Sonderforschungsbereich "Einsturzgefährdete Wissenschaften"

Angewandtes Nichtwissen: Bildung

Ein ambivalenter Wermutstropfen

„Die Auswahl der erklärungsbedürftigen Situationen kann

nicht a priori erfolgen:

Sie hängt ab von der Situation, in der wir leben, und den

Problemen, die wir zu lösen haben.“ Amaldo Momigliano

Ist Kultur heute nichts weiter als der intermittierende Nachweis ihrer Notwendigkeit, so gibt dazu das öffentliche Gerede um Bildung, samt deren vorgeblicher Bedeutung, den basso continuo jenes Diskurses ab.

Bildung meint einzig noch Ausbildung, deren Ziel die Produktion zertifizierter Arbeitsprotonen, Malocherplaneten ist („überflüssig, aber zertifiziert!“).

Malocherplaneten umkreisen explodierte Arbeitssonnen, werden ihrerseits von Monden umkreist, die keinen Besuch lohnen, weil auf ihnen gar keine Arbeit wächst.

„Sind Sie ausgebildet?“, d.h. „Sind Sie ausgeschlafen?“ – Wer sich über den Produktionsprozess und seiner Stellung in oder außer ihm keinerlei Illusionen hingibt, gilt als professionell, die undialektische Einsicht ins Notwendige als ebenso vernünftig wie geboten.

Der desillusionierte Held oder irgendeine seiner Ersatzfiguren markierte nicht selten das Ende sogenannter Bildungsromane.

Ausbildungsromane verlaufen genau andersherum: war der Auszubildende/Studierende zu Anfang seiner Umlaufbahn noch skeptisch, gar unwillig öder zögerlich, so witterte er mit zunehmender Fahrt seine Hans-Dampfigkeit in allen Karrieregassen.

Der Hochmut, die Demut des Bildungsphilisters, der in einer ebenso unscheinbaren wie unbescheidenen Geste seines (verachteten?) Gegenübers den ganzen Vermeer erblicken konnte und im Knarren einer Tür das motivische Bruchstück einer Rossini-Arie, eines Haydn- Menuetts, oder in dem eben beispielhaft Geschilderten den halben Proust, ist ausgestorben.

Arroganz ist Alltagsabfall und hüllt sich, wie andere Attribute menschlicher Niedertracht, mittlerweile gern in Lumpen. Delikatessen sind im Deli ausverkauft, und machen nicht schon Bücher in Bibliotheken und Buchhandlungen einen unsicheren, befremdlichen, ja durchaus deplazierten Eindruck? –

Bildet Bildung? Bildung bildet aus.

Davon konnten Muße, Kontemplation und introspektiver Flügelschlag nicht unkorrumpiert bleiben. Die Welt der Ideen ist eingeschrumpft; ein hochenergetischer, stecknadelkopfgroßer Kern aus automatischem Wissen, rudimentär und ad libitum erlernbar, ist geblieben.

Unter Trotteln von Welt:

„Möchten Sie nicht heute Abend zum Essen zu uns kommen?“

„Ich habe selber Essen zuhause.“

„Aber Sie sind doch immer so allein.“

„Sonst könnte ich gar nicht essen.“

Ralf Frodermann XII 2012