Davoser Tagebuch 2015 / 2016

5. Januar

Hoteldirektor drückt mir bemerkenswertes Geschenk zum Abschied in die Hand:

Cassirer, Ernst

Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901-1929

Hamburg, 2014

4. Januar

Zu Dada, Konkrete und Visuelle Poesie, Slam Poetry, Digitale Poetik usw. (Magerlyrik/Magerepik/Magerkomik und -tragik/Magerkritik)

Man muss das Studium einer Art ideologischer Paläographie hinter sich gebracht haben, um zum Beispiel den folgenden Unsinn Hugo Balls über Kant zu begreifen:

Er (sc. Kant) hat dem preußischen Untertanen das gute Gewissen gegeben, sich knuten und knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther, der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so dunkel, daß es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die Urschrift zu lesen. Kant hob die preußische Knutung zur Metaphysik.

Morgen reisen wir ab.

3. Januar

Heute keine Wanderung. Die Kälte gebietet unser Unterkommen im Iglu an der Bar.

Surely, surely, slumber is more sweet than toil, the shore

Than labor in the deep mid-ocean, wind and wave and oar;

O, rest ye, brother mariners, we will not wander more.

aus: Alfred Lord Tennyson, The Lotos-Eaters

1. Januar 2016

Neujahr in Davos, wir sind hier sehr glücklich und werden noch einige Tage bleiben.

"Man erwartete, dass Neusprech etwa bis zum Jahr 2050 Altsprech schließlich verdrängt haben würde." (George Orwell, Die Grundlagen des Neusprech, aus seinem bekannten Roman.)

Juxtaposition der Klageabweisung:

Doch setztet ein Ende dem Klagen jetzt

und erweckt es nicht länger

Sophokles, Ödipus auf Kolonos (Schluß)

Lasset das Zagen, verbannet die Klage

Bach, Weihnachtsoratorium (Beginn)

Im ganzen Ort kein Katerfrühstück aufzutreiben!

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31. Dezember

"Früher machte das Kapital, wo es ihm nötig schien, sein Eigentumsrecht auf den freien Arbeiter durch Zwangsgesetz geltend. So war z. B. die Emigration der Maschinenarbeiter in England bis 1815 bei schwerer Strafe verboten." (Karl Marx, Das Kapital Bd. 3 21. Kapitel Einfache Reproduktion)

Heute, zweihundert Jahre später, werden die überflüssig Gewordenen nichr mehr an der Aus-, sondern an der Einreise gehindert.

29. Dezember

Heute Vortrag in der Gelehrten Gesellschaft zu Davos.

('Präfiguration des Universalienstreits oder hellenistischer Kripkeismus? Zu Augustins Dialog de magistro'. Muss mir noch ein paar Notizen machen / "dass nicht nur ich, sondern nicht einmal ein tanzender Schauspieler in der Lage sein dürfte, dir ohne Wörter aufzuzeigen, was das Wörtchen 'von' bezeichnet." de magistro 3)

Vorm Zubettgehen aufgezeichnet (Abschrift des Tonbandmitschnitts durch Frau Holunder)

Schmähnotizen über regressive Rezeption im Jazz

1. Marinierter Manierismus, albern serviert

Auf Teil 2 ihrer Doppel - CD Leaving on a Mayday (Limited Edition 2008) trägt die schwedische Sänger- und Songwriterin Anna Ternheim unter dem Titel 'Anna sings Sinatra' fünf Standards vor, die trotzdem für immer mit dem Namen Frank Sinatra verbunden bleiben werden.

Denn Anna Ternheim kann nicht singen.

Ihre Coverversionen von New York, New York, Fly me to the Moon, Come fly with me, Strangers in the Night und That's Life befreien die Vorlagen von deren Substanz, will sagen deren Drive, deren Swing und deren frivoler Urbanität. Übrig bleibt Musik für blasierte Migräniker/Innen und jazzferne Neurastheniker/Innen; dem unsinnlichen und spröden Dutus nach zu urteilen, vermutlich protestantischer Provenienz.

George Shearing mag damit übertrieben haben, Thelonious Monk einen 'Klavierstimmer' zu schimpfen, wer jedoch auf die Idee käme, Frau Ternheim nach ihrer Sinatra-Verunglimpfung etwa eine Jazzsängerin zu heißen, machte sich heillosester Übertreibung schuldig.

Anna Ternheim hat eine Autopsie am Lebendigen vorgenommen. Sie musste mißraten.

(Peter Sellers' legendäre Laurence-Olivier- Parodie A Hard Day's Night – man fühlt sich unwillkürlich an diesen köstlichen Schabernack beim Hören der Ternheimschen Unfälle erinnert - war eine shakespearische Coverversion des populären Beatlesongs in Zeitlupe und vorsätzlich komisch, nicht völlig unfreiwillig, wie ihre Sinatracovers.)

2. Chet Baker auf Kamillentee

Till Brönner ist fotografierendes und trompetendes Testimonial; ein jazzmusikalischer Protagonist pseudo-authentischer Authentitzität in der Gestalt des hippen Werbeträgers. Seine Klientel sind die Bio-Hipster mit teilnahmsvollem Verständnis fürs Marketing.

Dass er mit namhaften Jazzgrößen von gestern und vorgestern musizierte, ist Pose. Morsch ist der Zeitkern des Jazz.

3. Sonore Sterilität

Thomas Quasthoff, jazzstilistisch aus der Schräger-Otto-Schule Fritz Schulz-Reichels kommend, macht es einem nicht schwer, ihm Tony Bennett vorzuziehen. Crooning ist nicht Belcanto, und eine Kantilene ist noch kein Riff.

4. Falscher Werkbegriff

Wer, wie der Pianist Alexander von Schlippenbach, unter dem Titel Monk's Casino (2007) mit vier anderen Musikern, die sich Die Enttäuschung nennen, alle Stücke aufnimmt, die je unter dem Namen Thelonious Monk bekannt bis unbekannt waren, den exhumierten Reigen 'Gesamtwerk' nennt und mit pseudo-ästhetischem Aplomb unter die Leute zu bringen sucht, hat offenbar nicht begriffen, dass Monk keine 'Werke' geschaffen hat, sondern bemerkenswerte Audiospuren seines Pseudo-Autismus hinterließ.

28. Dezember

Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen,dem Koran des deutschen Herrenreiters, entnehme ich die Neujahrsbotschaft für 2016:

"Darf man aber unter Religiosität jene Freiheit verstehen, welche ein Weg ist, kein Ziel; welche Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit, Demut bedeutet; ein Suchen, Versuchen, Zweifeln und Irren; einen Weg, wie geagt, zu Gott oder meinetwegen auch zum Teufel - aber doch um Gottes willen nicht die verhärtete Sicherheit und Philisterei des Glaubensbesitzes, - nun, villeicht daß ich von solcher Freiheit und Religiosität etwas mein eigen nennen." (Vom Glauben)

27. Dezember

Gestern, zum Tee, las ich aus Heines Romanzero, im dritten Buch heißt es da:

Fragt man nach dergleichen Namen,

Dann mit großen Augen schaun

uns die Kleinen an - alsdann

Stehn am Berge die Ochsinnen.

Sofort war eine Dame ob der Ochsinnen empört, und ich versprach, dass es in meiner gegenderten Heine-Ausgabe, die bei #bockpress#, unserem Universitätsverlag, erscheinen wird, an dieser diskreditierenden bis diskriminierenden Stelle neutral Kühe heißen wird.

25. Dezember

Am heiligen Abend lasen wir aus Sternes Tristram Shandy die Slawkenbergius Episode im vierten Band:

I call not upon that heart which is a stranger to the throbs and vearnings of curiosity, so excited to justify the abbess of Quedlingsberg

Quedlinburg, ich bin bei dir; bald möchten wir dich wiedersehen im fernen Harz:

Ich bin bei dir,

du seist auch noch so ferne.

Du bist mir nah!

Die Sonne sinkt,

bald leuchten mir die Sterne.

O wärst du da!

(Goethe)

Am Neujahrstag werde ich hierorts einige Satiren Giuseppe Parinis zum Besten geben. Meine Gattin hat sie unlängst sehr gefällig aus dem Italienischen übetragen.

23. Dezember

Sah mich in der unerfreulichen Situation, meinen Berufsstand verteidigen zu müssen. Ein alter Lümmel hatte offenbar von meinem Hiersein erfahren und beschlossen, mir einen Einlauf der frechen Sorte zu verabreichen.

Was ich zu dem Buch Professor Untat. Was faul ist hinter den Hochschulkulissen von Uwe Kamenz und Martin Wehrle zu sagen hätte und so weiter und sofort.

Ich entgegnete ihm beim Dämmerschoppen, er könne mich getrost am Arsch lecken, ich stünde einer privaten Hochschule vor und der lausige Beamtenpöbel gehe mich nichts weiter an.

Er solle wiederkommen, wenn er das Voynich-Manuskript entziffert hat.

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An meinem Geburtstag, viele Jahre vor meiner Geburt, schrieb Friedrich Engels an Conrad Schmidt: Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete angeht, Religion, Philosophie etc., so haben diese einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen und übernommnen Bestand von - was wir heute Blödsinn nennen würden.

... Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitugung dieses Blödsinns, resp. seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absuden Blödsinn. (London, 27. Oktober 1890)

Entrissest du die Nymphen nicht der Flut,

dem Gras die Elfen - und mir selbst den Traum

vom Sommer unterm Tamarindenbaum? (aus: E.A.Poe, Sonnett - An die Wissenschaft)

22. Dezember

Eine Vertonung des Gedichts Zerstörungsfreie Werkstoffprüfung unseres verstorbenen Kollegen Wilhelm Unglaube durch einen Schweizer Kompositionsschüler wurde in der Nacht beifällig aufgenommen.

Besser als Musik vertrüge Unglaubes Kost aber wohl einen nachbessernden Chiragon.

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20. Dezember / 4. Advent

John Henry Newmans Die Idee der Universität. Reden über die Möglichkeiten und die Natur der universitären Bildung. Gerichtet an die Katholiken von Dublin. (8 Bde. Dublin, 1852) wird der lesesüchtigen Helene Hanff in New York mit Schreiben vom 20. September 1950 von ihrem Londoner Antiquar zum Kauf angeboten.

Hätte ich noch einen Antiquar - alle, welche dieser Berufsbezeichnung würdig waren, sind tot -, ein entsprechendes Angebot der deutschen Übersetzung durch Edith Stein würde mich zu Tränen gerührt haben.

19. Dezember

Gestern Abend an der Bar ein unaufhörlich schwatzdrosselnder Doctor facundus. Geistreicher Schelm, der sich für um so geistreicher hält, je voller er wird.

Auf dem Gipfel seines Extemporierens kullerte eine Art Gedicht aus seinem Schädel, das ich mir aufschrieb:

Aufenthalt in einer Falle

Rüstig noch, und fern der Plagen

Gehen sie an warmen Tagen,

betrachten sie mit Zuversicht

Den Raum der Laugen,

Gehen dann, mit leeren Augen,

Zurück ins Meer von schwarzem Licht.

18. Dezember

Mother, where are you?

Father, where are you?

says the girl in a pinafore

standing at the crumbling edge of the path.

Mother has her lover

over the sea,

father from the bedroom

telephones a lady.

The girl sits down

and chalks on the path

a book of games.

Who will wash my dirty face?

Geoffrey Lehmann Children's Game (Poems. 1957 - 2013. UWA Publishing 2014)

17. Dezember

"beatus ille, qui procul negotiis" - schrie mir in der vergangenen Nacht der alte Alchimist Heinrich Khunrath ins Traumohr. Das Ende des Spiegelstadiums ist erreicht: ich mag in keinen mehr schauen.

16. Dezember

'Melancholie der Erfüllung', (der arme Gregor Gog):

Gott ist vom Schöpferstuhl gefallen

hinunter in die Donnerhallen

des Lebens und der Liebe.

Er sitzt beim Fackelschein

und trinkt seinen Wein

zwischen borstigen Gesellen,

die von Weib und Meerflut überschwellen.

Und der Mond rollt über die Wolkenberge

durch die gestirnte Meernacht,

und die großen Werke

sind vollendet und vollbracht.

(Alfred Mombert, Der himmlische Zecher 1922)

15. Dezember

Wieder viel in Stefan Zweigs Memoiren Die Welt von Gestern. "Für mich ist Emersons Axiom, daß gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, daß man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben." Im Kapitel Universitas vitae.

14. Dezember

Auf Wunsch einiger hier logierender Ärzte sprach ich nach dem Lunch über 'schreibende Ärzte'. Zum Schluss trug ich ein Gedicht Martin Gumperts vor, ein misslungener Toast:

Euch fehlt die Phantasie...

Daß man euch durch die Straßen jagen wird,

Daß man eure Schränke durchwühlen wird,

Daß man euer Telephon überwachen wird,

Daß man euch Titel und Namen nehmen wird,

Daß eure Freunde euch nicht mehr grüßen werden,

Daß eure Frauen euch nicht mehr lieben werden,

Daß eure Kinder euch nicht mehr achten werden,

Daß eure Diener euch nicht mehr dienen werden,

Euch fehlt die Phantasie, was wahr wird,

zu ersinnen,

Euch fehlt die Kraft, was wirklich wird, zu glauben,

Euch fehlt der Mut, was klar ist, zu erkennen,

Euch fehlt das Wort, um, was ihr wißt, zu sagen.

Daß man euch hinter Stacheldraht sperren wird,

Daß man euch ins Gesicht speien wird,

Daß man eure Bücher verbrennen wird,

Daß man euer Werk verleugnen wird,

Daß man euch aus dem Lande treiben wird,

Während Glocken läuten und Schafe weiden,

Während Züge pünktlich einlaufen und abfahren,

Während der Bäcker jeden Morgen das Brot bringt,

Ohne daß eine Hand sich erhebt,

Ohne daß ein Sturm sich zusammenzieht,

Ohne daß eine Stimme aufschreit,

Ohne daß eine Träne sich loslöst,

Daß ihr vergessen sein werdet, als wäret ihr

nie gewesen,

Daß ihr gekommen sein werdet und davongegangen,

Daß ihr verloren sein werdet und verschollen,

Daß der Tag ohne euch dämmern und dunkeln

wird wie je:

Euch fehlt die Phantasie, um was ihr tut, zu fürchten,

Euch ist die Macht geraubt, euch zu erschrecken,

Euch ist der Ton versagt, um aufzustöhnen,

Euch ist das Glück versagt, vor Scham zu weinen.

(1934)

13. Dezember Davos

Hatto von Mainz und Poppo von Trier

Ritten zusammen aus Lünebier;

Hatto hott hott! immer im Trott!

Poppo hopp hopp! immer Galopp!

Ein, zwei, drei!

Zelle vorbei;

Ein, zwei, drei, vier!

Nun sind wir schon hier.

Gestern trafen wir, wohlbehalten zunächst, in Davos ein. Nach Erledigung der üblichen Notwendigkeiten begaben wir uns nach Glaris. Meine Gattin erlitt dort einen leichten Schwächeanfall, vermutlich infolge der Reise und meines unaufhörlichen Geredes.

An der Hotelbar konnte ich ihr wieder zu Kräften verhelfen, indem ich ihr - und den anwesenden Hotelgästen - auf dem Flügel einige Ecossaisen darbot. Insbesonder die sechs Beethovenschen, in Verbindung mit einer Bloody Mary, taten ihr gut und belebten sie in kurzer Zeit.

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12. Dezember 2015 Flughafen Zürich

Endlich wieder in der Schweiz.

Anregende Unterhaltung im Flugzeug mit einem Mitglied der Oxforder Tyndale-Society. Das deutsche Aufhebenmachens um Luther 2017 war ihm unbegreiflich: Tyndale sei wenigstens verbrannt worden. Luther, dessen religions- und kultursensibler Antisemitismus wirkungsmächtigster Teil des deutschen Protestantismus gewesen sei, habe seinen fetten Wanst hingegen nur den Würmern zugedacht. Wunderlicher Kauz!

Lud ihn zu unserer Marx-Konferenz 2018 ein.

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Herr Prof. Dr. Bobby Holunder, Rektor der Universität Bockwurst, verbringt seinen diesjährigen Weihnachtsurlaub in Davos, Schweiz. (Interconti Hotel Das Goldene Ei.)

Seine Gattin wird ihn begleiten.

Prof. Holunder wird seine adventlichen und weihnachtlichen Ruhetage in tätiger Muße verbringen, worüber, wie gewohnt, seine Tagebuchaufzeichnungen, die an dieser Stelle ab dem dritten Advent erscheinen werden, Auskunft geben werden.

Nach eigenen Angaben plant Prof. Holunder während der Ferien u.a. den kommentierten Reprint einer Rede Herrmann von Helmholtz' aus dem Oktober 1877: Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten.

Zur privaten Lektüre werden Ignaz Goldzihers Tagebuch, Heft 4 / 2015 der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (eine Art Tombeau der germanistischen Philologie), sowie das Special Issue des Journal of Politeness Research (Bd. 11 Heft 2 2015) mitgeführt.

Rektorat Universität Bockwurst // Hausmitteilung // 24. November 2015