Pension Schöller / Klappsmühlenmuseum

Vergessene Vorlesungen

Zu Beginn der 30er Jahre hielt der Schriftsteller Manes Sperber eine Reihe von Vorlesungen, die später unter dem Titel „ Individuum und Gemeinschaft. Versuch einer sozialen Chrakterologie“ in Buchform erschienen.

Wir entnehmen die nachfolgenden Proben der Ausgabe, die 1981 bei Ullstein erschien.

Jugend und Arbeitslosigkeit

Jugend ist die Phase, in der die Vorbereitung auf die Arbeit den größten Raum einnimmt. Gegenwärtig ist die Degradierung der Berufsfähigkeit durch eine noch nie dagewesene Arbeitslosigkeit nicht nur ein ökonomisch-gesellschaftlicher Tatbestand, sondern darüber hinaus ein kaum überwindbarer Anstoß zur Verwahrlosung. Die bisherigen Maßnahmen zu deren Verhütung versagen fast ausnahmslos, abgesehen von jener, die einen Teil der Verwahrlosten beseitigen wird: Auf den Schlachtfeldern des nächsten Krieges wird ein großer Teil der Jugend verbluten, noch ehe er erfahren haben wird, wie sinnvoll man sein Leben gestalten kann. Inzwischen ist die Ratlosigkeit sehr groß. Was Wunder, dass diese jungen Menschen so leicht verführbar sind, dass sie jenen „Führern“ nachlaufen, die ihnen versprechen, sie herrlichen Zeiten entgegenzuführen, indes sie sie darüber belehren, wie man auf schnellstem Wege erblinden und das Bewusstsein in bezug auf alles, was aus der Not herausführen könnte, verlieren kann. (op. cit. S. 243/244)

Deutsche Ideologie

Das Wasser des Meeres kann sich nicht an Land begeben, um von da aus seinen Wellenschlag zu betrachten. Man kann den Menschen nicht von den Verhältnissen und diese nicht von ihm abstrahieren. Wer es dennoch tut, gelangt nicht zu einem allgemeingültigen Satze, sondern dorthin, wo er Abstraktionen abstraktionieren muss, so lange und so beharrlich und so unangefochten von der Nichtsnutzigkeit seiner Tätigkeit, bis er würdig ist, ein Professor der modernen idealistischen Philosophie a la Heidegger zu sein. (S. 149)

Die Eitelkeit ist ein Quotient des Verhältnisses zwischen Selbstwertgefühl und Persönlichkeitsziel. (S. 226)

Lustfeindschaft

Die Entwertung des Sexuellen erscheint uns in jedem Falle verdächtig, ebenso die Entwertung jeglichen sozial willkommenen Genusses. Wie nehmen, in einem Gleichnis gesprochen, die Diätphilosophie von Magen-Darmtrakt- Neurotikern nur als ein Objekt unserer Untersuchungen ernst, nicht aber als eine Anschauung. (S. 260)

ICH im Überfluss

Die neurotisierende Wirkung der Umweltbedingungen ist nachgerade unbegrenzt, die Entwertung des Selbstbewusstseins der Menschen entspricht ihrer tatsächlichen Entwertung innerhalb eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem sie, obschon leistungsfähig und leistungsbereit, durch Arbeitslosigkeit degradiert und auf den Misthaufen geworfen werden. (S. 276)

Inflation, Frigidität

Wenn eine Mark zu einem billionsten Teil ihrer selbst werden konnte, wo gab es da noch irgendeinen Verlass in Welt? Alte Rentner und Rentnerinnen wurden, verwirrt von diesen Tatbeständen, ins Irrenhaus eingeliefert, ihre Kinder und ihre Enkel aber lernten sich prostituieren, sowohl sexuell wie auch in der Aufgabe jeglicher bisher verbindlichen Moral. (S. 246)

Die Frigidität, liebe Hörer, ist so häufig, dass man vermuten muss, dass sich in ihr etwas Wichtiges manifestiert. (S. 247)

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