Früher oder später erkennst du im Spiegel das Gesicht, mit dem du sterben wirst. Grüß’ es!
aus: Sensenmänner weinen nicht (Eine Bierdurstdiade von Bobby Holunder)
„Besser nichts sagen!“ / Schweigen als Gegengruß
Kurze Drolerie
Sein nach alter Lesart ist bekanntlich Wahrgenommenwerden, sein sprachlicher Ausdruck der Gruß, dessen Nichterwiderung aus zahlreichen Gründen sowohl unter Bekannten wie Fremden heute nicht unüblich ist.
Der Kurs des Grußes und des Grüßens, die Reichweite seiner Pragmatik ist geschrumpft wie die anderer Präliminarien. „Nur keine Umstände mit den Umständen, gleich zur Sache!“, lautet die verdruckste Devise. Das Händeschütteln steht seit längerer Zeit aus hygienischen wie mohammedanischen Gründen unter Generalverdacht und kann in weiten Teilen der
Unterschicht wie bis weit in die mittleren Angestelltenwelten hinein als abgeschafft gelten.
Fallbeispiel I
Begegnet man einer unbekannten Spaziergängerin im Wald, wird der an sie gerichtete Gruß zuweilen mit einer überraschten Indignation quittiert, indem ein benommener Blick misstrauisch das optische Echo des Grußes bildet. Verbreitet ist auch die Mischung aus Genugtuung, Angstlust und Erlösung, welche sich in schüchterner Erwiderung des Grußes akustisch kundtut.
Fallbeispiel II
Der Gruß im Frageton ist keiner, sondern enthält den impliziten Appell, sowohl aus dem Sprachspiel, noch vor seinem Beginn, wie realiter prestissimo zu verschwinden, und ist mithin ein drohender Sprechakt der Abtreibung.
Fallbeispiel III
Nichterwiderung des Grußes aus Missbilligung des Grüßers. Der Grußignorant grüßt selten abwärts. Sein abgeschmacktes Weltverhältnis ist rein geschäftlicher Natur. „Bäume oder Enten grüßen auch nur Narren! Nehm’n S’’ es doch nich’ persönlich!“
Fallbeispiel IV
Der Grußreflex stellt eine nicht-kohärente Grußerwiderung dar und zählt zum oft beschädigten, behavioristischen Kommunikationsrepertoire Verwirrter, Nervöser und Tagträumer, ein in der jetzigen Gegenwart verbreiteter Menschentyp. Auf ‚Guten Tag!’ antwortet so einer mit ‚Ja’.
Fallbeispiel V
Statt Karten grüß Gott. Das Alltagsleben ist kein Wunschkonzert und bereits den Jungen dämmert immer früher, dass es wenig darauf ankommt, dass einer ist, sondern was er ist. Entgegen den offiziellen Ammenmärchen vom Glück, das sich jeder selber schmieden kann usw., hilft ihre Schnoddrigkeit zuweilen noch immer der Gedankenlähmung auf die Sprünge; sie grüßen mit dem halbierten Gesetz Murphys: ‚Was geht?’. ‚Was geht, geht schief“ wird ihnen bald, trotz ihrer abnehmenden Aversion gegen gesellschaftliches Integriertwerden in die Wertewurstschlachterei, nachhaltig eingebläut werden. Sie sind die religiösen Grüßer von morgen- Grußdjiahdisten.
Ralf Frodermann XII 2011