FJR

"In einiger Entfernung Familie von 3 Personen, geschminkte u. bebrillte Großmutter, unschön jüdischer Herr und bildhübsches Sühnchen von 14 oder 15,sauber gekleidet, manierlich, kindlich ebenmäßige Züge, schöner dunkler Hinterkopf, graue Augen, Goldring am Finger. Gebannt und gerührt. Er küsste die Großmutter, die zahlte, zum Abschied und ging mit dem Vater auf Nimmerwiedersehen, wo ich ihn doch so liebend gern sah."

Thomas Mann, Tagebücher (20. Mai 1948)

"Gedanken über die Neuheit der Welt und das Veraltete ihrer Behandlung."

ibd. (2. November 1948)

Gunter Sachs der Literaturkritik / Tagebuch einer kauzigen Tucke

FJR als Diarist (Ein Federmesser für Analritter, Hinterlader und die anderen happy few)

Bekanntlich würde man in Deutschland ja gern zwischen allen Stühlen sitzen, wenn’s da nicht schon so elend voll wäre!

Zur Füllmasse gehört ohne Zweifel seit langem der Literaturkritiker Raddatz – Wolle Joop der Buchbesprecher und Edelschmocks -, der sich mit dem Erscheinen seiner Tagebücher post mortem unmöglich wollte abfinden müssen und sie daher, auf dezentes Vornehmtun per testamentarischer Ordre skandalsüchtig pfeifend, zu seinen Lebzeiten erscheinen lässt.

In ihr gibt er den sinnenfrohen Bonvivant- Elefanten im Ladenhüterladen der Gegenwartsliteratur, den Elegant von der Elbe, den Salonlöwen mit dritten Zähnen, den Baron de Charlus im deutschen Literaturzoo, d.h. den hanseatischen Moosi von der Waterkant, allerdings pudelfrei.

Unmöglich, dem böse zu sein, der sich am Wasserglassturm künstlicher Entrüstung zu laben gewohnt ist.

Ästhetisierende Schwätzer vom Schlage FJR’s gemahnen an die alten Schachteln alter Regime; jene oft klugen Chronistennattern und Ernährer/Innen der Gerüchtetreibhäuser einer verflossenen Zeit verstanden sich noch als Mumien ebenso bestens auf die Kunst der Intrige, den ihnen zur zweiten Natur gewordenen taedium vitae- Habitus, wie auf die souveräne Selbstblamage. Ihre Norm war der Normenverstoß.

Liebhaber der Lieselotte von der Pfalz, der Marquise de Sevigne oder des Duc de Saint-Simon werden an Raddatz’ skandalfreier chronique scandaleuse soviel Gefallen finden wie ein Heroinabhängiger an der Verabreichung der Ersatzdroge Methadon.

Der nikotinsüchtige Libertin Raddatz, wahrlich kein Oscar Wilde, Maupassant oder nur ein O.J. Bierbaum, muss man sich weder im siebenten Himmel noch Höllenkreis vorstellen, ist er doch nur einer der letzten Exemplare jener fast ausgestorbenen Spezies stutzerhafter Jammerlappen, in der es gleichwohl immer noch von selbstverliebten Klatschbasen und greisen Beaus wimmelt, denen eine approbierte Kritik heute gern und publikumswirksam die flamboyanten Flügel stutzt, statt sich von ihnen auch nur eine Feder abzuschneiden. Aber Goldfasane küsst man nicht.

Ralf Frodermann III 2014