Wir können uns an größten Schönheiten und Wahrheiten übersättigen und ihnen Reiz und Umriß durch den Genuß zerdrücken; aber keine schöne Tat kommt uns veraltet oder zu oft, und über den moralischen Zauber und Genuß herrschet keine Zeit.
Jean Paul, TITAN
Betretensein verboten
Über lässliche Distinktionen
Unübersehbar sind immer noch jene, die im unmittelbaren Umkreis ihres Daseins peinlich genau für die Einhaltung gerechter Verkehrsformen einzustehen bereit sind, jenseits dessen Grenzen sich aber für gänzlich unzuständig erklären. Diese gemäßigten Jekyll/Hydes tragen die ganze Welt in ihren Westentaschen, einem vergessenen, schmutzigen Taschentuch gleich.
Ihre Partikularität und Borniertheit hindert sie nicht daran, hin und wieder geistreich, jederzeit durchtrieben und niemals einer Lüge abhold zu sein, sofern sie nur von Nutzen und- nach genauer Kalkulation- nicht aufdeckbar ist, denn aufgedeckte Lügen machen in der moralischen Aktiva/Passiva- Buchführung weiterhin eine schlechte Figur, die nur selten einer wollen kann.
Als Verkörperung des Realitätsprinzips, als integrer Nichtträumer, als Macher und Anpacker gilt einer schon, der seine Sache auf nichts als seinen moralischen Privatleuchtturm gestellt hat: Ausweis von Moral ist Amoral.
Die gelebte Absage ans moralische Universalprinzip machte aus ethischer Normativität juristische. Das osmotische Weltverhältnis, der Prozess der Weltaneignung, wie sie der sogenannte Bildungsroman einmal abhandelte, ist dahin; die moralischen Binnendiffenzierer taugen nicht zu Romanfiguren. Zwangsneurotischen Solipsisten ihres Schlages komme man nicht mit Geschichte oder Geschichten, entrüstet wiesen sie sogar das Damoklesschwert zurück.
Den übrigen erteilt ihr Kontoauszugsdrucker im hämischen Tonfall des abgefallenen Beichtvaters Bescheid: „Es sind keine neuen Auszüge vorhanden, mein Sohn“.
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Die Rache der Wanderschrulle / Bänkelgebet
Lieber Herrgott, mach mich krumm,
Dass ich in die Rente kumm.
Bin ich in der Rente dann,
Such ich mir `nen netten Mann.
Den halt ich mir dann gedeihlich,
Findest du das unverzeihlich?
Bitte finde das nicht so, ich bitt Dich,
Ich fand doch auch nicht immer deinen Fittich;
Fand auch nicht immer Deinen Tritt,
Drum bittend, bet ich für mich mit.
Ralf Frodermann III 2012