale Arbeit zuständig. Seit einigen Jahrzehnten verfügt auch sie über eine mittlerweile ausdifferenzierte, theoretische Matrix. Über ihr erhebt sich institutionalisierter Forschungsbetrieb, der, unter anderem und immer mehr, nicht zuletzt als Legitimationslieferant Sozialer Arbeit in Zeiten ihrer Schrumpfung und absehbaren Abschaffung zugunsten bloßer, ökonomischer Marktfunktionalität dient.

In Butterwegges Dissertation führt dieser Legitimationsdruck dazu, an vielen Stellen Forschungsdesiderata zu postulieren, wo keine sind, und so gewissermaßen den akademischen Hasen immer wieder aufs Neue zum Wettlauf mit dem Evidenzigel einzuladen und auf diese Weise in Gang zu halten. Urteile, die das Ergebnis solch tautologischer Forschungen sind, nannte Kant „analytische Urteile“. Einer Wahrheitsprüfung qua Erfahrung oder Experiment bedürfen sie als naturgemäß apriorische nicht.

Das Ergebnis vieler sozialwissenschaftlicher Untersuchungen vom Schlage der an der Universität Duisburg-Essen als Promotionsschrift angenommenen von Frau Butterwegge ist immer das gleiche: Diskriminierung. Ursula Boos-Nünning veröffentlichte 2011 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung die Expertise „Migrationsfamilien als Partner von Erziehung und Bildung“, um erneut Bekanntes als bekannt zu machendes anzubieten:

„Drei und mehr Kinder wirken armutsfördernd, unabhängig vom Migrationshintergrund. Die Zahl der Kinder wirkt sich aber in Migrationsfamilien deutlich stärker auf die materielle Lebenssituation aus als in einheimischen Familien.“ (ibid. S. 13)

Einem präformierten Diskriminierungsdiskurs dieser Art, der allerlei Zwecke erfüllen mag, doch kaum gesellschaftlicher Aufklärung dienen dürfte, wäre einerseits die nüchterne, systemtheoretisch inspirierte Feststellung des verstorbenen Migrationsforschers Michael Bommes entgegen zu halten: “’Diskriminierung’, unvermeidbare Unterscheidungspraktiken sind ein Teil der Herstellung der Bildungskarrieren von Migrantenkindern. Wie unterschieden wird, ist kontingent, dass unterschieden wird, wohl nicht.“ (M.B., Migration und Migrationsforschung in der modernen Gesellschaft. Eine Aufsatzsammlung. IMIS Beiträge 38/2011 S. 112); andererseits hinzuweisen auf das 2010 erschienene Berufsprotokoll der ebenfalls verstorbenen Berliner Jugendrichtern Kirsten Heisig „Das Ende der Gewalt“ zum Thema „multikultureller Übergang Schule/Gefängnis“.

Daneben ist auf dramatische Weise fraglich geworden, ob und inwiefern das fossilierte Theorem, wonach solide Bildung zu auskömmlichem Einkommenserwerb führt, überhaupt noch in Geltung ist. In Zeiten, in denen der Produktionsprozess auf immer mehr Arbeitssubjekte verzichten kann und das Phänomen „working poor“ alltäglich geworden ist, scheint der Traum „vom Tellerwäscher zum Millionär“ ausgeträumt. Die deutsche Traumvariante war allerdings stets bescheidener als jene amerikanische und gab sich mit der Progression „vom Tellerwäscher zum Bausparvertrag“ in der Regel zufrieden. Seit geraumer Zeit lautet aber die entscheidende Frage Vieler nur noch: Wie werde ich Tellerwäscher? -

Dass selbstverständlich die soziale Herkunft wieder mehr als früher über Bildungskarrieren aller Kinder entscheidet, ist in schöner Regelmäßigkeit in den einschlägigen Periodika zur Kenntnis zu nehmen, vergl. „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“, Sonderheft Bildungsentscheidungen. Wiesbaden, 2010.

Deutsche Privatschulen und Internate sind ausgebucht. Hier lernen Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, was ihre Eltern längst wissen: das Leben ist kein Ponyhof, das Leben ist kein Kurhotel. Mögen sich andere Illusionen machen und über chancengleiche Bildungsbedingungen halluzinieren, in Schloss Salem und Schloss Torgelow herrschen uneingeschränkt Leistungsprinzip, Teamwork Erfolgsorientierter und Nepotismus weiter.

Butterwegges Arbeit ist insgesamt nur ein weiteres sozialempirisches Feigenblatt, das, vermutlich ihren moralischen Intentionen entgegen, mehr gesellschaftliche Zwangsverhältnisse durch Missdeutung kaschiert als kritisch aufdeckt.

Ein Feigenblatt überdies, das anderswo schon grüner grünte, mit einem Wort: eine ebenso sozial- wie karriereverträgliche Doktorarbeit, deren Fehler in ihrer fehlerlosen Konformität liegt.

Ralf Frodermann IV 2012