Nassauer Tagebuch (Februar/März 2016)

14. März

"Und ich kann mich auch dem nicht verschließen, daß die unbeschreibliche geistige Leidenschaft der Studenten, die mich ebenso anzieht wie Sie, auch ein Element des Abgeschnürtseins, ordinär gesprochen: der Ersatzbefriedigung hat, ganz Selbstzweck, eigentlich ohne Intention und vor allem ohne die Relation zur wahren Praxis, die uns am Herzen liegt." Adorno an Horkheimer 23. 12. 1949.

Wir packen für den Rückflug. Die schönen Tage in Nassau sind vorüber. Ersatzbefriedigungen harren unserer daheim.

12. März

"Angemessenheitsverhandlungen in Auswertungsgesprächen in der Hochschullehre" - das werde ich mir nach meiner Rückkehr angemessen zu Gemüte führen. Ein Beitrag von Cordula Schwarze in der Zeitschrift Aptum ( 2/2015). Dass mir das Heft ausgerechnet auf den Bahamas in die Hände fällt! Barkeeperin war so freundlich und fertigte mir eine Kopie an.

11. März

Many accepted authors simply do not exist for me. Their names are engraved on empty graves, their books are dummies, they are complete nonentities insofar as my taste in reading is concerned. Brecht, Faulkner, Camus, many others, mean absolutely nothing to me, and I must fight a suspicion of conspiracy against my brain when I see blandly accepted as “great literature” by critics and fellow authors Lady Chatterley’s copulations or the pretentious nonsense of Mr. Pound, that total fake. I note he has replaced Dr. Schweitzer in some homes.

Nabokov-Interview in The Paris Review 1967

Im Jahr 2003 ist es zum Gemeinplatz geworden, dass Staatsbedienstete mehr als die meisten von uns bezahlt bekommen, um tagtäglich die Geschichte herabzuwürdigen, die Wahrheit zu trvialisieren und die Vergangenheit auszulöschen.

Pynchon über Orwell (FAZ 21. Juni 2003)

Mehr muss man nicht wissen.

9. März

First Fig

My candle burns at both ends;

It will not last the night;

But ah, my foes, and oh, my friends--

It gives a lovely light!

(Meine Gattin liebt diese Verse Edna St.Vincent Milays seit über fünfzig Jahren. Wie ich sie.)

7. März

Eine Woche bleibt uns noch auf den Bahamas. Dann fordert wieder der Universitätsbetrieb unbarmherzig sein Recht zurück. Komme mir allmählich vor wie eine Figur aus Gilbert Sorrentinos Mulligan Stew. Nichts ist realistischer als das Scheitern, außer einem Urlaub wie diesem.

Über den sogenannten deutschen Universitätshumor klärt mich unterdessen ein Auszug aus Kollege Aberfetts gleichnamiger Untersuchung auf. (Kapitel 25:"Die Einteilung der Fürze. Burschenschaftliche Privatdrucke.") Ich danke!

3. März

Zu dem F.A.Z. - Schmock Dath stellte sich nach der abendlichen Lektüre seiner Filmkritik in der heutigen Ausgabe der F.A.Z., in der er gequält von diesen dumpfen Zeiten spricht, dies Reimwort zwanglos ein:

Dem Dumpfen dünken die Zeiten dumpf,

wie Dietmar Dath, dem dumpfen Schlumpf.

2. März

Unter Juristen. An einenm Beispiel - Quirinus Kuhlmanns 89. Kühlpsalm entnommen,:

Catholisirt nach der Catholschen art!

Schlagt hände weg, wi si wegschlug!

Haut ab di füss, als abgehauen ward!

Reisst zungen aus nach ihrem trug!

Enthauptet si, wi si gewohnet!

Verschonet si, wi si verschonet!

Verbrennet si, wi si verbrand!

Durchrennet si, wi si durchrannt!

Bekehrt di Huhr, wi si zuvor bekehret!

Gewähret ihr, was si zuvor gewähret! -

wurde mir das strafrechtliche Äquivalenzprinzip demonstriert. Hieb um Hieb.

29. Februar

Anregende Diskussion mit Prof. Maura Pfefferman. "Anstatt von den vorkapitalsitischen Völkern sich Wunder zu erwarten, sollten die reifen vor deren Nüchternheit, ihrem faulen Sinn fürs Bewährte und für die Erfolge des Abendlandes auf der Hut sein."

Die Frau, die ein Mann war, zitiert Adorno wie andere Leute Single Malt trinken: in kleinen Schlückchen und mit unbeschreiblichem Genuss.

25. Februar

In einm improvisierten Interview mit The Nassau Guardian sagte ich gestern, als die Rede auf den verstorbenen Umberto Eco kam, dass man wohl nur in Deutschland auf den Gedanken kommen könne, den italienischen Pansophisten ausgerechnet mit Günter Grass zu vergleichen.

Das sei großer Unsinn. Der einzige Vergleich, soweit ein solcher überhaupt zulässig scheine und erlaubt, sei doch wohl Leonard Bernstein. Eco und Bernstein seien große produktive und reproduktive Geister gewesen, von einem Charisma, an dem sich die Journaille wund geleckt habe und lecke.

24. Februar

Aus dem Nachlass meines alten Kollegen Heinrich Seltenarm, langjähriger Professor für Indogermanistik an der Universität Bockwurst und seit vielen Jahren tot, erreicht mich ein fliegendes Blatt seiner Tochter (offenbar ist die Arme der Meinung, einen Dichter o.ä. zum Vater gehabt zu haben, da sie den Schmu so sorgfältig bewahrt), das ich hier einrücken möchte:

Die Mundtoten

Der deutsche Poetaster,

Der schwitzt in seinem Sud;

Da sehnt er sich nach Zaster

Und nach ‘nem Doktorhut.

Trio 1

Jô stuont ich nehtint spâte vor dînem bette,

dô getorste ich dich, vrouwe, niwet wecken.

Des gehazze got den dînen lîp!

‚Jô enwas ich niht ein eber wilde!‘, sô sprach daz wîp

(Der von Kürenberg)

Er schraubt so gern mit Worten

Sich in die Welt hinein,

Doch die ist allerorten

Nur fahrig und gemein.

Trio 2

Wein, zoren, spil und schöne weib,

die vier betoren mangen man.

Und der vil lobt sein aigen leib,

secht, der hat lützel eer davon.

(Oswald von Wolkenstein)

Er fühlt die Handbreit immer,

Die zwischen ihm und sich,

Sein Ich, ein Doppelzimmer,

Er heißt es Du und Dich.

Trio 3

„Kom, liebster man!

meins leibs ich dir wol gan

an abelan.

kom, traut gesell,

glücklich fleuch ungevell!

kom, höchster schatz, zu tratz

der falschen zungen latz!

kom schier, meins herzen laid vertreib,

und tröst mich vil armes weib!

dein mänlich leib reicht sinn und müt

an mir für aller welde güt.“

(Oswald von Wolkenstein)

Und glauben ihm die Narren,

Ein Dichter wohl zu sein,

Spannt er sie vor den Karren

Und mimt den frommen Kain.

23. Februar

Angenehme Bekanntschaft mit einem Ur-Enkel des Versicherungslinguisten Benjamin Whorf gemacht.

Die Beziehungen des Gewohnheitsdenkens und des Verhaltens zum Gin and Tonic gab Anlass zu allerlei Neckereien. Er nannte mich fortwährend David Kepesh, David Kepesh, Professor Kepesh!

20. Februar

Im zweiten Teil der Gespräche des göttlichen Pietro Aretino: Wie Nanna ihr Töchterlein Pippa im Hurenberuf unterrichtet.

Jakob Burckhardt zählt den Aretino zu dem 'furchtbaren Geschlecht von geistreich Ohnmächtigen, von geborenen Krittlern und Lästerern großgezogen'.

Ich würde ihn ganz einfach einen liebenswürdigen Lumpen nenenn, oder eine insolente Votze.

19. Februar

Auf Post und Sonne ist hier in Nassau so gut Verlaß wie zuhause auf alte Hüte und neue Dummheiten.

Eben erreicht mich am Pool das 45. Sonderheft der Studia Leibnitiana (Hrsg.: Arnaud Pelletier 2016): Leibniz and the aspects of reality.

Dürfte sich um ein geeignetes Antidot gegen das Gewäsch von Neuem Realismus handeln, insbesondere in Verbindung mit einer Bloody Mary, die auch farblich bestens zum Einband passt.

18. Februar

Von Haarmann bis Honka, das Publikum ist dankbar für jeden Serienmörder. In der gestrigen FAZ wird das Prosabemühen Heinz Strunks - ein Botho-Strauß-Hybrid von der Reeperbahn - um den Hamburger Asphaltwoyzek Honka gleich zu 'bedeutender Literatur' hochgeschmockt.

Nur einem Schmock wie Jürgen Kaube kann es wohl einfallen, aus Strunk gleich eine Art Hamburger Capote zu machen, der einen non-fiktionalen Roman - 50 Jahre nach In cold blood - über den sägenden Soziopathen Honka schreibt, als sei das der Mühe wert, die Kirche nicht im Dorf zu lassen.

Und nur einem solchermaßen berauschten Schmock kann es beikommen, seinen neuen Protégé Strunk ausgerechnet mit Schopenhauer in Verbindung zu bringen: Wille und Bosheit sind in dieser Welt dasselbe, aber Schopenhauer hätte sich nicht träumen lassen, wie es aussieht, wenn seine Philosophie wirklich wird.

Immerhin können wir uns jetzt wieder einmal träumen lassen, wie es aussieht, wenn Schmocks wirklich werden. -

Der wackere Strunk muss bei solchen Lobhudlern auf der Hut sein, nicht zum Tilman Schweiger des literarischen Betriebs zu werden, den man dann nicht Vollhorst wie Schweiger, sondern Vollheinz hieße.

16. Februar

Mache mich an die Übersetzung eines Gedichtes von Karl Shapiro. Es trägt den Titel "University":

To hurt the Negro and avoid the Jew

Is the curriculum. In mid-September

The entering boys, identified by hats,

Wander in a maze of mannered brick

Where boxwood and magnolia brood

And columns with imperious stance

Like rows of ante-bellum girls

Eye them, outlanders.

In whited cells, on lawns equipped for peace,

Under the arch, and lofty banister,

Equals shake hands, unequals blankly pass;

The exemplary weather whispers, “Quiet, quiet”

And visitors on tiptoe leave

For the raw North, the unfinished West,

As the young, detecting an advantage,

Practice a face.

Where, on their separate hill, the colleges,

Like manor houses of an older law,

Gaze down embankments on a land in fee,

The Deans, dry spinsters over family plate,

Ring out the English name like coin,

Humor the snob and lure the lout.

Within the precincts of this world

Poise is a club.

But on the neighboring range, misty and high,

The past is absolute: some luckless race

Dull with inbreeding and conformity

Wears out its heart, and comes barefoot and bad

For charity or jail. The scholar

Sanctions their obsolete disease;

The gentleman revolts with shame

At his ancestor.

And the true nobleman, once a democrat,

Sleeps on his private mountain. He was one

Whose thought was shapely and whose dream was broad;

This school he held his art and epitaph.

But now it takes from him his name,

Falls open like a dishonest look,

And shows us, rotted and endowed,

Its senile pleasure.

14. Februar

Mein gestriger Vortrag am hiesigen Community College - "Obiter dictum - Athaumasie, nil admirari bei Plutarch. Über dessen Bemerkung 'Zerre den Abergläubischen nicht von den Heiligtümern weg! Er wird dort gequält und gestraft.' (Moralia)" wurde freundlich aufgenommen.

Von zwei Zuhörern und drei Katzen.

13. Februar

"Weisheit ist ... die Fähigkeit, eine Art der Fälschung von der anderen zu unterscheiden, nämlich die Art, die bestimmend ist für eine aggressive Umwelt, von der, die wohltuend ist und homöopathisch." Hugh Kenner, The Counterfeiters. 1968 (dt. 1995)

Das würde ich mir gesagt sein und gefallen lassen, wäre ich je auf 'Weisheit' aus gewesen. Das Alter ist nur selten auf Weisheit aus.

12. Februar

Während ich an der Hotelbar saß und mir von einer Zufallsbekanntschaft aus Italien den Krümmungstensor erläutern ließ - "was auß der Stirnen bricht Ist Arbeit und Beschwer" Martin Opitz -, gewann meine Gattin im Casino knappe zwanzig Riesen beim Roulette. Wir begossen diesen Coup mit drei Flaschen Bollinger. Am nächsten Morgen übergab ich das Geld dem Zimmerkellner. Meine Frau, ganz ohne Kater, liebenswürdiger denn je und in jeder Hinsicht schön, danach zu mir: "Bobby, ich kenne dich so lange, du überrascht mich nicht mehr. Ich überrasche mich aber fortwährend durch dich."

11. Februar

Queerdenker von Berufs wegen, die überall und sogar offiziell viel gelten, erinnern mich an Leute, denen ihr Stock nicht anständig im Arsch steckt, oder an Handpuppen, die nicht richtig stramm auf der Hand aufsitzen. Der jüngst verstorbene Roger Willemsen ("Multifunktionale Quasselkonsole") war ein Musterexemplar dieser Gattung. -

In unserer Suite fehlt die Hotelbibel. Jemand hat sie offenbar mitgenommen und, die Sünde zu dimmen, ausgerechnet dafür ein Exemplar der Fachzeitschrift VIATOR (für Mittelalter- und Renaissancestudien) Vol. 36 Issue 3 2015 hinterlegt.

Seltsamer Tausch! "Der Tausch vermittelt die Beziehungen der Menschen zur Natur, trennt diese von denen der Gesellschaft, ist Gesellschaftlichkeit als bloßes Mittel der Beziehung zur Natur, der Aneignung des Gebrauchswerts zur ungeselligen Konsumtion." (Alfred-Sohn Rethel, Notizen von einem Gespräch zwischen Th. W. Adorno und A. Sohn-Rethel am 16. 4. 1965. in: Sohn-Rethel. Warenform und Denkform. Suhrkamp 1978 S.140. Das Bändchen führe ich stets bei mir.)

Was aber war jener Tausch in unserer Suite?

9. Februar

Im Goethe-Jahrbuch 2014 (Band 131) noch die halbe Nacht geblättert. Frau Mommsen rätselt darin der Frage nach, warum Goethe seine 'Judenpredigt' geschrieben habe. Als wäre diese hessisch-jiddische Büttenpredigt an sämtliche antisemitischen Idiotenreptilien in Deutschland zum Zwecke ihrer karnevalistischen Verballhornung nicht klar als solche erkennbar!

"No, was sagt ehr dozu?" blinzelt der Alte und lobt seinen Schoppen. Wie ich meinen in diesem wundervollen Paradies ohne berufsmäßige Narren und Schriftsteller, die kraft der Autorität des Banalen agieren und bewundert werden.

7. Februar

Der Prophet Sacharja (5,5 und 5,6): Und der Engel, der mit mir redete, trat hervor und sprach zu mir: Hebe deine Augen auf und sieh! Was kommt da hervor? Und ich sprach: Was ist das? Er aber sprach: Das ist eine Tonne, die da hervorkommt - und sprach weiter: Das ist die Sünde im ganzen Lande.

Die Sünde in diese sog. siebenten Vision ist die Präfiguration der Nell in Becketts Endspiel: die Profanisierung einer biblischen Allegorie zur ordinären persona dramatis.

6. Februar

Eben erhalte ich eine Mitteilung unseres Pedells Frodermann. Aufdringliche Kreatur! Schamloser Zudringling!

Jetzt versucht er sich obendrein auch noch als Gegen-Dichter o.ä.

Will seinen guten Willen aber diesmal doch für die Tat nehmen, und schalte seinen Unsinn hier ein:

im speculum stultorum schauen zuzeiten sich zwei narren an:

in der faz von februarius 6 2016 ist's 'ne frau und uns ist's 'n mann;

der wagner jan, der reimt sehr schlecht,

trahms' gisela ist das nur recht,

saugt seinen blödsinn schier wie nektar auf

und reibt ihr lichterlohes fell an seinem ,

bis sie ganz verschmelzen wohl zu einem,

tröstlich-reziproken lauf.

Solch schöne (!) Dankesbriefe von einstigen Schülern, wie den hier mitzuteilenden an Immanuel Kant, erhält heute keiner von uns mehr. Die Nassauer Kant-Gesellschaft ließ mir freundlichst den u.a. Auszug im Faksimile überbringen.

Das Colonial Hilton ist in jeder Hinsicht eine Wohltat. Wir sind entprechend dankbar und großzügig.

5. Februar

Bei erhabenem Sonnenschein in Nassau gelandet.

Nach den letzten Ausschussitzugen war ich völlig im Arsch. Zeitverträge konnten nicht verlängert werden, Heulen und Zähneklappern deswegen unter den Betroffenen, Schweigen aus peinlicher Berührtheit der Vollversorgten, das übliche Schmierentheater.

Unbeamtete Akademiker sind ein hölzernes Eisen, das Lepra hat.

Unsere Hochschule wird von bösen Zungen oft eine Lästerschule genannt. Ich habe noch einmal das gleichnamige Luststpiel Sheridans gelesen und kam vom Weg ab: in Sheridans anderer Komödie Die Nebenbuhler gibt es eine Mrs. Malaprop. Dieses Dummerchen macht sich ständig der verfehlten Wortverwendung schuldig. Sie scheint damit als Vorlage der ungleich berühmteren Frau Stöhr aus Thomas Mann Zauberberg in Frage zu kommen.

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Professor Dr. Bobby Holunder, Rektor der Universität Bockwurst, zieht sich in den bevorstehenden Semesterferien auf die Bahamas zurück.

Seine dortselbst entstehenden Tagebuchnotizen* tragen nicht zufällig den Arbeitstitel 'Erziehung, Moral und Gesellschaft' - unter diesem Titel hielt Emile Durkheim im Wintersemester 1902/1903 Vorlesungen an der Pariser Sorbonne -, wird doch die Universität Bockwurst anlässlich des hundertsten Todesjahrs Durkheims 2017 einen ihm und Jean Amery gewidmeten Kongress zum Selbstmord durchführen.

Prof. Holunder hat zugesagt, den tagungseröffnenden Abendvortrag zu halten.

Über die Reichweite seines Schrifttums macht sich Holunder keinerlei Illusionen:

"Für meine Arbeit interessieren sich etwa acht Leute, und sieben davon bin ich."

Dr. Marga Seidel Seminar für Soziologie der Universität Bockwurst Januar 2016

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