Commentarii

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"Scharfsinnige Kommentatoren knüpfen an unbedeutende, wenig gehaltvolle Schriften (Sacrobosco u.a.) bewundernswerte Ausführungen und Deutungen, ebenso wie ein ausgezeichneter Koch durch seine Zutaten eine an und für sich unschmackhafte Speise für jeden, der sie kostet, wohlschmeckend zuzubereiten weiß."

Galileo Galilei, Dialog über die Weltsysteme. Handschriftlicher Zusatz)

"Er bückte sich und zog das Tiefe her."

(Hugo von Hofmannsthal, Ein Traum von großer Magie)

"...,es ist der Kommentator, der das letzte Wort hat.

Charles Kinbote 19. Okt. 1959, Cedarn, Utana"

(Vladimir Nabokov, Fahles Feuer)

Der Faust II-Kommentar des Komponisten Carl Loewe (1796-1869) erschien 1834 in Berlin.

Er dürfte heute noch unbekannter sein als das musikalische Oeuvre des "norddeutschen Schubert".

Bei Albrecht Schöne, dem Stan Kenton der deutschen Germanistik, Nestor der Goetheforschung und ersten Augur bzw. Meister vom Stuhl der FAUST I und II-Kommentierungsloge findet Loewes Kommentar keine Erwähnung.

(Selbst der gelehrteste Kommentator ist niemals ganz vor erwünscht-unerwünschten Klugscheissereien gefeit.)

Dass Literaten ihr eigens Werk kommentieren (Goethe, Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan) oder das Werk anderer Autoren (Nabokov, Kommentare zu Puschkins Eugen Onegin im Zusammenhang seiner Übersetzung des Versromans ins Englische), ist alles andere als ungewöhnlich.

Doch dass ein Musiker einen Dichter kommentiert, wie im hier zu untersuchenden Fall von Loewes Faust II-Kommentar, kommt nicht alle Tage vor.

Loewes Kommentar ist eine gelehrte Paraphrase.

Wollte man ihn mit heute maßgeblichen Begriffen philologischen Kommentierens vergleichen, etwa mit jener der

Kommentierung des aristotelischen Buch V seiner Historia animalium (dt. 2019) durch die Freiburger Gräzistin Katharina Epstein,

es fehlte schlicht ein tertium comparationis oder wenigstens geriete es ausser Sichtweite.

Und natürlich macht es einen Umterschied ums Ganze, ob Caesar seinen gallischen krieg kommentiert, also ein Ereignis

mit Noten versieht oder ob die Innsbrucker Altphilologin Otta Wenskus den Aristotels in einem Stellenkommentar

(Historia animalium 6,3) eines Fehlers wegen, einer Crux, rügt und seine Kommentatoren von Theophrast über den heiligen Thomas bis

hinunter zu Heidegger diesbezüglich der Ignoranz zeiht, vgl. O. Wenskus: Was ist der Springende Punkt? Eine übersehene Crux in

Aristoteles' historia animalium 6,3. in: HERMES 147 2019 1.

Ist Loewes Commenthar zum zweiten Theile des Goethe'schen Faust, zwei Jahre nach Goethes Tod erschienen, seinerseits kommentarbedürftig wie manche antike oder klassich-humanistische Kommentare antiker Autoren? (Kommentar zweiter Ordnung / Metakommentar)

In einer bibliophilen FAUST II-Taschenausgabe des S. Fischer Verlages (Berlin o. J. S. 320)) schreibt der Literaturwissenschaftler und Fontane-Herausgeber Otto Pniower im Oktober 1903:

"Natürlich charakterisieren sich die Gestalten auch durch das, was sie tun, wie beispielsweise die Sirenen oder die Lamien. Wer auf all das sorgfältig achtet, findet, wie es ja sein soll, die Belehrung meist in der Dichtung (sc. FAUST II RF) selbst und bedarf nur selten des Kommentars."

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"Sophokles hat Recht."

Hölderlin, Anmerkungen zur Antigonae

"Die strenge Mittelbarkeit ist aber das Gesetz."

Hölderlin, Pindar-Fragmente

(Fortsetzung der Fortsetzungsuntersuchung folgt)

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Appendix: Apokryphe Kommentare

Hjalmar Hjorth Boyesen:

Ein Kommentar zu Goethes Faust.

Autorisierte deutsche Bearbeitung von Otfrid Mylius.

Leipzig (o. J.), 1881

Ernst Marcus:

Aus den Tiefen des Erkennens. Kants Lehre von der Apperzeption (dem Selbstbewusstsein), der Kategorialverbindung und den Verstandesgrundsätzen in neuer verständlicher Darstellung. Ein Kommentar zur transzendentalen Logik (Kritik der reinen Vernunft, Teil II).

München, 1925

Ralf Frodermann April / Mai 2019