Goetheforscher (Momme-Mommsen-Laube)

Nichts dankenswerter als die philologische Arbeit an den Werken unserer klassischen Literatur, solange sie sich in ihren Schranken hält oder doch nur gelegentlich einmal darüber hinausschweift! Aber von einem Biographen Lessings oder einem Geschichtsschreiber der deutschen Literatur ist etwas anderes und auch wohl etwas Besseres zu verlangen, als daß sie zehnmal schon umgekehrte Stäubchen noch zum elften Male umzukehren verstehen. Über diesen tausend und aber tausend Quisquilien verlieren sie jeden Blick für das Ganze der Erscheinung, und wenn sie über Lessing absprechen wollen, so sollten sie doch wirklich erst beherzigt haben, was Lessing über die »selbstdenkenden Köpfe« und die »siebenmal sieben Stäubchen aus der Literaturgeschichte« sagt. Allein, das wäre noch das wenigste. Weit schlimmer ist es, daß sie ohne jede Kenntnis der gleichzeitigen ökonomischen und politischen Zustände schreiben. Damit reißen sie die Pflanzen aus ihrem mütterlichen Boden und legen sie zwischen die löschpapiernen Seiten ihrer Herbarien. Mögen sie nun noch so sorgsam die einzelnen Blätter bis auf die letzte Zacke beschreiben: Duft und Farbe sind unwiederbringlich dahin. Der ärgste Frevel solcher Literarhistoriker aber ist es, wenn sie, sei es in einem dumpfen Gefühle ihrer verhängnisvollen Einseitigkeit, sei es aus anderen, aber wahrhaftig nicht achtbareren Gründen, die Gegenstände ihrer Darstellung in ein politisch-soziales Licht rücken wollen und sie deshalb mit den politischen und sozialen Vorurteilen aufschminken, die ihnen selbst geläufig sind und die »hohen Gönnern« angenehm in die Ohren klingen. Dann entsteht ein wahrer Greuel der Verwüstung.

Franz Mehring, Die Lessing-Legende / Scherer und Erich Schmidt über Lessing

(1893)

Lesarten

Am 13. Juni 1995 gratuliert der Heidelberger Germanist Arthur Henkel (1915-2005) seinem Kieler Kollegen Erich Trunz (1905-2001) mit einer kleinen Miszelle (zu Goethes 15. Sonett) in der FAZ zum 90. Geburtstag.

Beider Zentralgestirne waren Goethe und der Führer. 1995 war der freilich schon gestorben und nur Goethe lebte noch.

Henkels Zuschrift vom 26. August 1995 an uns, welcher eine knappe, briefliche Disputation um Sonett XV vorausgegangen war, verrührt nonchalant die relativierenden Nebelschwaden des Philologen zum faden Eintopf des Fatalisten: "Jeder liest wohl anders."

Ralf Frodermann August 2015

Nota bene

Max Kommerell: Gedanken über Gedichte. Klostermann, Frankfurt am Main 1943 u. 1985.

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