Beerdigte Freundschaften (Felonien)
-Ein elender scheißiger Armleuchter, das ist er.
Dies war sein Grabspruch für alle gestorbenen Freundschaften, und Stephen überlegte, ob er
wohl im selben Ton zu seinem Angedenken gesagt werden würde.
James Joyce, Ein Portrait des Künstlers als junger Mann
Dass meine Freunde, obwohl ich sie liebte
Um ihrer Fehler wie um ihrer Güte willen,
Feinde auf Stelzen waren
Die Häupter in hinterlistiger Wolke.
Dylan Thomas, An andere als an dich
Nach der Freundschaft / Kabinettstück
Heute ist wieder ein Freundschaftsindiz in Kraft, das lange als überwunden und entwertet,
gar als im irgendwie evidenten Nichtgesagtwerdenmüssen zwischen Freundschaftskult und
Bandenpragmatik aufgehoben galt, und durch die Faustformel ‚Wen du ebenso erfolgreich
wie sanktionslos anpumpen kannst, der ist dein Freund!’ auf seinen Begriff gebracht werden
kann.
Die amicitia ist fieberkrank und so schlecht beleumundet wie sonst nur Moral und Liebe. Als
bemitleidenswerter Tölpel gilt, wer keine Freunde hat, wer welche braucht im Sinn der o.a.
Formel, hat keine.
Einmal hatte jeder welche, wenigstens einen. Den nannte man ‚Busenfreund’ oder, früher
noch, ‚Herzbruder’. Nach Schule, Studium oder Ausbildung wurde ‚falscher Freund’ zur
Tautologie. Die geläufigsten Tempusformen der Freundschaft sind Perfekt, Imperfekt und
Plusquamperfekt.
Die Einsicht in die Hinfälligkeit aller Beziehungen unter Menschen jenseits des rein
Geschäftlichen und Gewerbsmäßigen gibt noch dem Gewohnheitsoptimisten zu denken, und
wie oft ist nicht der treulose Freund der Tropfen, der das Fass subjektiver Enttäuschungen
zum Überlaufen bringt und damit seinen Bewohner in die Teufelsküche aus Egomanie,
heimlicher Misanthropie und offener Selbstanklage.
Doch ist dieser spezielle Diogenes auch ein großer Deichbauer, wie alle Neurotiker. Hält er
nach neuen Freundschaften schon lange nicht mehr ernstlich Ausschau, so bedenkt er doch
zuweilen die abgelebten mit einer Mischung aus nekrophilem Hass, jovialer Weltkennerschaft
und einer Art sporadisch auftretender Wärme, wie sie von Neonlicht auszugehen pflegt
und dem Abgefeimtem noch das unbekömmlichste Attribut menschlicher Niedertracht
bekömmlich zu machen versteht.
Ein umgekehrter Don Giovanni, dessen Liebschaften Leporello noch halb Kopf schüttelnd,
halb bewundernd vorträgt, ist er der Düpierte, der es doch eigentlich hätte besser wissen
müssen. Selten ist er post festum noch stolz auf den Freund von einst. Was bleibt, ist
Schweigen, die rudimentärste Form affektiven Gedenkens; sie grenzt an die Humanisierung
der Affekte, ohne sie zu vollziehen: Erfahrung ohne Substanz, Transformation ins Nichts.
Unter dem Diktat gesellschaftlich verordneten Vorteildenkens bleibt Freundschaft der
geliehene Zopf, aus dem sich einer aus dem Sumpf zu ziehen sucht. Aber nur zum
Schein, denn er liebt den Sumpf und fährt, verlogener noch als Münchhausen selbst,
mit Lust wieder in ihn hinein. Quittierend diese Malaise mit seinem anthropologischem
Lieblingstrinkgeld: „Ich hab’s doch immer gewusst!“ -
Ralf Frodermann
I 2012