Bornholmer Tagebuch Juli, August 2016

23. August

Erst heute kommt mir ein Artikel vom 4. August 2016 des Hamburger Wurstblattes DIE ZEIT unter die Hände.

Darin wird ein Regensburger Privatdozent der Philosophie in seiner ganzen Miserabilität vorgestellt. Die Wege zu den akademischen Fleischtöpfen sind verstellt, unberufene Sherpas überflüssig.

Leute, die meinen, auf irgendetwas ein Recht, einen Anspruch anmelden zu dürfen, Akademiker gar, die dem Irrglauben anhängen, ihre Arbeit müsse doch irgendeinen verwertbaren Wert, wenn sie schon keinen Sinn hat, haben, und den sie sich obendrein dann per Gerichtsverfahren zu erstreiten suchen, sind zum Piepen.

Abreise in wenigen Stunden: Mit welch bittrem Wissen Reisen uns erfüllt! Baudelaire

21. August

Erste Notizen zu einer projektierten "Lasterlehre" angefertigt. Freilich ist es nicht damit getan, die Summa de vitiis et de virtutibus des alten Wilhelm Peraldus wieder aufzubrühen oder von "Werten" usw. zu fabeln.

Eher sind Zugänge a la Wie die Scham zum Laster wurde zu traktieren. -

Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind (Hölderlin).

20. August

Schopenhauers "Über die Weiber" eine Perfidie zu nennen, ginge nicht weit genug.

Dennoch muss ich bekennen, dass - wenigstens mich - Frauen, die anderes sein wollten als Traumfrauen, nie interessierten. -

Der Fanatismus des frühen Christentums kongruent dem des späten Islam:

"Bräuchten wir uns doch überhaupt nicht gemeinsam in der Welt mit jenen Menschen (sc. den Ungläubigen, den Nichtchristen) aufhalten! Aber immerhin halten wir uns in den weltlichen Dingen von ihnen fern; denn die Welt gehört Gott, die weltlichen Dinge aber gehören dem Teufel." (Tertullian, Über die Spiele 15,8)

Noch ein paar Tage, dann zurück in die akademische Mangel.

18. August

Trüber Tag. Meer.

14. August

Ich bin nicht Bobby Long, aber manchmal könnte ich auch einen Lovesong vertragen. -

12. August

Unser Pedell Frodermann schickt mir ungefragt immerzu seine Fieberanfälle.

Sogar in die Ferien! Heute erreicht mich eine seiner sauberen Solarisationen:

Bermudaboule (zu Dirk von Petersdorffs Gedicht Volleyballdreieck in: FAZ 12. August 2016)

Wir pissen Spucke in den Sand,

so lange die Sonne

noch unter den Nägeln gärt,

Dirk, Doof und ich,

pseudo-poetischer Gärrest vom Dirk, nimm du,

more geometrico, was vielen gefällt,

so lange wir boulen, Petanque, die Kugel

am Ball halten, Ruhekugel, wir

Gleichschenkligen in motu, still peilend,

rollend, hüpfend, gegen die Gravitation

denken, gedenken, nicht werfen,

Schwalben tauchen, hüfthoch, halb-erhaben,

so lange wir Spucke in den Sand

pissen, ruht* die Ruhekugel.

*Aber nicht vermag das in Ruhe überzugehen, was bereits ruhet. (Aristoteles, Physik 6. Buch)

(Ralf Frodermann)

10. August

Über die Gottesfrage ist nicht mehr zu reden wie zu Zeiten Blondels. Der Modernismusstreit hat sich erledigt; auch für die Pfaffen.

Erwäge ein Büro-Bestiarium: Glitt, die: joviale Schlange, ebenso verbindlich wie heimtückisch.

Floz, der: nährt sich von Intrigen und Ehebrüchen. usw. usw.

8. August

Für die Zwischenprüfung:

"Zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis sind Zu- und Abflussprinzip wirksam. Was heißt das?"

7. August

Unter dem Titel "Saftladen oder Kuchenbude?: Zur aktuellen Situation institutioneller Philosophie" sprach ich gestern Abend vor der Gelehrten Gesellschaft Bornholm (GGB).

U a. erläuterte ich das Motiv der Perfektibilität philosophierender Vernunft (Gottlob Ernst Schulze, Aenisidemus.... Hamburg, 2013) als den Ausdruck regressiven Denkens.

2. August

1. August

Wunderbarer Abend mit australischem Kollegen verlebt. "Was bedeutet 'natürliche Autorität'? - Haare auf den Zähnen bzw. Dauerständer?" - "Wenn es wirklich einen dritten Humanismus gegeben hätte, wären Sie der vierte." - Der Mann war jede Öre wert. Hat Hantaviren überlebt und frisst Beef tenderloin wie andere Leute Erdnüsse. -

Wenig geschrieben. Gattin für einige Tage auf dem Festland.

30. Juli

Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle. Denn, wenn die Frage an sich ungereimt ist, und unnötige Antworten verlangt, so hat sie, außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten, und den belachenswerten Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andere ein Sieb unterhält. (Kant)

So geschehen im heute in der FAZ abgedruckten Interview mit dem amerikanischen Autor Joshua Cohen, der solche Sahne schlägt:

„Wir als Spezies mussten vielleicht das Konzept von Scham im Internetzeitalter völlig hinter uns lassen, um zu überleben. Gerade angesichts des Lebens in Deutschland, wo man doch so viel Wert auf Scham, Schuld, Achtsamkeit legt, ist das eine krasse Veränderung.“

Darauf sein irritierter FAZ - Steigbügelhalter Jan Wiele:

„Was meinen Sie damit?“

Cohen:

„Nun, in Deutschland versucht man noch, das Schamgefühl mit dem Recht zu sichern; etwa das 'Recht, vergessen zu werden', während in Amerika bereits die Auslöschung der Scham stattgefunden hat.“

Und Schmock Wiele, aufatmend, denn Gott sei Dank hatte Cohen nicht das verbürgte deutsche Recht auf Vergessen des Nationalsozialismus, auf das Vergessen des Judenmordes, auf das Vergessen von Auschwitz, sondern nur Webnebbich gemeint:

„Ach so, Sie sprechen über deutsche und europäische Bemühungen im Datenschutz, über das Ringen mit Google.“

Der kultursensible Antisemitismus hat in Deutschland, wie jeder andere, Tradition:

Fontanes „Entschuldigung“:

Die Meyerheims - man verstehe mich recht -,

Die Meyerheims sind ein Weltgeschlecht,

Sie sitzen im Süden, sie sitzen im Norden,

Ums Goldene Kalb sie tanzen und morden,

Name, gleichgültig, ist Rauch und Schall!

Wohl, wohl, der "Meyerheim" sitzt überall.

27. Juli

Über Wissenschaftler schreiben? Nuts! Oder man macht es so wie John Banville.

Ich kenne mich besser, seit ich ihn kenne.

26. Juli

Einige Tage Bettruhe liegen hinter mir. Urlaub wie immer Ausnahmezustand. Sinnlos, sich in meinem Alter vorzumachen, man könne sich "erholen".

Meine Frau las mir aus Mela Hartwigs "Bin ich ein überflüssiger Mensch?" vor. Später aus Pirckheimers großartiger Parodie "Verteidigungsrede und Selbstlob der Gicht"; haben viel gelacht über den alten Hinterlader Dürers. -

Im neuen "Teachers and Teaching / theory and practice" (Vol.22 Issue 7 2016) wieder viel Altes und längst Abgearbeitetes über den Lehrberuf. Agoge oder nichts!

22. Juli

Schuß vorn Humbug

Wer jetzt noch blöd ist, wird es lange bleiben.

Erwin Aberfett (Musageten unter sich)

Wann darf ich dir den Arsch versohlen,

dir ein Mettwurstbrötchen holen,

dich von allen Sorgen sprechen frei,

und mich freuen noch dabei?

Wann darf ich dir den Arsch versohlen,

dir deutlich und ganz unverhohlen,

verbindlich und mit freiem Sinn

erläutern, wes Geistes Kind ich bin?

Wann darf ich dir den Arsch versohlen,

und, ähnlich wie auf heißen Kohlen,

von Schmerz zu Schmerz behende springen,

bis du mir wirst Erlösung bringen;

bis du mir wirst Erlösung sein,

verpuppt, vermummt in einem Schrein

aus Sommern und aus Wintern? -

Ich liebe deinen Hintern!

21. Juli

"Bobby, ich habe dich im Verdacht kein Philosoph zu sein!" - So heute früh meine Gattin mir gegenüber, nachdem sie meine Bornholmer Thesen von gestern gelesen hatte.

Sinne über §1201 aus Ernst Platners Philosophische Aphorismen: nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte (1790) nach:

Wie mag aber der alleinige Wille des unendlichen Wesens, die wirkende Ursache von dem Wirklichwerden eines Dinges sein?

Meinte er das schon Geld? Und seine Realabstraktionen? Oder den Wert?

20. Juli

Zur Theorie der Grammatik / 9 Thesen (Bornholmer Thesen)

1. Grammatik ist die Ideologie der Sprache.

2. Sind die Erkenntnisse der Mathematik leer, so die der Grammatik blind.

3. Eine Universalgrammatik wird Teil einer einheitlichen Feldtheorie sein.

4. Eine einheitliche Feldtheorie wird Teil einer Universalgrammatik sein.

5. Meta-Grammatik ist dialektisch in dem Sinn, dass sie nicht Explikation (res cogitans) von Deskripition (res extensa) scheidet, sondern in deren Vermittlung erst aufgeht.

6. Grammatik ist in der Sprache, wie Gravitation in der Materie ist.

7. Bringschuld einer Sprache ist ihre Grammatik.

8. Die neo-cartesianische Grammatiktheorie war ein linguistischer Gottesbeweis: ein letzter Sturm im Wasserglas des ontologischen.

9. Eine "Politische Grammatik" stiftet die Einheit und Ordnung des grammatischen

Schemas. (Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. 10 Auflage S. 20 Berlin, 2015)

19. Juli

lobesam

„Dummheit frisst und Klugheit säuft.“

Von solchen Weisen überhäuft,

schlief friedlich ich im Schuldienst ein. -

Moderatoren der Mediokrität heute in der F.A.Z. auf einer Seite: der Schmock Dath - eine Art Sloterdjik für Gebildete - huldigt der Sängerin Rihanna, der Schriftsteller o. ä. Setz sich selber. Unerträglicher Mumpitz.

Wetter und ein bewegender Nachruf im Jahrbuch der Prickheimer-Gesellschaft (2014) bieten ein willkommenes Gegenmittel.

17. Juli

O quando studio laborandum esset... Ach. mit welchem Eifer müßten wir uns anstrengen, nicht um ein höher gelegenes Stück Erde unter den Füßen zu haben, sondern die von irdischen Trieben entfesselten Begierden!

(Petrarca, Familiarium rerum libri IV,1 / Die Besteigung des Mont Ventoux)

Die Stimmen von unten aber klingen schadenfroh.

Lenin, Über das Besteigen hoher Berge. Werke dt. Band 33 S. 189. Ost-Berlin, 1966)

16. Juli

Erinnern Sie sich an den Mönch bei Anatole France, der mit tiefem Behagen die Geschichten von alten Invasionen liest und nicht bemerkt, dass gerade die Barbaren in sein Kloster einbrechen.

Felix Somary, Erinnerungen eines politischen Meteorologen. München, 1994 S. 442.

Einladung an die Medlock University nach Manchester.

An sich selbst dachte er nicht, nur dann und wann überfiel ihn ein klares Gefühl, er werde plötzlich zugrunde gehen.

Friedrich Schlegel, Lucinde.

Klares Wetter, keine Ausflüge vor Mittwoch. Tabak feucht geworden.

15. Juli

quis hic locus? quae regia, quae mundi plaga? / Seneca, Hercules furens.

"Können wir in der Zeit glücklich sein?" fragt sich der Philosoph Michael Theunissen ("Negative Theologie der Zeit" Suhrkamp 1991) und verfehlt damit um eine Silbe eine veritable Reflexion, die mehr wäre als schale Erbaulichkeit a la:

Die Zeit aber - sie sorgt dafür, daß wir in der Geschichte, in der je eigenen nicht anders als in der gemeinsamen, immer wieder den Boden unter den Füßen verlieren. (S.66)

Die Frage müsste, bevor wir obendrein überdies noch den Verstand verlieren, denn doch wohl fragen: "Können wir in dieser Zeit glücklich sein?".

13. Juli

opera huc conducta est vostra, non oratio. Plautus, Aulularia (V. 454/455)

(Man hat eure Arbeit gemietet, nicht euer Geschwätz.)

Gestern erreichte uns ein Sonderdruck Seebolds. Seine Untersuchungen zu den malbergischen Glossen VIII sind eben im 41. Band (Heft 2 2016) der Zeitschrift Sprachwissenschaft erschienen.

Altfränkische Redemittel bei Tierdiebstählen (Schafe, Ziegen, Hunde, Bienen, Vögel). Scheint mir eine lohnende Ferienlektüre.

12. Juli

Das kleine Impromptu über den französischen Film The Artist (2011) kam gestern Abend ganz ordentlich an. Mein Dänisch ist nicht sehr gut, doch die Zuhörerschaft war wohlwollend.

Im wesentlichen deutete ich den Film mittels der Schillerschen Kategorien vom Naiven und Sentimentalischen und behauptete, The Artist sei sentimentalisches Kino übers naive, dabei Kohärenz durch Mediumidentität (Stummfilm) stiftend. -

Anschließend Verkostung Dill Aquavits.

9. Juli

Im Kino des Hotels gestern einige Filme Eric Rohmers gesehen.

do huob er uf unde tranc

Einen trunc von zweinzec slünden.

er sprach 'nu wil ich künden

waz tugent du häst, vil lieber win. (Der Weinschwelg ed. E. Schröder Leipzig, 1913)

7. Juli 2016

Journal of Semantics vom Februar 2014, darin über die Partikel doch. -

Kann man aus Güte verkommen?

Wetter beschwerlich.

3. Juli 2016

Im Hotel Skovly (Rönne/Bornholm) eingetroffen.

'Napoleons Lebem. Von ihm selbst.' 10 Bde. übersetzt von Heinrich Conrad. Stuttgart o. J. (1910) fällt uns im kleinen Bücherzimmer unserer dänischen Herberge auf.Ich nehme den dritten Band (S. 207ff.) und weise meine Frau auf den darin beschriebenen Taqiya-Coup des Korsen hin: Napoleon ließ während seines Ägypten- Feldzuges verbreiten, er selbst, der ein guter Kenner des Koran war, sei dem muslimischen Glauben sehr verbunden und erwäge mit seinen Soldaten, ihn anzunehmen: Machiavellismus ad usum delphini.

Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel für lange Zeit hier einmieten, einen Vertrag mit der Schloßdame machen, das wäre bestimmt gar nicht so teuer, und dann für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.

Kurt Tucholsky, Schloß Gripsholm