Dorfnovela (ICH BIN SO HÄSSLICH, ICH BIN DER HASS)

„Zu sprechen schein ich viel vergeblich und umsonst“

Aischylus, Der gefesselte Prometheus

Fozzo unchained / Neues aus der Kurruine Wildbad

In der Wintersaison 2012/2013 ist Bad Wildbad im nördlichen Schwarzwald so tot wie Zeitz in der Zone oder jeder Friedhof um Mitternacht. Sogenannte Fachkräfte, die ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen anbieten, fehlen hier nicht, weil sie hier nicht gebraucht werden. Wildbad ist das steinalte Europa, von seinen Eliten längst verlassen und zum Ramschladen verkommen. Anekdoten machen unter Älteren die Runde, wie die vom braven Handwerksmeister, der vor Dezennien, nachdem er seine schwangere Gattin betrogen hatte und die sich deswegen aufhängte, aber rechtzeitig abgeschnitten werden konnte, seinen behinderten Sohn- dieser hatte freilich Schaden genommen am suizidalen Verzweiflungshandeln seiner Mutter- an die zehn Jahre in einem selbstgebauten Käfig („Wir können alles außer Hochdeutsch“)hielt. Wildbad ist die Hölle für Kinder, Sozialfälle und andere Schutzflehende. Touristen waren Nutzvieh und kommen nicht mehr. Arbeit und Monatseinkommen sind Gerüchte, geblieben sind Hunger, Kälte und Einsamkeit. Das Ende der Arbeitsgesellschaft ist dem Schwaben ein Greul. Generationen werden vergehen müssen, um die Leute von der, gern auch unbezahlten Arbeit zu entwöhnen. Abschreckung ist nur eine Methode, mit anderen Worten: „Erhebliche Teile des Arbeitsmarktes werden bewusst an der Sozialversicherung vorbei organisiert.“ (Sabine Schudoma, Präsidentin des Bundessozialgerichts, Berlin FAZ 16. Januar 2013)

Haltloses Gequake von „Anstrengung“ bis „Zusammenhalt“ macht ewig die globale Runde. Wildbader/Innen verzehren ihre Rentengroschen und sind insofern noch integriert. „Integration“ heißt hier, wie überall, positive Diskriminierung plus 2000 nett monatlich, was bedeutet, dass man alten Menschen den Vortritt am Geldautomaten lässt, weil sie alt sind und offenbar zugangsberechtigt. Alle übrigen stehen schon gar nicht mehr im Verdacht, auf höflichen Umgang erpicht zu sein.

Wildbad korrumpiert nicht zuletzt das innere Zeitbewusstsein; wer länger als zehn Jahre in der Kurruine Wildbad lebt oder einmal länger als 20 Minuten in einer der gastronomischen Einrichtungen am Unort auf einen Rostbraten gewartet hat, kennt das Phänomen. Anschauungsformen verschwimmen, Trost verschlägt nicht mehr und die allseitige Amphibolie der Reflexionsbegriffe lässt kein Auge trocken.

Forellen aus Bad Wildbad stehen in Vincent Klinks Stuttgarter Restaurant WIELANDSHÖHE auf der Karte. Ob die Fischlein vorbehaltlos munden, werden wir in Kürze anlässlich eines Vorortdinners zu eruieren suchen. Giftmüllhalden im einstigen Kurort Wildbad, die das Biotop der Wassertiere affizieren dürften, lassen nichts Gutes erahnen. Bis dahin halten wir uns optimistisch an Vincents Motto: „If you feel that you are in full control – you are not going fast enough!“

Ralf Frodermann Januar 2013