Juste milieu- Stabilisierung durch Statistik:
Migrationsanalyse und Benutzeroberfläche der Wirklichkeit / Eine Zwischenrechnung
(über Doug Saunders’ „Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung“ München, 2012)
„Das weitverbreitete Malaise-Empfinden der letzten Jahrzehnte reflektiert sich in zunehmendem Zweifel an den universalen Werten, die bislang die westliche Gesellschaft zusammengehalten haben.“
Leo Löwenthal, Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation ( orig. engl. 1949)
Der sozialwissenschaftliche Empirismus hat seine Rhetorik wie seine Parolen; seine ihm eigene Art der Problemdimensionierung, seine nüchterne Logik der Forschung, die nur noch vom nüchternen Selbstverständnis seines theoretischen Tuns und praktischen Treibens übertroffen wird. Und er hat eine palliative Funktion.
Einer ihrer journalistischen Parteigänger, der kanadisch-britische Autor Doug Saunders, bemüht sich in seinem neuen Buch, das der Verlag schon auf dem Umschlag aus plausiblen Gründen gegen den Bestseller Thilo Sarrazins in Stellung zu bringen sucht, um eine Relativierung muslimischer Untergangsszenarien des Abendlands. Anstelle wohlfeiler Gerüchte sollen Fakten treten, wofür bereits das dem Buch vorangestellte Motto aus Shakepeares HEINRICH IV. vollmundig wirbt.
Sein Werk, das, zum besseren Verständnis, den doppeldeutigen Untertitel „Eine Abrechnung“ trägt, ist in vier bilanzierende Teile gegliedert. Daten sollen an die Stelle von Vorurteilen des common sense treten, um jene zu pulverisieren.
Nach einem ersten Teil, in dem „gängige Meinungen“ und deren Protagonisten (Breivik etc.) vorgestellt werden, widmet sich Saunders in einem zweiten Teil den „Fakten“, wie das Kapitel mit positivistischem Aplomb überschrieben ist. Darin geht es zu wie in einem jesuitischen Kolleg über Gottesbeweise, deren Rechtmäßigkeit und Durchführbarkeit, welches alles e contrario zu beweisen ist, d.h. durch Widerlegung des Gegenteils.
Saunders stellt seinen Ausführungen hier „Behauptungen“ (praepositiones) voran, die er im folgenden zu widerlegen sucht.
In einem dritten, historischen Teil, entwirft Saunders unter den Abschnitten „Die katholische Flut“ und „Die jüdische Flut“ seine allegorisierte Geschichtsphilosophie der Einwanderungswellen, in ihrer sprachlichen Instrumentierung offenbar inspiriert durch den BBC Film DIE FLUT aus dem Jahr 1990.
Im vierten und abschließenden Teil seines Buchs steht ungefähr das, womit schon das Buch von Paul Scheffer „Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt“ (München, 2008) schloss: „Europa hat die Welt berührt und wird nun in zunehmendem Maße von der Welt berührt. Wir haben diese Gegenseitigkeit nicht nur verursacht, wir haben sie in mancherlei Hinsicht auch gewollt. Die Konfrontation mit dem militanten Islam verstellt den Blick auf eine willkommene Veränderung. Der Wetteifer mit dem Fernen Osten kann nämlich eine Energie freisetzen, die hilft, uns aus dieser beklemmenden Lage zu befreien. Der Andrang von außen ist notwendig. Dasselbe gilt für das Kommen von Migranten: Ihre Anwesenheit ist eine permanente Einladung zur Selbstreflexion. Wenn wir verstehen, dass es für eine unangestrengte Gesellschaft der Anstrengung bedarf, dann können wir mit Überzeugung zu den Menschen von überall her sagen: Willkommen.“
Saunders, dem man kaum wird übel nehmen können, dass sich sein deutscher Verlag mit ihm an die megalomanischen Verkaufserfolge der Bücher Sarrazins und Buschkowskys anhängen möchte, ist ein Mann der Demografie und Statistik; ihr verdanken sich viele seiner Korrekturen und Fazits. Trotzdem bleiben seine Einlassungen eigentümlich konturlos, wirken allenfalls beruhigend und gelangen über eine affirmative Konstatierung des status quo selten hinaus.
Einschlägige, jedoch eher abseits geführte Diskussionen, s. etwa Thomas Maul: Sex, Djihad und Despotie. Zur Kritik des Phallozentrismus. Freiburg. i. Br., 2010 oder Hartmut Krauss (Hrsg.):Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden. Osnabrück, 2012, werden von Saunders nicht berücksichtigt. Er bevorzugt kritisches Einvernehmen, mit mäßigem Abstand zum liberalen mainstream. Ihm, dem alle Religionen offenbar eins und mithin Hekuba sind, kommt es nicht in den Sinn, dass zwischen einer Vernunftreligion wie der jüdischen und einer Unterwerfungsreligion wie der islamischen nicht nur wohl zu differenzieren, sondern, inmitten dieses Spannungsfeldes, auch klar Partei zu beziehen ist, politisch wie ideologisch; im Zweifel für die Israel Defense Forces (IDF).
Ökonomisch hat sich das Konzept „Krisenbewältigung durch Migration“ in Zeiten, da es schwer hält, es irgendwo auf der Welt auch nur zum Tellerwäscher zu bringen, indessen längst erledigt. Die Profitraten schmelzen schneller ab als die Polkappen und an Wunder glaubt keiner.
Es gibt seltenere Rohstoffe als Menschen es sind. Sie, d.h. ihre Arbeitskräfte, sind zunehmend, und zunehmend überall, entbehrlich. Die Frage ist nicht mehr die nach ihrer Verwertung, sondern die nach ihrer kostengünstigsten Lagerung unter Bedingungen ihrer Überflüssigkeit, objektiv einerseits, und ihrem Wunsch nach Selbsterhaltung, subjektiv andererseits, von Aspekten der prospektiven Klimamigration und anderen Gründen weltweiter Miserenmigrationen an dieser Stelle zu schweigen.
Da Saunders die gesamte Debatte nur oberflächlich historisiert und die Tatsache unbedacht lässt, dass Arbeitsmigration im Früh- und Hochkapitalismus vollständig anderen Bedingungen und Marktgesetzen usw. gehorchte als heute, bleiben seine diesbezüglichen Ausführungen eigentümlich farblos und unhistorisch, dienen sie doch ohnehin und offensichtlich nur der Plausibilisierung seiner Generalthese, wonach europäische wie nordamerikanische Gesellschaften in der Vergangenheit bereits Integrationsleistungen erster Ordnung, trotz mancher Widrigkeiten, realisieren konnten, nicht zuletzt zu ihrem eigenen Besten.
Saunders’ Arbeit am Gerücht hat, wie alles derartige Tun, Räumungscharakter. Hier und da gibt er sich aus political correctness political uncorrect. (vergl.: Dusini/Edlinger: „In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness.“ Berlin 2012, sowie die zutreffende Rezension Magnus Klaues in, KONKRET Heft 11/2012). Das geht allerdings bei ihm niemals so weit, etwa den raschen Übergang vom Sozialstaat zum Dritte-Welt-Planet Erde, die anstehende, nächste Globalisierung also, zu diskutieren oder auch nur den Erfolg einer reaktionären englischen TV-Serie wie INSPECTOR BARNABY, die vollständig ohne „Migrationshintergrund“ auskam und eben deshalb, so mutmaßte ihr Produzent, beim englischen Publikum so überaus erfolgreich sein konnte.
Saunders ist ein Candide dieser Zeit; er verteidigt die migrantischste aller möglichen Welten gegen die Welt der Migration, die nur ein Ausdruck der universalen Misere, keinesfalls aber ihr Antidot ist.
Sollte er Recht haben, wäre das kaum die halbe Wahrheit!
Ralf Frodermann 2012