Selbstvermarktung trotz Vollbeschäftigung (Cluster)

Waagenbeklemmung und Gaukelei / Fazetie

Noch schneller als gewogen, wird einer oft als zu leicht befunden und gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Haben ihn nicht prima vista die Schriftlage gerichtet oder untunliche Formfehler in seiner Zuschrift, so finden sich rasch zwingendere Ausschlussgründe wie Alter, bizarre Internetpräsenz oder Netzwerkdefizite.

Der burschikose Umgang mit solchen Niederlagen ist heute Teil des allgemeinen Selbstbetrugs. Zur Tagesordnung wird besonders gern dann übergegangen, wenn es offensichtlich keine mehr gibt.

In solchem Klima gedeiht das Bewusstsein des bornierten Neurotikers, der auf etwas insistiert, wovon er nur einen negativen Begriff hat, nämlich den seiner liquidierten Autonomie.

Vorstellungs- oder Bewerbungsgespräche in vivo wirken noch simulierter als ihre ihnen vorangegangenen und ihnen folgenden Simulationen. Zwar sind die Minen in diesem Stellungskrieg um Posten und Projekttickets scharf und führen gegebenenfalls zu leichten bis mittelschweren Verletzungen, doch bleibt’s ein Traumspiel mit happy end, meistens aber unwirklicher Schiffbruch mit Zuschauer.

Die Liturgie der Jobsuche ist in Zeiten zertifizierten Elends, vulgo Arbeitslosigkeit, gleich geblieben. Kunden konkurrieren um Krümel, angefeuert von den Zeitgeistsirenen der Arbeitsverwaltung und des Coachingbetriebes.

Traditionelle Reserviertheit gegen Kritik ist in blanken Hass umgeschlagen; der Bettler, der es wagt, unmittelbar vor einer Bank um ein Almosen zu bitten, wird von wütenden Bürgern beschimpft und vertrieben, als entweihe er ihr Heiligtum.

Der geisteswissenschaftliche Universitätsbetrieb, sofern überhaupt noch von ihm die Rede sein kann, hat sich gegen Kritische Theorie, die heute im Umkreis des Freiburger Verlages ca ira und der Berliner Zeitschrift BAHAMAS zu neuer Blüte gelangt ist, vollständig abgeriegelt. Der Kulturbetrieb insgesamt schleppt sich nur noch unter Bedingung dieser Abriegelung fort.

„Ich habe Hunger“, darf keiner sagen, denn er und es sind Anklage. „Ich will arbeiten“ tremoliert das Vorlaufen in den Job. Das muss jeder sagen, der Hunger hat oder befürchtet.

Camouflage ist gefragt!

„Warum möchten Sie denn ausgerechnet in unserem Haus, bei uns tätig sein?“

„Zunächst einmal habe ich dauernd, jedenfalls häufig, na ja, regelmäßig, Hunger und Durst. Ich brauche Klamotten und eine Wohnung. Meiner Freundin würde ich gern Geschenke machen und ihr imponieren, mit Geld und Zuckerwatte. Wir wollen vielleicht ein Kind. Das kostet Geld, das ich hier bei Ihnen kriegen könnte. Fällt doch nicht auf. Meine Zeugnisse sind gut, sonst hätten Sie mich nicht eingeladen. Was Sie brauchen, habe ich, glauben Sie mir. Zuverlässigkeit und Loyalität leg’ ich obendrauf. Und im Netz bin ich sauber, nicht mal facebook. Meine Führungsqualitäten werden Ihnen noch leid tun.“

„Danke, wir melden uns. Eine Frage, schreiben Sie manchmal Bettelbriefe an Prominente?“

„Klar, machen doch alle. Neulich schrieb mir der Präsident, sein Büro, ich soll mich weiterbilden. Das bin ich dann gleich angegangen, mit Brief und Briefmarke, Sondermarke und so. Vielen Dank für Ihre Zeit.“

Ralf Frodermann VIII 2012