Ad Grünbein IId

Humbuggeviert

Glossen zu Durs Grünbeins Gedicht Mörderrevier (FAZ 5. Januar 2018)

(Grünbeins Text ist fett wiedergegeben.)

Mörderrevier

„Die Mongolen sind an der Reihe,

bei uns zu campieren.“

Andre Breton, La revolutuon surreliste, 1925

Das Motto sitzt dem Gedicht auf wie die Cocktailkirsche der Losung.

Gang durch die wiederbereinigte Stadt.

Der Dichter erinnert sich lebhaft seines Neujahrsspaziergangs und mag sich erinnert verwandter Verse haben „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ und eines verwandten Geistes. Das Epitheton non ornans „wiederbereinigt“ ist aber nichtswürdig: wir bereinigen ihn.

Am Morgen glänzen die Schaufenster

Jawohl, und die Fahnen klirren im Wind kongenial.

Wie der Reichstag zur Sommerpause.

„Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen.“ H. G. Frankfurt. Bullshit. Dt. 2014S. 45/46

Auf den Straßen mehr Autos als Menschen.

Der Dichter schlüpft in den Reporter, und biegt und formt ihn wahr.

Der Proletenbaum reicht in die Tiefe

Die Plastikkritik zieht wie ein rot – grüner Faden sich durchs Werk unseres Dichters. Alle Verwerfung quält ihn und alles, das übersieht jenes „Abseits, wer ist’s?“ und „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh“. usw.

Mit rostigen Wurzeln. Bauzäune klappern

Im Ostwind, der fließend Russisch spricht.

Schwäne tunken, Bauzäune klappern, der Euros

Spricht freilich kein Russisch, hier irrt schelmisch der Dichter.

Die Erinnerungen gehen wie Blinde umher.

Ein geschickter Chiasmus, welcher den Leser schier abstürzen lässt. Der Blinde sucht nicht den Blick, doch die Erinnerungen sind oft, einer Scheibe gleich, blind.

Hier war es, hier, hier und hier, flüstern

Die Stolpersteine vor jedem zwölften Haus.

Die Katze ist aus dem Sack und wir sind wieder einmal in der politisch korrekten Welt Gunter Demnigs angelangt. Vgl. Clemens Nachtmann „Die feine Gesellschaft und ihre Freunde“ Teil 1 und 2 dieser Übung in dialektischer Anthropologie in: BAHAMAS Heft 76 und 77 Berlin 2017.

Die elf anderen Apostel neben G. Demnig sind allzu bekannt, als dass wir sie an dieser Stelle noch einmal nennen müssten.

Manchmal das dumpfe Gefühl, wie betreten

Achtlos ein altes Mörderrevier.

Ingeborg Bachmanns „Unter Mördern und Irren“ betreten wir allemal betreten hier mit dem Dichter. Er lässt uns achtsam erschauern, bis wir mit ihm in reuigem Schweigen gefühlvoll verdumpfen.

Ralf Frodermann 5. Januar 2018