"Geschichte ist Müll.“
Henry Ford
„Ich glaube, es ist der entscheidende Gedanke zur Konstruktion der Geschichte, dass die Menschheit sich nicht etwa bloß, trotz der Irrationalitäten und Antagonismen, erhält, sondern dass sie sich durch den Antagonismus hindurch erhält.“
T. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. 6.Vorlesung.
(Vorlesungen Bd. 13 WS 1964/65. Frankfurt a M., 2001)
„Behielte tatsächlich das Pedestre, also der Ersatz der Erkenntnis durch das bloße Registrieren, Ordnen, Zusammenfassen von Fakten gegen die Elevation des Gedankens das letzte Wort, so wäre eigentlich Wahrheit selber chimärisch, so wäre eigentlich keine Wahrheit, - sondern Wahrheit wäre nichts anderes als die bloße praktikable Zusammenfassung und Anordnung eben des bloß Seienden.“
T. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme. 15.Vorlesung
(Vorlesungen Bd. 14 SS 1965. Frankfurt a. M., 1998
An der Geschichtstheke
Zu Doris Gerbers sogenannter analytischer Geschichtsmetaphysik und einigen ihrer Rezensenten
Um die einstmals kanonische Philosophie der Geschichte ist es seit langem schlecht bestellt. War „Geschichte“ erst bei Marx als „Abfolge von Klassenkämpfen“, bei Theodor Lessing als „Sinngebung des Sinnlosen“ und bei Günter Anders als „Antiquiertheit des Menschen“ unter die erkenntniskritischen Räder gekommen und ihrer akademischen Jungfernschaft endgültig verlustig gegangen, so sorgten in der Bundesrepublik zum Beispiel Wilhelm Schapp („Philosophie der Geschichten“, 1959), Odo Marquard („Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“, 1973) und Karl Acham („Analytische Geschichtsphilosophie“, 1974) für eine vorläufige, zuweilen durchaus negative Wiederherstellung ihrer akademischen Satisfaktionsfähigkeit, freilich auf Kosten einer Gültigkeit, die sie längst verloren hatte, war doch Geschichtsphilosophie längst zu dem geworden, was Hegel einst „toter Geist“ genannt hatte. In Frankreich war man zur gleichen Zeit dazu übergegangen, die Gegenwart zum posthistoire zu erklären und mittels solcher Distinktion ein wenig später populäres „Ende der Geschichte“ zu präludieren.
Über die Konstitutionsbedingungen historiographischen Forschens und Schreibens legte sich die Geschichtswissenschaft ohnehin seit den Zeiten des frühen Historismus unter dem Begriff „Historik“ selbst Zeugnis ab. Genuin philosophische Ingredienzien waren in aller Regel nicht gefragt. Und wie hätte man sich auch etwa die Rezeption des kantischen Geschichtsoptimismus oder der geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins durch einen geschichtswissenschaftlichen Betrieb vorzustellen, dessen Diskurse zwischen National-, Heils- und Weltgeschichte, Realismus und Narratologie, Deutungshoheiten und Positivismus, „Geschichte der Sieger“ und „Geschichte von unten“ etc. oszillierten.
Doris Gerber legt mit ihrer überarbeiteten Tübinger Habilitationsschrift „Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung“ (Frankfurt a.M., 2012) einen Beitrag zu einer Debatte vor, die es offenbar nur zum Zweck ihrer Habilitation gibt und die man deshalb als ephemer bezeichnen kann. (Applikationen handlungstheoretischer Paradigmen auf die Geschichtsschreibung; Antinomien kollektiven Handelns; Intentionalität als Quasi- Universalie bzw. historiographisches Dispositionsschema). Das muss zu Konfusionen führen, insbesondere unter Rezensenten.
Vier von ihnen bieten im Rahmen einer „Mehrfachbesprechung“ ihres Buches in der jüngsten Ausgabe des Online-Rezensionsorgans der Geschichtswissenschaft, sehepunkte (13 2013 Nr.6) einen fulminanten Stoß heißer Luft. Einer zieht gegen Ende seiner Einlassungen etwa das erstaunliche, immerhin gender- politisch korrekte Allerweltsfazit: „Es ist dringend Zeit, Historiker/innen, Sozialwissenschaftler/innen und Philosoph/innen miteinander ins direkte (sic!) Gespräch zu bringen.“ „Am besten auf einem Betriebsausflug bei Pils und Schnaps!“, möchte der Picknickfreund nach bald einhundert Jahren Sirenengesang „Interdisziplinarität“ hinzufügen.
Ein anderer: „Das ‚Handeln’ der Akteure in der Praxistheorie ist ein bewusstes, aber nicht zwingend bewusst gemachtes Steuern kontinuierlicher Praktiken, denen ein komplexes Motivationsmuster unterliegt und die notwendig einen sozialen Kontext implizieren.“ Und- gleichsam als abschließende Fangschussklimax: „Aber empirische Geschichtsschreibung ist nicht Doris Gerbers Referenzpunkt. Sie entwickelt ihre Argumentation ganz aus den Schlüssen einer analytischen Philosophie. Das bleibt hermetisch. Vielleicht ist es doch nicht ratsam, die erkenntnistheoretische Debatte in der Geschichtswissenschaft den Philosophen zu überlassen.“
Eine dritte, narratologisch inspirierte Rezensentin, die auf das von Projektion und Interesse geleitete Moment aller und eben auch der historischen Erkenntnis hinweist, gibt ein Beispiel,. das offenbar die Reichweite Gerbers intentionalistischen Konzepts verdeutlichen soll:
„Wenn ich nach dem Salz greife und dabei versehentlich ein Glas Rotwein umwerfe, so tue ich das im Zweifel unabsichtlich, aber eben nicht absichtslos. Dass ich nach dem Salz gegriffen habe, ist somit die Erklärung für mein Umwerfen des Rotweinglases!“ Wenn das der Ober wüsste!
Ein vierter Rezensent schließlich verblüfft mit Gerbers Rekurs auf McTaggarts berühmten Aufsatz THE UNREALITY OF TIME (MIND: A Quarterly Review of Psychology and Philosophy 17(!) 1908) – einem anachronistischen Kommentar zu Prousts Recherche – und zitiert andächtig ihre gefiederten Worte:
„"Wir erfahren, wenn wir Zeit erfahren, nicht Zeit an sich, sondern Ereignisse in der Zeit."
Zum Schluss seiner Darlegungen wird’s liturgisch:
„Doris Gerber geht in ihrer Analyse vom handelnden Subjekt aus. "Die Möglichkeiten, die Geschichten haben, sind die Möglichkeiten, die ihre Subjekte haben." (296) Deren Intentionalität sucht sie auch in den sozialen Strukturen auf. Kollektive Phänomene und Intentionalität gegeneinander zu stellen, hält sie für einen schweren theoretischen Fehler. Er komme der "praktischen Neigung" der Menschen entgegen, sich aus der Verantwortung für die Geschichte "davonzustehlen" (297). Das wird in dem Buch nicht weiter ausgeführt. Es steht als Feststellung an dessen Ende. Doch verbindet man diesen Schluss mit der Eingangswidmung an ihren Vater, "der zeitversetzt / an einem Krieg zerbrach / den er niemandem / verzeihen konnte", so wird deutlich: diese analytische Metaphysik der Geschichte wirbt, die subjektive Verantwortung für das Geschehene anzunehmen. Der Mensch ist das Subjekt der Geschichte, nicht von ihm abgelöste Strukturen. Es stünde dem Fach Geschichtswissenschaft gut an, sich mit diesem geschichtsphilosophischen Werk gründlich auseinandersetzen.“
Was es heißen soll, „zeitversetzt an einem Krieg zu zerbrechen“, mögen Geschichtsphilosoph/Innen der Zukunft eruieren. Das Verzeihen aber ist seit Vladimir Jankelevitchs Schmerzrede von 1971 – Pardonner? – offenbar wieder zur deutschen Domäne geworden. Nicht zuletzt dank einer Geschichtswissenschaft, deren Beitrag zur ars obliviendi heute fast so bedeutend wie überflüssig ist.
Doris Gerber hat der Geschichtswissenschaft das hölzerne Eisen einer „analytischen Metaphysik der Geschichte“ um den Hals gelegt. Möge sie daran nicht ersticken!
PS
Dass weder Frau Gerber noch ihre Rezensenten Aspekte erkenntnistheoretischer oder – horibile dictu!- materialistischer Kritik in ihre kalkulierten Streifzüge ziehen, ist wohl ebenso sehr einer Art habitueller Athaumasie geschuldet, wie sie heute allenthalben in den Humaniora üblich ist, wie einem Distinktionsbedürfnis, das noch den magersten Erkenntniszielen, nach Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung, als Vehikel dient.
Dagegen sei an ein Beispiel aktueller Denkformkritik, einer ganz anderen als der meta- historischen Sphäre entstammend, an dieser Stelle wenigstens erinnert:
„Konstitutiv für objektive Formen sind keine Transzendentalien, wie Sartre sie versteht, sondern vielmehr umgekehrt: Die für die bürgerliche Gesellschaft zentralen Kategorien Vernunft, Wissenschaftlichkeit, gesellschaftliche Freiheit sowie Gleichheit, Staat, Recht und Politik – bis hin zu den Kategorien der Macht, der Kultur wie der Ethik und des Ich-Bewußtseins – generieren ihre besondere Form aus der sich im Äquivalententausch generierenden allgemeinen Objektivität, und gestalten von dort aus die Existenz der Subjekte, von dort aus deren Formen, Freiheit zu negieren; wohlgemerkt, nicht die Freiheit ‘als solche‘. Indem die Objektivität sich derartig in den Subjekten verankert, machen diese sich selbst zu Objekten; nicht masochistisch für andere Subjekte, wie Sartre ausführt, sondern – in historisch spezifischer Erfüllung des Lust- also: psychologischen, relativen Realitätsprinzips – für das Kapital; sie werden selbst Momente seiner Objektivität; was sich sprachlich darin ausdrückt, daß, wenn von Menschen in dieser Gesellschaft die Rede ist, allein noch über deren Subjektivität gesprochen wird, was heißt: Mensch und Natur sind in die gleiche Form gebracht. Der Unterschied zwischen Mensch und Natur reduziert sich auf einen bloß perspektivischen.“
(Manfred Dahlmann: Freiheit und Souveränität. Kritik der Existenzphilosophie Jean Paul Sartres. Freiburg i. Br., 2013)
Ralf Frodermann VI 2013