Emotion von gestern / Scham
Im Arsenal defensiver Empfindungen herrscht kein Platzmangel, denn kaum gibt es noch welche. Die Scham etwa hat ihre suizidale Sprengkraft zwar noch nicht vollständig verloren, ist aber auf einem guten Weg dahin. Scham ist unter vielen Erwachsenen keine psychische Proposition mehr. Auf die Affektsublimation, so mag man schlussfolgern, folgt die Dehumanisierung der Affekte, endlich der gänzliche Affektabschied.
Im sozialen Verkehr überwog ohnehin immer schon eine Spielart instrumenteller Vernunft, die heute als emotive Vernunft illokutionäres, auf Zweckrealisierung gerichtetes Sprechen beherrscht.
Das, wie es einmal hieß, züchtige Senken des Blicks, Ausdruck ungeminderten Schamgefühls, ist nahezu ausgestorben oder dient hämischen Pöbelns zum Zeitvertreib; es buhlt um Beifall, erheischt und erhält ihn.
Wer sich noch schämt, ist selber schuld. Scham ist nicht-justitiables Schuldeingeständnis, ob vor oder nach einer Tat/Untat ist unerheblich; ein affektiver Halo-Effekt wie die Scham oder ihr Appendix, die Reue, beschäftigt noch Kulturhistoriker, im Alltag der sich abzeichnenden Inflation hat sie ausgedient, wie sollte sie nicht!
Als neuer Cicerone durch die Inflationsunterwelt dieser Zeit mundaner Schamlosigkeit empfiehlt sich der alte; „Reise durch die deutsche Inflation“ heißt einer der einschlägigen Baedeker-Einträge in Walter Benjamins EINBAHNSTRASSE von 1928: „Der blinde Wille, von der persönlichen Existenz eher das Prestige zu retten, als durch die souveräne Abschätzung ihrer Ohnmacht und ihrer Verstricktheit wenigstens vom Hintergrunde der allgemeinen Verblendung sie zu lösen, setzt sich fast überall durch.“ (VIII)
Im grundlos Scham Empfindenden bleibt jener Wille sehend auf der Strecke. Ist es der letzte Wille des souveränen Ich?
Michaela Bauks / Martin F. Meyer (Hg.): Zur Kulturgeschichte der Scham. Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 9, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2011
Ralf Frodermann V 2013