Biarritzer Tagebuch 2019/20

4. Januar

Heute Abreise. Ich fühle, dass der Sand meines Stundenglases rinnt wie Wasser.

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Handschrift von Saragossa.

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3. Januar

Am gestrigen Abend erinnerte der Auftritt eines vermeintlichen Hochstaplers sehr an Raimunds Der Bauer als Millionär, allerdings ohne Mädchen aus der Feenwelt.

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"Biarritz Gazette: Und der Ort Ihrer Polemik?

Holunder: Ich stelle mich in den Umkreis der Stärke meiner Gegner.

Biarritz Gazette: Und dort?

Holunder: Dort erledige ich sie."

Aus einem Interview mit der Biarritz Gazette ("Pik-As in Aspik" / Gespräch mit Prof. Bobby Holunder, Universität Bockwurst)

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2. Januar 2020

quid enim est iucundius senectute stipata studiis iuventutis? (Cicero, Cato maior de senectute, 28) Unter Jungen bleibst du jung, übersetze ich küchenlateinsich einwandfrei.

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Morgen Sprung nach Spanien.

Dort Expositio über:

Die Produktionskräfte müssen dauernd und zuverlässig gedrosselt werden, damit die Produktionverhältnisse erhalten bleiben können.

Wäre die Gesellschaft eine Maschine, man würde sie austauschen, wel sich eine Reparatur nicht lohnte.

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1. Januar 2020

Aus Ottiliens Tagebuche (Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Zweiter Teil):

Ein Lehrer, der dasGefühl an einer einzigen guten Tat, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert; denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies wissen können, daß das Menschegebild' am vorzüglichsten und einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.

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Vor dem Abendessen an Sylveser trug ich den Gästen noch die eingeschaltete Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder aus den Wahlverwandtschaften (Zweiter Teil, 10. Kapitel) vor.

Für das neue Jahr wünschten wir anschließend allen Glück von der darin geschilderten, ungeheuren Liebenswürdigkeit und Größe.

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30. Dezember

Stanley Kubricks Figur Dr. Seltsam aus dem gleichnamigen Film des Jahres 1964 könnte von Carl Schmitt inspiriert gewesen sein:

In einem mit modernen Vernichtungsmitteln behandelten Gebiet wäre natürlich alles tot, Freund und Feind, Regulär und Irregulär. Dennoch bleibt es technisch denkbar, daß einige Menschen die Nacht der Bomben und Raketen überleben.

Angesichts dieser Eventualität wäre es praktisch und sogar rational zweckmäßig, die Nach-Bomben-Situation miteinzuplanen und heute schon Menschen auszubilden, die in der von Bomben verwüsteten Zone sofort die Bombentrichter besetzen und das zerstörte Gebiet okkupieren.

Carl Schmitt, Der Partisan (Berlin, 1963 S.82)

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27. Dezember

Spaziergang am Meer. Wohltat kann hier niemals Plage werden. - Gespräch währenddessen mit meiner Gattin über den "schönsten Titel des Jahres".

Ich plädiere für "Wie Wolff aufhört, Occasionalist zu sein", dieser Epilog findet sich in der wunderbaren Ausgabe der Schrift Philosophische Untersuchungen über die Sprache von Christian Wolff (Meiner Verlag Hamburg 2019) und stammt vom Herausgeber und Übersetzer Rainer Specht.

Meine Frau schaute mich ungläubig an, etwa wie man einen Blödsinnigen ansieht.

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Unser Pedell Frodermann entblödet sich nicht mir das unten eingerückte Elaborat zu übersenden:

„Der Schluß ist demnach leicht zu finden, daß bey ceßirenden beneficiis mir die Kräffte benommen werden, die Music in beßeren Stand zu setzen.“ (dt.: „Ohne Moos nix los.“)

J. S. Bach, Kurtzer, iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music: nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben.

(Hans-Joachim Schulze: Johann Sebastian Bach. Leben und Werk in Dokumenten. Leipzig, 1989 / 4. Auflage S.105)

Bach als Köder:

Pietätloser Etikettenschwindel in der Hauptkirche zu Wolfenbüttel

Eine Flugschrift

Der zweite Teil des Bachschen Weihnachtsoratoriums (BWV 248) war für den 26. Dezember 2019 angekündigt worden, worunter üblicherweise die Kantaten IV, V und VI zu verstehen sind.

Beatae Mariae Virginis, vulgo Hauptkirche, hatte auch auf dem Ankündigungsplakat mit „Weihnachtsoratorium Teil II“ (groß gedruckt) in den „Festgottesdient“ (kleiner gedruckt) gelockt, doch als die Katze aus dem liturgischen Sack gelassen wurde, entpuppte sich diese Ankündigung als dreiste Halbfalschmeldung:

nicht das „Weihnachtsoratorium Teil II“ erklang, sondern ein Potpourri aus Bach, Weihnachtsliedern zum Mitsingen und den erbaulichen Expektorationen des diensthabenden Kirchenmannes.

Wer aus gutem Gründen mit einem festlichen Konzert gerechnet hatte, sah sich um dieses betrogen und war genötigt, seinen Kummer darob in naheliegenden Schenken zu ersäufen.

Nota bene:

Das Dirigat Frau Bretschneiders erinnert auch an diesem Abend eher an den Ausdruckstanz Mary Wigmans und die Beschwörungsgestik einer Yoga-Schamanin, als an orchestrale Führungsstärke, figuralen Willen und musikalische Navigationskunst.

Ralf Frodermann 27. Dezember 2019

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25. Dezember

Bescherung! Ich gab den Weihnachtsmann, in loco parentis. Meine Gattin, wie stets, die Güte selbst, las die Weihnachtsgeschichte. Später die Wonnen der Gewöhnlichkeit.

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"Der neue Orient, der neue Islam, die große Brüderschaft des Ihwan, sie rüsten zum Kampfe des Geistes und des Schwertes, zum Kampfe des Islam."

Essad Bey (Lew Abramowitsch Nussimbaum):

Mohammed. Eine Biographie (1932 / Neuausgaben 1991 und 2002)

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"die Zeit der garantierten Partizipation an stabilen Unternehmensgewinnen jedenfalls ist vorbei." Uli Krug, Dereugulierung heißt Wohnungsnot. Zum Immobilienboom in den Metropolen des Postindustrialismus. in. BAHAMAS Heft 83 Winter 2019/ 2020 S. 83 Fußnote 5)

Die letzten unserer Aktien haben wir um 1979 verkauft.

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"Iwan der Schreckliche und Heinrich VIII im Film." Vortrag morgen im kleinen Kreis interessierter Hotelgäste. Habe noch nichts vorbereitet! Wird ein charmantes Fiasko.

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23. Dezember 2019

Es ist also eine totale Verdrehung des Verhältnisses zwischen Mieter und Vermieter, es mit dem zwischen Arbeiter und Kapitalisten gleichstellen zu wollen. Im Gegenteil, wir haben es mit einem ganz gewöhnlichen Warengeschäft zwischen zwei Bürgern zu tun, und dies Geschäft wickelt sich ab nach den ökonomischen Gesetzen, die den Warenverkauf überhaupt regeln, und speziell den Verkauf der Ware: Grundbesitz. Die Bau- und Unterhaltskosten des Hauses oder des betreffenden Hausteils kommen zuerst in Anrechnung; der durch die mehr oder weniger günstige Lage des Hauses bedingte Bodenwert kommt in zweiter Linie; der augenblickliche Stand des Verhältnisses zwischen Nachfrage und Angebot entscheidet schließlich.

(Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage)

Analoges gilt für unsere Hotelsuite, die ich bereits heute bezahlte.

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Me too- Apspekte im Rosenroman, dem feuchten Traum eines mittelalterlichen Harvey Weinstein.

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Gattin beim Friseur. Ich kaufe Weihnachtsgeschenke.

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22. Dezember 2019

Aufgrund der vielen Streiks in Frankreich, Ankunft mir reichlich Verspätung.

Champagnercocktails sorgen für Linderung.

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Dass das immerforte Scoren, Liken und Evaluieren nur der Ausdruck der allgemeinen Bestechlichkeit ist bzw. ihr Nährboden, war Soziologen wie dem Autor von "The Rise of the Meritocracy", Michael Dunlop Young, noch bewusst.

Zum gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie (Adorno 1959 GS Band 8 S.500ff.) vgl. die Buchanzeige des Kollegen Kieserling in der heutigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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Prof. Robert Holunder, Rektor der Universität Bockwurst, wird seinen diesjährigen Winterurlaub an der Seite seiner Gattin in Biarritz verbringen.

Von dort aus wird eine interessierte Leserschaft unter dem Turgenjew entlehnten Titel "Neue Tagebücher eines Überflüssigen / Biarritzer Tagebuch 2019/20" ab dem 20. Dezember 2019 seine Causerien erreichen.

Das Lustspiel Der hyperboreeische Esel oder die heutige Bildung. Ein drastisches Drama und philosophisches Lustspiel für Jünglinge in Einem Akt von August von Kotzebue wird Holunder in Biarritz für die Bühne neu bearbeiten.

Büro Holunder November 2019