Kontext Interidiotismus / Hermeneutische Schwundstufen (Kondenshermeneutik) in der Wissensgesellschaft
Für Wissen und Verstehen, ihre Kategorien, Prämissen und Konstitutionsbedingungen sind Wissenschaften zuständig. Den Rest erledigt eine alltagstaugliche Quasselindustrie, die in weiten Teilen die Geisteswissenschaften ersetzt hat und jede Form von Kritik als ‚fadenscheinig’, ‚einseitig’, ‚subjektiv’ oder ‚hegemonial’ usw. zu denunzieren mittlerweile gewohnt ist.
Verlautbarungen haben Argumentationen abgelöst, indem jene für diese ausgegeben werden.
Banales wird zur Erkenntnis verklärt und noch das bornierteste Bewusstsein darf sich so im Elysium einer Erkenntnis wähnen, die keine ist.
Im aktuellen Heft des Fachorgans ZEITSCHRIFT FÜR INTERKULTURELLEN FREMDSPRACHENUNTERRICHT (Jg.17 Nr.1 April 2012) legt Aysel Uzuntas von der Istanbuler Marmara Universität, Abt. für Deutsche Sprache und ihre Didaktik, die argumentative Latte ihrer Profession einmal mehr tiefer.
In ihrem Artikel „Verstehen im interkulturellen Kontext am Beispiel des Frankfurter Reiseberichts des türkischen Schriftstellers Ahmet Hasim“ informiert sie ihre verduzte Leserschaft davon, wohin das Kompliment eines türkischen Dichterpatienten im Frankfurt des Jahres 1932 eine dort tätige Krankenschwester führe konnte.
Ahmet Hasim war so beeindruckt und dankbar für Pflege und Service gewesen, dass er der Frankfurter Florence Nightingale mit den Worten ’Ich nehme dich mit nach Istanbul’ dankte. Nach seiner Darstellung nahm das unschuldige Ding dies Wort wortwörtlich, fragte ihre Eltern um Reiseerlaubnis, erhielt sie und teilte dem Schriftsteller mit, sie sei reisefertig. In den interkulturellen Memoiren Giacomo Casanovas wäre dies kein besonderes Vorkommnis, Frau Uzuntas macht aus einer vermutlich schlecht erfundenen Anekdotenameise einen kulturalistischen Elefanten: „Die Krankenschwester hatte die Worte Hasims als ernst gemeinte Einladung, als ein Angebot verstanden; Hasim hingegen wollte lediglich (!) seine Zufriedenheit mit den Dienstleistungen der Krankenschwester in den Mittelpunkt stellen. Seine Worte implizieren, dass er mit der Krankenschwester sehr zufrieden ist, beeindruckt ist, und dass sie ihm in Istanbul fehlen wird.“ (S.21) Nota bene: Hospital, nicht Bordell!
Von Gadamers „Wahrheit und Methode“ ist eine Art Kondenshermeneutik geblieben:
„Wie bereits oben kurz erwähnt, ist in der Kommunikation nicht nur die Absicht des Sprechers bestimmend, sondern auch das Verstehen des Empfängers entscheidend.“
Die naive Dummheit einer Frankfurter Krankenschwester, erfunden oder nicht, versehen mit der ethnologischen Würde der Gegenwart, erhält die Weihen trivialster Analyse: „In (sic!) diesem Text handelt es sich um eine interkulturelle Interaktion.“ (ibd.)
Frau Uzuntas interkulturalisiert auch die Lüge und stellt sich die Frage, „was eine Lüge ist“ und „ob die Antworten darauf nicht interkulturell und somit unterschiedlich grundgelegt sind“. (S.20) Dass ein Sprachspiel misslingen kann, weil einer der Teilnehmer ein Augenzwinkern für bare Münze nimmt, kommt ihr nicht in den Sinn. Und dass ein türkischer Schriftsteller im Frankfurt des Jahres 1932 erfahrenerer im small talk und Komplimentemachen war als eine deutsche Krankenhausangestellte im Bettenmachen, liegt offenbar ganz außerhalb ihrer akademischen Vorstellungskraft; von der Neigung der Dichter zur Lüge, welcher Platon sie zieh, nicht zu reden. -
Warum die Redaktion einer germanistischen Fachzeitschrift einen Text wie den vorliegenden offenbar unredigiert abdruckte, Stilblüten vom Schlage „Er berichtet über Hermes, dem Gott im Altgriechischen, mit dem die Lüge vertreten wurde;“ durchgehen ließ und Frau Uzuntas damit einen Karriereschaden zufügte und Bärendienst erwies, bleibt unerfindlich. Diese redaktionelle Ignoranz zeugt freilich von noch größerer Geistesferne und Geschmacklosigkeit als die gedankenlosen Abwegigkeiten und das mangelnde Stilgefühl seiner Autorin.
Ralf Frodermann VI 2012