Kritische Schlittenhunde

„Jede Sache nämlich, die so beschaffen ist, dass sie durch das Weitergeben nicht abnimmt, besitzt man noch nicht, wie man sie besitzen soll, solange man sie nur bei sich behält und nicht weitergibt.“

Augustinus, de doctrina christiana (I,2)

"Paul Rosenbloom attributes to André Weil the saying that “God exists, since mathematics is consistent, and the Devil exists, since we cannot prove it."

zitiert nach: Paul Benaceraff: God, the Devil and Gödel. The Monist vol. 51 no.1 1967 / Nachdruck Etica & Politica / Ehics & Politics 2003 / 1

Kritische Scholastik und modernster Antimodernismus

Zur Neuedition der Frühschriften Karl Heinz Haags

(K. H. Haag, Kritische Philosophie/Abhandlungen und Aufsätze. edition text + kritik 2012)

Im Rahmen der von Rolf Tiedemann herausgegebenen „Dialektischen Studien“ erschien als deren, in beiderlei Hinsicht letzter Band (13), kürzlich der hier anzuzeigende.

Neben Haags Dissertation von 1951, Die Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie und der Adornos Jargon der Eigentlichkeit sachlich verwandten Kritik der neueren Ontologie aus dem Jahr 1960, enthält er vier Arbeiten, die zwischen 1963 und 1971 erschienen waren.

Haag stellt den ungewöhnlichen Typus des aus der neuscholastisch-jesuitisch geprägten Sphäre stammenden Gelehrten dar, dessen romanhaftes Urbild und intellektuelles Pendant man unwillkürlich in der Gestalt des Naphta aus Thomas Mann Zauberberg zu kennen meint.

Doch Haag ist nicht Lukacs, der bekanntlich Thomas Mann zum Vorbild seines Naphta-Entwurfs diente.

Die Rezeption mittelalterlicher Philosophie und Theologie war für Protagonisten der Kritischen Theorie um Horkheimer und Adorno marginal, weitgehend irrelevant. Da ihnen das Mittelalter mit Marx als die „Zeit realisierter Unvernunft“ galt, existieren Namen wie Durandus, Wilhelm von Ockham, Cassiodor, Augustinus, Thomas von Aquin, Suarez, Duns Scotus, Abaelard, Boethius und Anselm von Canterbury, gar Auseinandersetzungen mit deren Werken, in ihren Schriften selbstverständlich nicht . Die opera magna der Genannten überließ man getrost der zuständigen Philologie, der katholischen Theologie und Religionsphilosophie und anderen historischen Wissenschaften: sie waren zu dem herabgesunken, was Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie „toter Geist“ nannte.

Haag nun machte den bizarr anmutenden Versuch, einerseits der approbierten Mediaevistik in die Parade zu fahren, indem er, im Anschluss an die Arbeiten zur Ontologie und Gotteslehre seines Lehrers C. Nink, diesbezüglich eigene Intuitionen kritisch entwarf und andererseits der in den 50er und 60er Jahren in Deutschland herrschenden Heideggerei entschieden die Stirn bot: „Heidegger hat sowohl in der Studie über ‚Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus’ (Thomas von Erfurt), Tübingen, 1916, wie in allen späteren Arbeiten verschwiegen, dass es der Skotistischen Metaphysik um die Entfaltung der ‚ontologischen’ Konstitution des Seienden geht, also um die Frage, worin das ‚Sein’ des Seienden bestehe. Das Pathos der ganzen Heideggerschen Philosophie stützt sich auf die falsche Voraussetzung, dass dieses Problem tatsächlich vergessen worden sei.“ (S.23/24 ‚Kritik der neueren Ontologie’)

Und: „Man muss die Heideggersche Fundamentalontologie als den Versuch bezeichnen, das Wissen einzuschränken, um für ein archaisches Denken Platz zu schaffen.“ (ibd. S.93 ‚Kritik der neueren Ontologie’)

Haags Denken unterwirft sich an jeder Stelle seiner Texte der Kärrnerarbeit des Begriffs. Seine knappe Studie „Zur Dialektik von Glauben und Wissen“ gibt auf wenigen Seiten einen Abriss abendländischer Theologiegeschichte von mittelalterlicher Heilsgewissheit des Aquinaten zu nachneuzeitlichen Gottesbildern bei Tillich, Ebeling, Rahner, Bultmann und Metz.

Die Meditation „Das Unwiederholbare“, eine dialektische Etüde zu Ehren Adornos 60. Geburtstag 1963, zeigt Haag als einen Meister der kleinen Form. Weit entfernt von bloßer Verbaldefinition und eloquenter Reformulierung philosophischer Gemeinplätze oder dem wohlfeilen Durchmustern philosophischer Archivalien und Phraseologien, sinnt er den dialektischen Bildern nach: „Das Unwiederholbare stellt sich dar als das eine Besondere, das keinem Allgemeinen subsumierbar ist, oder vielmehr als das, was entschwindet, wenn es unters Allgemeine befasst wird.“ (ibd. S.107)

Ontologie, Metaphysik und Dialektik, einst Fächer mit großer Autorität und Reichweite, sind heute Anachronismen und Außenseiter nicht nur innerhalb des akademischen Betriebs.

Das war vor fünfzig Jahren nicht anders als heute. Doch heute hält niemand mehr, wie einst Haag oder Adorno, der noch in den 60er Jahren über Metaphysik las, diesen vorgeblich stehen gebliebenen Uhren des Geistes die Treue.

Haags eigenes Außenseitertum war weniger spektakulär als angemessen. Dem akademischen Betrieb hatte er früh abgesagt, ohne darum einen Hüttenkult zu machen.

Die neuerliche Rezeption seiner Arbeiten bleibt jenem Denken aufgegeben, das dem Gebot, seine Zeit in Gedanken zu fassen, noch nicht abgeschworen hat, sondern jeder Mühe wert hält.

Ralf Frodermann X 2012