Bobby Holunders Meraner Tagebuch 2019

17. August

Abreise in den frühen Morgenstunden

Dank für schöne Wochen und schönste Tage. Drücke dem Roomboy (Student der Kirchengeschichte in Rom) zum Abschied 100 Mäuse und ein Exemplar des Jahrbuchs "Pietismus und Neuzeit" in die Hand.

Verzichte auf Dankabwehr ("Dafür nicht!") nach seiner Dankexplosion.

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16. August

"In den Büros lügen sich allmorgendlich Stuten und Hengste warm", so der Titel eines Romans, in dem eine Dame während des Frühstücks am Nachbartisch las.

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Über Märtyrer der Wissenschaft, der Aufklärung, von Hypatia bis Galilei.

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15. August

"Betriebsrenten verschwinden, die feste Lebensanstellung ist oft nur noch beim Staat zu haben und die Altersarmut wird mit Sicherheit zum Massenphänomen." (BAHAMAS Heft 82 Sommer 2019 S.44)

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14. August

Einsichten heute:

"Prousts Prosa trägt zur Entwicklung des Selbst- und Weltverhältnisses bei."

Georg W. Bertram, Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Suhrkamp 2014 S. 18

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Langes Gespräch mit Schwester Hadmut (Institutum Beatae Mariae Virginis IBMV) über unbefleckte Empfängnis, Wasserkuren und die ausbleibende, jedenfalls sich verzögernde Parusie.

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Meine Frau hat mit dem Packen begonnen; noch vier Tage bedeutet sie mir damit. Heimito von Doderers Ein Mord, den jeder begeht werden wir noch beenden können, sie, mein Leben, und ich, ihre Freude.

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13. August

Leserzuschrift heute früh an die Bielefelder Zeitung Neue Westfälische:

"Prima vista ist es hocherfreulich, dass der Corveyer Bücherschatz digitalisiert wird.

Noch wichtiger als das ist jedoch, dass die Originale gut behütet bleiben, denn der bevorstehende Polsprung wird dem digitalen Zeitalter binnen Sekunden den Garaus machen.

Digitalisierung ist nur die technisch avancierteste Form des Vergessens.

Prof. Bobby Holunder, Universität Bockwurst (z.Zt. Meran)"

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12. August

Fragen über Fragen:

Dich ergreift nicht der Strom dieser harmonischen Welt?

Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen?

Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum

Leuchtende Sonnen wälzt in künstlich schlängelnden Bahnen?

Handelnd fliehst du das Maaß, das du im Spiele doch ehrst?

Aus Schillers Elegie Der Tanz (Doch und Nein!)

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Zur Topographie der Höllte s.

Mechthild von Magedburgs "Das fließende Licht der Gottheit" III, 21:

"Ich habe eine Stadt gesehen; ihr Name ist 'Der ewige Hass'."

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9. August

Treffen mit unserem alten Emeritus Professor Bierschnegel, der seit Jahren hier in Meran lebt.

Da seine Pension zum großen Teil gepfändet wird (Ketteninsolvenz), hat er sich aufs Witwenknacken verlegt, überdies unterhält er hier eine Art Kurschattenvermittlung.

Seine Verskunst ist so fragwürdig wie sein Geschmack:

phyllis

so leicht lässt sie sich doch nicht fangen,

doch zeigst du ihr die nahmkampfspangen,

steht sie gleich lichterloh in flammen,

und du darfst sie a tergo rammen.

oder

Zuchthaus der Vokale (A)

Als er lang einsaß,

war das gar kein Spaß,

denn aus dem Weinfass

floss nur Gemeinhass,

und der war klatschnass,

schlug aufs Gemüt krass.

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Andreas Maiers Roman Die Universität (2018), hessischer Pofel. Der Untertitel von Peter Kurzecks Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst reicht völlig zur Beschreibung solch lächerlicher Auf-der-Suche-nach-der-verlorenen-Zeit-Prosa: Die Idylle wird bald ein Ende haben!

Maiers abstruser Romanzyklus "Ortsumgehung", wovon Die Universität ein Teil bildet, hoffentlich auch. Der erzwungene Cameo-Auftritt Gretel Adornos im Roman allein rechtfertigte seine Makulierung.

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8. August

Abendliche Kartenrunde mit amerikanischen Geschäftsleuten. In den frühen Morgenstunden nannten sie mich einen Prankster. Inmitten der Getränke und Launen geschmeichelt.

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Meine Frau liest mir die heutige FAZ-Rezension eines Gedichtbandes der "Schreibcoachin" Frau Karin Fellner aus München vor.

Der rezensierende Schmock gibt sich überwältigt von der Sprachkraft der Zeitgeistkellnerin, hier etwa im Futur II: Du wirst gelebt worden sein. O je, in Prof. Auchjauches Stilübungen-Seminar kommt die besser nicht!

Die und ihr überschwemmter Lobredner werden vergessen worden sein, bevor die Gender-Foschung das Futur III entdeckt hat.

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Heute Abend meinen Vortrag zu Johann Georg Heinrich Feder redigieren! Kein Ausgang! Keine Bar! Keine Ausreden!

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7. August

Von Don Rickles geträumt, ein Gottesbeweis in der Gestalt eines Schandmauls.

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Programm des Saarbrücker Germanistentages im September eingegangen. 22.- 24. September 2019 Keynotes, Panels und Workshops usw. zum Thema Zeit. Höre jetzt schon das schale Bonmot von irgendwelchen Kollegen, die nicht ins Saarland kommen werden: "Habe keine!".

Keine Philologentagung ohne Poeten, heuer seicht Esther Kinsky ab:

(pseudo-anthroposophische SteinPflanzenSchlehendichtung auf ungarisch: kö növény kökény. Edition Thannhäuser 2018). - Bleibe in Deckung.

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"In jeder Generation stirbt nur noch Einer, zur Abschreckung."

Notiert Canetti 1961. (Das Buch gegen den Tod)

Den Canetti, fand ich immer, muss man regelmäßig ,mit einem Schuss Erwin Chargaff anreichern, sonst kriegt er den flügellahmen Arsch nicht hoch. Der White Russian benötigt ja auch Kahlua.

Vieles bei ihm auch problematisch: "Hitler hat die Deutschen zu Juden gemacht,...". (Die Provinz des Menschen / 1945)

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6. August

"Es war wie eine bittere Mahnung an den Menschen, damit er sich bewußt werde, daß ein jeder in der Welt allein steht, allein auch unter Gefährten; daß er von nirgendher Trost zu erwarten hat." John Steinbeck (Tortilla Flat / 8. Kapitel).

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Alle Welt - oder was davon übrig blieb - erinnert sich dieser Tage an den Tod Adornos vor fünfzig Jahren.

Wir blättern in seiner Einleitung zu Gedichten seines Lehrers Reinhold Zickel im dritten Heft der Literaturzeitschrift AKZENTE aus dem Jahr 1958. Immer führe ich Fotokopien mit mir, untersagte Adorno doch den Wiederabdruck seines Textes und der Gedichtauswahl in seinen Noten zur Literatur.

Sink ich ins Lied der Amsel ein? (Zickel, Nach dem Tod / ibid.)

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5. August

"Die Menschheit wird allseitig ausgebildet und verstümmelt." Max Horkheimer, Autoritärer Staat. (1942)

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Um bevorstehenden Verpflichtungen familiärer Art aus dem Weg zu gehen, suche ich mit meiner Gattin nach plausiblen Ausreden. Wir handeln in diesem Zusammenhang nach unserer alten Überzeugung, wonach Plausibilität eher Ausweis der Lüge als der Wahrheit ist.

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Wetter mäßig, Appetit enorm.

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2. August

Habe Teilnahme am Kant Congress nächste Woche in Oslo abgesagt.

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Meine Gattin hat mit der Übersetzung des Romans Australia Felix von Henry Handel Richardson aus dem Jahr 1917 begonnen, ich mit meiner alljährlichen Sommerdiät.

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1. August

Gestern Abend singuläre Zaubergala im Hotelpark. Gedachte des jungen Robertini (Günther Dammann), dem Jens-Uwe Günzel vom Zauberkunstmuseum im thüringischen Annaberg im jüngsten Heft des Periodikums KALONYMOS (Heft 2 2019) einen sehr informativen Beitrag gewidmet hat.

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"Da der Mensch die Sprache hat als das der Vernunft eigentümliche Bezeichnungsmittel, so ist es ein müßiger Einfall, sich nach einer unvollkommeneren Darstellungsweise umsehen und damit quälen zu wollen." Hegel, Wissenschaft der Logik

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Laufbahn- oder Leistungsgesellschaft? Deutschland oder USA?

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30. Juli

Zum Typus des "deutschen Professors" Glossar anlegen!

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In der Post Kurioses:

Gesendet: Dienstag, 30. Juli 2019 um 12:55 Uhr

Von: "ralf frodermann" <ralf.frodermann@gmx.de>

An: kulturbuero@dortmund.de

Cc: redaktion@dortmund.de, holunder@rektorat-universitaet-bockwurst.com, universitaet.bockwurst@gmail.com

Betreff: stadtschreiber dortmund 2020

sehr geehrte damen und herren,

hiermit möchten wir höflichst unseren chef, herrn prof. robert holunder, langjähriger und verdienter rektor der universität bockwurst - er weilt gegenwärtig mit seiner gattin in meran und führt

dort sein "meraner tagebuch"

https://sites.google.com/site/universitaetbockwurst/gaestebuch-holunder/meraner-tagebuch-juli-2019

- für das dortmunder stadtschreiberamt 2010 ins gespräch bringen.

zwar hasst er dortmund wie die pest und wird sich ein "dortmunder tagebuch" kaum vom mund absparen wollen - Sie bieten eine "möblierte wohnung" und knapp 2 riesen monatlich, was kaum für seine alkoholspesen langen dürfte -, doch wir wissen, dass er im frühjahr 2020 ein freisemester hat und das dortmunder amt vom nahen bad salzuflen aus versehen könnte.

er braucht dringend eine kur! sein gesundheitszustand ist mittlerweile besorgniserregender als seine arbeitswut, seine starrköpfig-, freundlich-, großzügig-, liebenswürdigkeit und unverschämtheit und bedarf der genesung, und sei es unter dormunder bogenbrücken oder in bierstuben oder stehbierhallen dortselbst.

wir rechnen auf Ihr verständnis und verbleiben mit erheblichen grüßen

prof. christian freiherr von auchjauche, universität bockwurst

prof. erwin aberfett, universität bockwurst

ralf frodermann, pedell universität bockwurst

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Am Abend Ausfahrt nach Sulden, Übernachtung dort. Wir genießen die Sommerfrische wie der Winter den Schnee.

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29. Juli

Kollege Auchjauche schickt mir einen Sonderdruck seines Aufsatzes "Zwischen Affordanz und Ignoranz: Dichterische und historische Wahrheit am Beispiel von Brechts Die Moritat vom Reichstagsbrand".

Das Arschloch spürt mich überall auf!

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Wir bleiben auf jeden Fall noch bis Mitte August.

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28. Juli

Es blüht die Welt, ich bin allein im Zimmer

Hermann von Gilm

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Gerhard Scheit in der Vorbemerkung zu seiner Abhandlung "Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand". Freiburg i. Br., 2001 (unveränderter Nachdruck 2006) S. 7:

"Der Wohlstand in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus und darüber hinaus - aber dadurch vermittelt - der ganzen westlichen Nachkriegswelt hat die Vernichtung zur Voraussetzung, die von den Deutschen organisiert worden ist."

Im Licht dieser nächtlichen Lesefrucht vergeht einem rasch das Schmunzeln bei der Lektüre von Prof. Kieserlings heutiger Erinnerung an einen Text seines Bielefelder System- und Zettelsokrates Niklas Luhmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Luhmanns Aufsatz trägt den Titel "Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen", ist eben wieder abgedruckt worden in Band 3 der Luhmannschen Schriften zur Organisation. Wiesbaden, 2019).

Der Gebrauchswert des Pfaffentums und des spirituellen Plunders, das es feilbietet, war in Zeiten "ungeglaubten Glaubens" (Adorno), unter Null gesunken (Freud, "Zukunft einer Illusion").

Religionssoziologen wie Luhmann ficht solcher Befund nicht an: der pflegte seine systemtheroretische Elle überall anzulegen und wäre wohl in Sachen organisierter Vernichtung, organisierter Integration, organisierter Prostitution usw. auch zu ebenso profunden wie ideologisch allzeit anschlussfähigen Erkenntnissen gelangt.

Dass der systemtheoretische Fußsoldat Kieserling seinem General Luhmann Tribut zollt, indem er jeden banalen Zettel aus dessen Wirkungskreis, Nachlass und Abtritt überall (FAS) und nirgends (FAS) zur Offenbarung erklärt, verdiente einmal eigens systemtheoretischer Betrachtung, beobachteter Beobachter etc.

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Zu der allzu unbekümmerten Intervention der Kollegen Donahue und Kagel in der der FAZ vom 26. Juli (Eine internationale Betrachtung zur Erosion der Kritik im Literaturbetrieb):

"...; die Ahnung von der Gleichgültigkeit dessen, was heute unter dem Namen Kultur weiter betreiben wird, im Schatten der realen Mächte der Geschichte, lassen jenen Ernst nicht aufkommen, dessen es die Literaturkritik bedarf." Adorno, Zur Krisis der Literaturkritik (Noten zur Literatur, Anhang).

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Nach dem Mittagessen Ausflug, Brisen suchen.

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25. Juli

Etwa 80 jähriger Hotelgast gestern Abend an der Bar zu mir:

"Ich bin an älteren oder gar alten Frauen nicht interessiert, Herr Professor. Körperlich finde ich sie fast so abstoßend wie mich selber,

und geistig sind sie mir in der Regel überlegen, was mich regelmässig zunächst erschüttert, dann einschüchtert und schließlich langweilt."

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Samuels Hahnemanns "Der Kaffe in seinen Wirkungen" von 1803 in einer wunderschönen Ausgabe meiner Frau zu ihrem Geburtstag auf den Gabentisch gelegt, zum Dank wurd ich mit Küssen übersät, die ein Ehemann meines Schlages kaum verdient.

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24. Juli

Wenn der Verkehr mit Menschen zu mehr Selbstbeobachtung verführt, wie Kafka auf Zettel 77 seiner Zürauer Aphorismen schrieb,

wozu verführt dann der Verkehr mit Tieren, etwa zu weniger Selbstbeobachtung?

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Im Traum aufgeschnappt:

Du hast doch wohl die Weissagung verstanden:

Erdbeeren werden landen

und du wirst sie wohl versteh'n,

auch die Schmerzen werden's hören,

und sie werden dann vergeh'n.

und:

Dir fehlt, was ich besitzte,

man nennt es Glut, man nennt es Hitze!

Dir fehlt, woran doch ich mich allzeit labe,

man nennt es Lust, man nennt's Hingabe!

Dir fehlt, was mich zum Handeln zwingt,

man nennt es Nase, nennt's Instinkt!

Dir fehlt, was mir die Zeit erhellt,

man nennt es Kohle, nennt es Geld.

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23. Juli

"Wir sind nicht in Eumeswil, Robert!", sage meine Frau gestern Abend in vorwurfsvollem Ton zu mir. - Rätselhaftes Weib!

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Dass man sich von sehr bösen Menschen eigentlich gar nicht vorstellen könne, dass sie einmal sterben, lehrte Adorno.

Ihre Auferstehung kann man sich noch schwerer vorstellen.

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Heute Ausfahrt in einem gemieteten Spider Duetto zum Castello Rametz. Vielleicht weiter, ganz sicher Bozen.

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22. Juli

Meine kleine Anthologie zu Säufergelehrten besteht u.a. aus Erduin Julius Koch. Wir erwägen eine

Neuedition seiner Hodegetik für das Universitäts-Studium an allen Facultäten aus dem Jahr 1792.

Werde den Kollegen Auchjauche um ein Vorwort bitten.

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Im Zusammenhang mit dem hiesigen Lyrikpreis Poolgespräch mit einem jungen Dichter,

der Ulrich Zieger und Thomas Kunst nachstottert, ausgewiesenen "Profiteuren der Mediokrität"

(H.E.Dohrendorf).

Ich erinnerte mich an Kunsts Gedicht "Ich bau in meinem Waschbecken Venedig"

(FAZ 20. Juli 2019) nach der Melodie "Unser Oma fährt im Hühnerstall Motorrad".

Auf solch arrivierte Destillateure des Zeitgeistes trifft man heute allenthalben, ihr Distinktionsbedürfnis

ist unter Schuhverkäufern so verbreitet wie unter solchen Poeten und anderen Posamentierern.

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Beim Wiederlesen von Schwanitz' Roman Der Campus von 1995 Sodbrennen, wie damals, abgebrochen. Verfilmung noch weit abstoßender.

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21. Juli

Gesten Abend im Musical "I fuck your dad, Ich fick deinen Vater",

meine Gattin verließ in der Pause das Theater, Unflat vor der Pause:

Sind das die Worte, die ich erflehte?

Erflehte ich denn Rüstgebete?

Statt Blödsinn schick mir Salz der Erde,

und danach sag mir "stirb und werde".

Unflat nach der Pause:

Der alte Säufer sprach zum Schwulen:

"Um mich musst du erst gar nicht buhlen!

Im übrigen hab ich'n Kater,

Lass mich in Ruh', ich fick dein' Vater."

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Nachts noch abwechselnd im Lektionar und in Jörg Uwe Sauers mäßigem Die Uni als Klinik von vor zwanzig Jahren.

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Vorher an der Bar Disput und Halbeklat mit einem französischen Ex-General über den Grafen Stauffenberg, den der alte Offizier einen "Feigling" nannte, weil er, statt dem Führer mit einer Luger in den Schädel zu schießen, nur einen "Knallfrosch" gezündet habe und dann weg lief.

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19. Juli

Als deutsche Verwalter/ICH-AG's deutscher Obliegenheiten, ideologischer Liegenschaften usw. können heute

Heiner Müller so gut gelten wie Neo Rauch und Till Lindemann, Überlebende aus der DDR, nicht aus Warschau.

Diese Leute haben eine Art kryptofaschistischen Härtekitsches im Prgramm, dessen Gebrauchswert um so mehr steigt, je nutzloser die Welt wird.

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Unser Pedell Frodermann geht wieder einmal eigene Holzwege. Das nachfolgende Billet erhielt ich

heute mit E-Post. Wir werden den Mann gelegentlich doch einmal abmahnen müssen.

Erhalten wir den Ehrentitel "Exzellenzuniversität", ist der MAnn nicht mehr zu halten, bei aller Sympathie.

"sehr geehrte damen und herren von der akademie der künste,

ich erlaube mir, Ihnen beigefügte texte zum abdruck in sinn und form freundlichst zu übersenden.

statt der pseudo-epigonalen enfant gâté- und bagatellenbeschwörungslyrik, von denen viele ausgaben Ihres heftes leider

überschwemmt sind - im aktuellen heft walle, bulla e tutti quanti in älteren -, hat die deutschsprachige lyrikszene

und germanistik endlich an unseren sachen sich zu bewähren und zu wachsen, statt an dem

gängigen pofel a la grünbein, wagner, detering etc. zu schrumpfen. Sie wissen das wie ich.

diese not, in welche deutsche einfaltspinsel die lyrik brachten, gehört gebrochen:

Wenn einstmals diese Not

Lang wie ein Eis gebrochen,

Dann wird davon gesprochen

Wie von dem schwarzen Tod;

Und einen Strohmann baun

Die Kinder auf der Heide,

Zu brennen Lust aus Leide

Und Licht aus altem Graun.

aus: Gottfried Keller, Die öffentlichen Verleumder

Mit freundlichen Grüßen

Ralf Frodermann"

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18. Juli

Im jüngsten Heft der Berliner Kulturschmonzette Sinn und Form (4/2019) Abdruck einer Postkarte Adornos und seiner Frau an Friedrich Pollock vom Juli 1969, fein kommentiert vom Herausgeber von dessen Schriften, Dr. Lenhard aus München.

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Wer einen Rülpser nicht als Rülpser will markieren,

vielmehr ihn wohl als Orgelpunkt benennt,

der lässt auch einen Furz passieren,

wenn der ihm auch die Nas' verbrennt.

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16. Juli

Einigen Kindern von Hotelgästen las ich gestern Abend aus Sonnleitners Die Höhlenkinder im Pfahlbau aus dem Jahr 1919.

Die Kinder waren mucksmäuschenstill und fragten mich anschliessend, was ich gerade gemacht hätte. "Vorlesen " sagte ich. Dann gingen sie schweigend.

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Schulferien

Schüler und Lehrer sind von der Strassen verschwunden,

der Lehrerpöbel leckt seine tiefen Wunden

und ruht in Lügen von Lügen sich aus,

die Schüler im Mehrdigitalenhaus

sinnen indessen auf neue Verbrechen,

die sie den Lehrern auch artig versprechen

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Beim Mittagessen Lektüre am Nebentisch, Daniel-Pascal Zorns Shooting Stars Philosophie zwischen Pop und Akademie, jüngster Blödsinn aus dem Klostermann-Verlag zu Frankfurt.

"Leider ohne Nacktfotos von Richard Daniel Precht", sagt die junge Kokette augenzwinkernd.

Ich muss an Fritz Zorns MARS von 1977 denken, und bestelle noch einen Malfy Limone.

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15. Juli

Leserbrief an die Bielefelder Zeitung Neue Westfälische:

"Das Schwimmbad verändert sich mit der Gesellschaft", sagt der Kulturwissenschaftler. Übersetzt aus dem Politsche-Korrektheits-Deutsch (PKD) soll das wohl heissen: andere Länder, andere Unsitten.

Prof. Bobby Holunder, Universität Bockwurst (z.Zt. Meran)

PKD - Deutsch, ein Angebot für Langenscheidt. Dr. Perplexorum.

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Johannes Mario Simmels Roman Bis zur bitteren Neige scheint inhaltlich von Nabokovs Lolita und formal von Becketts Das letzte Band inspiriert.

(auszuführen!)

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14. Juli

Stanislaw Lems Roman Die Stimme des Herrn endet nicht mit einer Ode an die Freude, sondern mit den elegischen Versen Swinburnes aus dessen Gedicht Der Garten der Proserpina:

From too much love of living,

From hope and fear set free,

We thank with brief thanksgiving

Whatever gods may be

That no life lives for ever;

That dead men rise up never;

That even the weariest river

Winds somewhere safe to sea.

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Klingt im Wind ein Wiegenlied,

Sonne warm herniedersieht,

seine Ähren senkt das Korn,

rote Beere schwillt am Dorn,

schwer von Segen ist die Flur -

junge Frau, was sinnst du nur?

Theodor Storm, Juli

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12. Juli

Taufrisches Exemplar der aristophanischen Lysistrate (Berlin, 2019) des Kollegen Landfester aus Giessen eingetroffen.

War eine Neuedition schon wieder nötig? Wir haben doch Holzbergs zweisprachige Reclam-Ausgabe seit zehn Jahren.

Erinnere mich gerührt des Verses 1155 aus der Lysistrate; wie oft trug ich ihn in die Poesiealben meiner Mitschülerinnen im Griechischkurs ein:

"Und ich habe noch nie eine schönere Fotze gesehen."

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Heute Abend werde ich im kleinem Kreis aus Franz Ernst Brückmanns "Kurtze Beschreibung und genaue

Untersuchung Des Fürtrefflichen Weitzen-Biers, Duckstein genannt, Welches zu Königs-Lutter im Herzogthum Braunschweig gebrauet, und wegen seines guten Geschmacks und herrlichen Qualitäten bey Gesunden und Krancken, durch gantz Teutschland verfahren wird..." von 1723 lesen.

Meine Gattin schon vorsorglich unpässlich.

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11. Juli

Die sommerwiese dürrt von arger flamme. (George)

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In der katholischen TAGESPOST zeigt heute Alexander Pschera ein neues- das dritte - Buch Steffen Köhlers über den katholischen Hilfsdruiden, ständig mit dem Klammerbeutel gepuderten Martin Mosebach an.

nota bene:

https://jungle.world/artikel/2018/50/martin-mosebach

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Wanderungen, Pferderennbahn, Samogon.

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10. Juli

Meine Gattin, habilitierte Japan- und Indologin, weist mich auf, wie sie sich ausdrückt, "dämlichste Frage der Saison" hin: "Hätte Heidegger seine Spätphilosophie also viel weniger umständlich, viel eleganter auf Sanskrit formulieren können?" (Felix Heidenreich, Zen im Schwarzwald / Heidegger und der Rashomon-Effekt. in Zeitschrift für Ideengeschichte / Die Wahrheit über Japan. Sommer 2019 S.62)

In Swift gesotten, in Sterne gebeizt, erscheint demnächst in meiner Übersetzung bei unserem Universitätsverlag #bockpress#:

The Koran: or, Essays, Sentiments, Characters and Callimachies of Tria Juncta in Uno.

M.N.A. or Master of No Arts. Wien, 1798.

Libanios on Julian!

"Das philologische Wissen darf also gerade um seines Gegenstands willen nicht zum Wissen gerinnen." Peter Szondi, Über philologische Erkenntnis.

Gesetzt, auf jedem deutschen Produkt, auf jeder deutschen Quittung, auf jeder deutschen Banknote seit 1948 fände sich neben dem Firmenstempel das Celansche nota bene oder Menetekel 'Der Tod ist ein Meister aus Deutschland' und - aus Gendergründen: die Lüge eine Meisterin.

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9. Juli

Nachsatz zum gestrigen Eintrag:

Philologie in actu heisst 'Interpretieren'. Der gemeine akademische Schlammgründler - vierfacher Schriftsinn wird ihm leicht zum einfachen - hat davon um so weniger einen Begriff, je mehr er sich darüber verbreitet.

Er nimmt das Brett vor seinem Kopf für das lichte Schwarz am Ende des Erkenntnistunnels.

Im Kino heute Abend Viscontis Weiße Nächte. Gattin Migräne. Versuche abzuwettern.

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8. Juli

Metalepse

„Überzeugen ist unfruchtbar.“ (W. Benjamin)

Es gibt Texte, die man nicht erst lesen muss, um ihrer überdrüssig zu sein; zu ihnen gehören die notorischen Einführungen.

Trotz kategorischen Nachsendeverbots schickt mir meine Sekretärin ein solches Elaborat gleich zu Anfang der Ferien ins Ferienhotel:

Stefan Descher, Thomas Petraschka: Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Reclam Stuttgart, 2019.

(Die Autoren sind offensichtlich Mitglieder eines akademisch-philogisch operierenden Rackets der mittleren Generation, die jetzt veröffentlichen muss, was das Zeug hält, um noch an die sich ständig leerenden Fleisch- und Gemüsetöpfe ihrer Lehrer zu gelangen.)

Wer das Argumentieren, d.h. die Begründbarkeit kontingenten Wissens auskundschaften will, tut gut daran, die beiden aristotelischen Analytiken plus Römisches Recht zu studieren.

Stringenz, Kontingez, Kohärenz, Transparenz usw. sind die Zacken an der Krone des Narren, selten fällt ihm einer aus.

„Es gibt aber Wahrheiten, die man durch Beweise und Argumente verwässert und um ihren Gehalt bringt. Man spricht ihnen die Evidenz ab, die sie besitzen, und bringt sie um ihren Stachel. Man unterschlägt, daß es sich dabei nicht um esoterische Produkte höherer Einsicht, sondern um Selbstverständlichkeiten handelt, und gerade im anstößigen Charakter von Selbstverständlichkeiten, die keiner zugeben will, liegt die Wahrheit von Erkenntnissen, die eigentlich sehr trivial sind – wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern.

Man verharmlost bisweilen, wenn man sich argumentativ auf einen Schwindel einläßt, …“

„Es ist also keineswegs der bessere Text und unter allen Umständen derjenige, welcher argumentiert und ganz manierlich diskursiv entwickelt…“

Wolfgang Pohrt, Werke Band 2 Berlin, 2019 S.224/225

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Bertha Pappenheim

Mir ward die Liebe nicht –

Drum leb’ ich wie die Pflanze,

Im Keller ohne Licht.

Mir ward die Liebe nicht –

Drum tön’ ich wie die Geige,

Der man den Bogen bricht.

Mir ward die Liebe nicht –

Drum wühl’ ich mich in Arbeit

Und leb’ mich wund an Pflicht.

Mir ward die Liebe nicht –

Drum denk’ ich gern des Todes,

Als freundliches Gesicht.

Mir ward Liebe, drum denk' ich gern des Lebens.

(2 Kisten Bollinger bestellt.)

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6./7. Juli

Nachdem wir uns am gestrigen Abend im Hotelrestaurant, eine Stunde nach der glücklichen Ankunft im einst zauberhafteren Tiroler Flecken an der Passer, mit einigen köstlichen Tournedos gestärkt hatten, wollte ich meiner Gattin eine Intuition erläutern, die mir auf der Reise nach Meran beigekommen war, aber sie schnitt mir gleich das Wort ab und bat mich, auch um meinetwillen, wir sollten doch den ersten Abend einmal nicht mit Neidharts Winterliedern und was es damit in der Winterreise auf sich haben könnte o. ä., zubringen, sondern vielmehr mit seinen Sommerliedern und ferner damit, was diese wohl mit unserer Reise zu schaffen haben möchten. -

Welch ein liebenswürdiger Auftakt mit der treuen, geliebten Gefährtin!

O stille, graue Frühe!

(Ferdinand Freiligrath, Vom Harze. Wahre Geschichte. 1843)

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"Die Mythen, unmündige, naseweise Kinder, sollten es sich für ein Glück schätzen, wenn der Schulmeister sich ihrer annehmen und von seinem Lehrstuhl herab sich zu dem Geschäft herablassen wollte, ihre verworrenen Begriffe zu ordnen und zu berichtigen."

Friedrich Creuzer:

Aus dem Leben eines alten Professors (1848)

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Prof. Holunder, Rektor der Unievrsität Bockwurst, verbringt seinen diesjährigen Sommerurlaub in Begleitung seiner Gattin im italienischen Meran.

Aus dem dortigen Hotel Therme Merano werden uns seine Tagebuchaufzeichnungen ab dem 6. Juli zugehen, die an dieser Stelle veröffentlicht werden.

Büro Holunder 3. Juli 2019