Letzte Tram / rite

Letzte Tram / Ein Hörbild

STRIESE:

Schmierentheater! – Hören Sie, jetzt läuft mir die Galle über! Wissen Sie denn überhaupt, was eine Schmiere ist? Es ist wahr, wir ziehen von einem Ort zum andern; aber mein erhabener Kollege, der Herzog von Meiningen, machte es ja ebenso. – Es ist wahr, dass ich meinen Schauspielern fast gar keine Gage bezahlen kann, aber dafür leisten sie desto mehr. Da ist zum Beispiel mein erster Held – ein früherer Apotheker, – das ist ein Beleuchtungsinspektor, wie Sie ihn suchen können; mit Hilfe einer einzigen Petroleumlampe und einer roten Glasscheibe lässt Ihnen der die Sonne untergehen, dass es Ihnen nur so vor den Augen flimmert. Und dabei das Familienleben unter meinen Leuten! Meine Frau kocht für die ganze Gesellschaft, damit meine Sozietäre sich an Entbehrungen gewöhnen. Der Charakterspieler ist nicht zu stolz, die Kartoffeln zu schälen, und mein Jüngster kann gar nicht einschlafen, wenn nicht der Intrigant, der gute Kerl, ihn vorher eine Stunde lang in der Stube herumträgt. Und wie anhänglich mir die Leute sind. Meine jugendlich-naive Liebhaberin ist nun bald achtzehn Jahre bei mir, sie denkt gar nicht daran, wegzugehen. Und was schließlich meine Frau anbelangt – – nicht nur, dass sie das Kassenwesen besorgt, den Schauspielern die Haare brennt, in der Stadt die Requisiten zusammenborgt und abends die größten Rollen spielt, nein, sie hat trotz dieser Überbürdung im Laufe der Jahre noch Zeit gefunden, mich mit einer Schar lieblicher Kinder zu beschenken. Sehen Sie, Herr Doktor, das wird an einer Schmiere geleistet, und ich bin der Direktor! Empfehle mich!

Franz und Paul von Schönthan: Der Raub der Sabinerinnen (2. Akt )

Einer liest, ein anderer kiebitzt. Einer liest zum Beispiel, weil es dauernd gewittert, eine Angst er aber deshalb nicht mehr empfindet, in Johann Nicolaus Tetens‘ „Über die beste Sicherung seiner Person bei einem Gewitter“ von 1774, selbstverständlich auf kopierten Blättern, die ordentlich in einem Hefter heften. Der Text ist selten wie ein Pfirsich mit Rasierschaum, und wird noch seltener gelesen oder entliehen oder kopiert. Wer den Titel erspähen kann, vermutet einen Rokokofreund vor sich, setzt auf Seelenverwandtschaft und spricht: „Schön ist, was Vernunft, Verstand und Phantasie, rein als solches, in einem harmonischen, ihren Gesetzen gemäßen Spiele der Tätigkeit beschäftigt und befriedigt.“ Statt eines pikierten Naserümpfens oder der Androhung von Prügel, wird der Gesprächsfaden aufgenommen zwecks Weiterspinnung, wer wollte auch anderes erwarten vom Rokoko auf Rädern, wie es sich zuweilen eben fügt: Aufblende nach Straßenlärm

Tetens- Leser: Das haben Sie fein deklamiert, darf ich um Ihren Namen bitten?

Mann mit Zündhütchen: Mein Name ist Striese, ich unterrichte an hiesiger Schauspielschule.

Tetens- Leser: Sie unterweisen junge Menschen in der Schauspielkunst?

Striese: Menschen jeden Alters. Alle wollen sich doch wappnen. Sie gegen Gewitter, ich gegen

Geldnot.

Tetens- Leser: Mein Interesse ist ein rein kulturhistorisches, Gewitter schrecken mich nicht.

Striese: Warten Sie nur. Straßenlärm. Abblende.

Ralf Frodermann VI 2013