Sommertagebuch 2015 (Martha's Vineyard)

16. August

Morgen reisen wir ab. Zurück in die pädaogische Tretmühle. Nach Tagen der Ruhe und Erquickung fühle ich mich so weit wiederhergestellt, so daß ich nachher mit gedoppelter Aufmerksamkeit zu dem eigentlichen Zweck meines Daseins zurückkehren, d. h. ein tüchtiges Kammrad in der Walkmühle des Staats sein und (ich bleibe in der Metapher) haspeln und mich trillen lassen kann. (nach E. T. Hoffmann, Kreisleriana)

"Auf einen Schelm anderthalb", sagte gestern ein Hotelgast anerkennend und in akzentfreiem Hochdeutsch zu mir, nachdem ich aus Bernardino Telesios Abhandlung "De mari" von 1570 Auszüge in englischer Sprache vorgetragen hatte. Der Herr stellte sich als Leiter der örtlichen Feuerwehr vor und am Ende des Abends, den wir bald in zutraulicher Stimmung vergrünschnäbelten, verabschiedete ich mich mit einem freundlichen 'Gut Schlauch!'.

15. August

Gesellschaftsspiele im Hotel. Beschreiben Sie eine Farbe, die wir erraten müssen. Mein Seufzer: Wer mit Goethe übereinstimmt, findet, Goethe habe die Natur der Farbe richtig erkannt. Und Natur ist hier nicht, was aus Experimenten hervorgeht, sondern sie liegt im Begriff der Farbe. Wittgenstein.

Über das "Sich behaupten" - aus Franz Grillparzers Tagebuch auf der Reise nach Deutschland (21. August 1826):

Komisch war anzusehen, wie eine Station vor Iglau der Schmied des Ortes den Kondukteur auf den Bruch der Achse aufmerksam machte. Der Mann hatte auf eine fast unbegreifliche Weise das am unteren Teile der Achse befindliche Gebrechen im Vorbeigehen sogleich bemerkt. Kaum aber hatte er es ausgesprochen, als alles über ihn herfiel, ihn mit Schimpfworten überhäufte, seine angebotenen Dienste zurückwies, und doch war die Achse wirklich gebrochen und wir waren ihm eher Dank schuldig. Ich erkundigte mich und erfuhr nun, daß der Mann, wie gesagt, Schmied des Ortes, und wohl oft ohne Arbeit, sich ein eigenes Geschäft daraus mache, den ankommenden Wagen aufzulauern und den Leuten die gute Laune durch Entdeckung eines Gebrechens an denselben zu verleiden. Daher ist der Mann bekannt und verhaßt. Niemand läßt etwas bei ihm reparieren, sondern man fährt aus Abgunst lieber mit Gefahr eine Station weiter, und doch setzt der Schmied sein odiöses Geschäft immer fort.

Ich bewunderte, wie ruhig er fortging, wie er auf alle Schmähungen nicht ein Wort erwiderte, als ob die anderen ein Recht hätten, sie ihm zu sagen. Er souteniert wenigstens seinen Charakter,

14. August

Neue Hiobspost trifft heute in Form eines voluminösen Buchpakets ein: Georg Pfleiderer, Peter Seele (Hrsg.): Kapitalismus - eine Religion in der Krise I. Grundprobleme von Risiko, Vetrauen, Schuld. Baden Baden, 2013. Und Band II: Kapitalismus - eine Religion in der Krise II. Aspekte von Risiko, Vertrauen, Schuld. Hrsg.: Pfleiderer, Seele, Harald Matern. Baden Baden, 2015. Man bittet eilig um Besprechung.

Pfaffen, Rechtsverdreher und Kulturwissenschaftler üben sich in verkürzter Kapitalismuskritik! Sehe ich prima vista! - Ulrich Johannes Schneiders Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert (Hamburg, 1999) rezensiere ich seit 1999. Nachfragen sind Gott sei Dank irgendwann im Sande verlaufen. - Wann sehe ich den Sand am Strand wieder?!

13. August

Nervensägen jetzt im Doppelpack! Neben Prof. Napoleon Solo ist nun auch ein gewisser Dr. Daniel Pierce an der Säge tätig. Versuche, die beiden Leuchten auf Abstand zu halten, schlugen mehrfach fehl. Habe zum Fangschuss ausgeholt, indem ich beide zu einer Privatlesung von Johann Gottlieb Schummels

    • Uebersetzer-Bibliothek zum Gebrauche der Uebersetzer, Schulmänner und Liebhaber der alten Litteratur. (Wittenberg und Zerbst 1774)

einlud. Beide nahmen Einladung an! Parbleu!!

12. August

Prof. Napoleon Solo für einige Tage unser Gast. Dieser Philologe ist eine wahre Dechiffrierfabrik und Dampfmaschine. Machte gesprächsweise viel Aufhebens um 'Scheinprobleme' und den traurigen Umstand, dass nur noch Winkelgelehrte aus Tarsus, wie er sich ausdrückte, Belletristik läsen und rezensierten. - Ein wenig penetrant, der Mann. Erinnerte an einen nicht vollständig gewandelten Saulus.

11. August

Georg Heym

Die Professoren

Zu vieren sitzen sie am grünen Tische,

Verschanzt in seines Daches hohe Kanten.

Kahlköpfig hocken sie in den Folianten,

Wie auf dem Aas die alten Tintenfische.

Manchmal erscheinen Hände, die bedreckten

Mit Tintenschwärze. Ihre Lippen fliegen

Oft lautlos auf. Und ihre Zungen wiegen

Wie rote Rüssel über den Pandekten.

Sie scheinen manchmal ferne zu verschwimmen,

Wie Schatten in der weißgetünchten Wand.

Dann klingen wie von weitem ihre Stimmen.

Doch plötzlich wächst ihr Maul. Ein weißer Sturm

Von Geifer. Stille dann. Und auf dem Rand

Wiegt sich der Paragraph, ein grüner Wurm.

10. August

Die Rede eines Gelehrten an eine Gesellschaft Gelehrter aus dem Jahr 1776 von Johann Anton Leisewitz sorgte für große Heiterkeit beim Lunch. Inmitten des multiperspektivischen Unsinns dieser Zeit ist der zwanglose Zwang, der denn immer doch ein wenig von übertriebenen culture programs unweit der Hotelbar ausgeht, eine willkommene Wohltat.

9. August

heute muß man

darauf gefaßt sein

für NICHTS

zu

STERBEN

die Gefängnisse und

Irrenanstalten

sind

VOLL

aber es herrscht

keine PANIK (aus Charles Bukowkis Gedicht Nackt bei 33 Grad)

Gestern den Tag über Petanque gespielt. Das Weh ist in Form der Hitze angekommen wie eine in Kindsnöten, vgl. Micha 4,9.

7. August

Our hands are hot and raw with the stones we have laid, We have built a tower of stone high into the sky. We have built a city of towers. Our hands are light, they are singing with emptiness. Our souls are light. They have shaken a burden of hours. . . . What did we build it for? Was it all a dream? . . . Ghostly above us in lamplight the towers gleam . . . And after a while they will fall to dust and rain; Or else we will tear them down with impatient hands; And hew rock out of the earth, and build them again.


Conrad Aiken, The House of Dust / A Symphony (Schluß)

6. August

Zum antithetischen Formprinzip der Sprüche Salomonis gestern in kleiner Runde. - "Auch jeder Gang in die Kneipe ist eine Flucht aus der Sprachlosigkeit. Insofern hat die Kneipe den minimalen Wiedererkennungswert einer verblaßten Utopie." (Klaus Laermann 1974)

Heute Abend verdammte Vidoekonferenz! Habe unter den Titel Faire Verarsche einen kurzen Beitrag (Input-Referat) zur Geschichte der sozialen Marktwirtschaft angekündigt. Werde frei sprechen.

5. August

Mir träumte vergangene Nacht von einem endlosen Tisch voller Gloschen verschiedenster Größen. Man bedeutete mir (aus irgendeinem Traum-Off), dass es sich um unzählige Diskurse handele, die unter den Gloschen haltbar gehalten würden. Einige hob ich an und empfand im Traum, was ich sonst niemals im Traum empfand: bestialischen Gestank. Musik ertönte, aus Der Barbier von Bagdad. Alles schien jetzt klar. Ich meinte, den Stein von Rosette meines Lebens gefunden zu haben.

4. August

"Wir leben immer noch - man muß es ständig wiederholen - in einer Mentalität aus einer Zeit vor Voltaire." Roland Barthes, Mythen des Alltags (Bichon bei den Negern).

3. August

"Ich richte mich auf eine längere Restaurationsepoche ein, deren Ende ich nicht mehr erleben werde." Walter Markov an Walter Grab, 22. März 1990. Markov spricht im Zusammenhang der Wende von 1989 von 'Vendee'. Das nenne ich Kritische Praxis.

2. August

Gestern Abend instruktives Gespräch über Alfred Seidels Bewußtsein als Verhängnis (1927).

Glück und Hoheit, alles ist verschwunden,

Nur die Wunde für den Glauben bleibt. (Goethe)

Geriet über den Begriff der Lauterkeit in Verlegenheit.

31. Juli

Bockwurst Gastlehrstuhl WS 2015/2016 wird besetzt! Auf der Publikationsliste einer Kandidatin lese ich "Poetik des Irrläufers". Diese Internetphilologin ist meine Favoritin. ("Geistige Apraxie.")

Eines alten Lehrers Stimme im Traum

Durch einen Traum der Straße oder gar

Durch eine Straße im Traum . . . . . . . .

Von fern kam Deine Stimme wunderbar.

Ich hörte kaum, groß zogen durch den Raum

Die goldenen Begräbnisse, Turm und Baum

Traten im Himmel ein — und tiefer Schaum

Von Winter, Blum’ und Damen regnete mich ein.

In einem Traum der Straße hörte ich Dich sein,

Im Straßentraum die Stimme aus begrabnem Jahr,

Die Stimme, die einmal in einer alten Wohnung war.

Ich hörte Deine Stimm’ und wie Du heißt,

Und dachte an des Vaters Gestalt,

Der mit Dir sprach, und dachte an der Ahne Geist.

Die unter Sternen reisen, mild und kalt,

Und daß auch mich der Wind in Kreise reißt,

Im Traum der Straße, die mein Vater vor mir wallt,

Im Straßentraum dacht ich an einen Bart,

An eine Hand, vereist und brauner Art.

An ungeheure Worte dacht ich: war und alt.

Im Straßentraum, da Gold vorüberfuhr,

Und liebend ein Sonntagswind,

Von fern erfuhr ich Deine Spur,

Und drehte mich nicht um, vom Träumen blind.

Ich weiß nicht, wo Du wandelst, weiß und nicht geschwind.

Und ob Du bist, oder im Traume nur.

Doch von den Kerzen lind, die in mir sind,

Hub eine in der Kirche an und ist entbrannt,

Und ein Gefühl, verloren und noch unbenannt,

Begann, o Straßentraum, im Wind unterm Azur.

Franz Werfel

30. Juli

Gestern mit der Übersetzung von Matthew Arnolds Higher Schools and Universities in Germany (1874) begonnen. Kleine Fingerübung; vielleicht arrangieren wir einen Privatdruck.

29. Juli

Nimmer fand noch, welcher die Erde betrat,

sichres Gottwahrzeichen, des werdenden Schicksals treuliches Pfand:

sondern zukunftsratend sind wir augenlos. (Pindar, 12. Olympische Ode)

Philosoph des Tages - Prof. Henrich - geistreichelt tiefschürfend mit naseweisem Büttelinterviewer (edition faust 2015)//FAZ-Lorenz-Jäger heute begeistert.

Heute auch Segeltörn mit Porf. Raymond Jerningham Jebb. Meine Verabredungen bringen mich noch einmal um!

28. Juli

Das größte von allen Übeln aber ist den meisten Menschen in der Seele eingeboren, das jedermann sich selbst verzeiht und daher nicht auf Mittel sinnt, ihm zu entrinnen. Es ist das, was man mit der Bezeichnung meint, daß jeder Mensch von Natur sich selbst lieb und wert ist und daß es in der Ordnung ist, daß er so sein muß. Plato (Nomoi 731d)

27. Juli

David Schneiders Beitrag Furcht vor permanenter Sexualisierung in der Zeitschrift BAHAMAS (Heft 71 Sommer 2015 S.55ff.) ist ein großartiger Aufklärungstext, der mich an einer Stelle an manche meiner Studenten denken ließ; an die wenigen nämlich, die seiner schlagenden Diagnose nicht entsprechen:

Das Schulkind ist zum sozialpädagogisch betreuten Fall geworden, dem vom Bündnis aus Eltern und Lehrern jeder Eigensinn ausgetrieben wird, und das irgendwann so kaputt ist, dass es gemeinsam mit Lehrern und Eltern für die Umwelt und gegen Amerika demonstriert, während die herrschende praktische Bildungspolitik und Unterrichtsgestaltung darauf abzielt, aus ihm einen flexiblen Bürotrottel zu machen. (ibid. S.39)

Kollege Auchjauche belästigt mich auch (!) wieder im Urlaub! Der arme Narr bittet mich um den Abdruck seiner letzten Universitätsrede über Nazi-Netzwerker in unserem Jahrbuch. Unter anderem will er herausgefunden (Ich habe eruiert...) haben, dass der Rhetoriker Walter Jens dem Drogenopfer Bernward Vesper einmal aus schlechten Gründen einen Gefallen tat -

Eines Tages las ich in einem reaktionären Blatt einen sehr unsachlichen Angriff auf Jens, und ich schrieb eine Entgegnung und schickte sie an die rechtsliberale Wochenzeitung DIE ZEIT, die sich ein linksliberales Feuilleton leistete. Wenige Tage später lag auf meinem Kellerzimmertisch ein Brief von Jens, er lud mich ein, meinen Artikel mit ihm durchzugehen, er werde sich freuen, mich kennenzulernen etc. Ein Zufall wie andere auch. Für mich hatte dieser Kontakt aber zur Folge, daß ich als Stipendiat in die Studienstiftung aufgenommen wurde und für einige Jahre wenigstens die dringendsten Geldsorgen loswurde. (B.V. Die Reise 17. Auflage Mai 1980 S. 569) -

"Was Vesper für Zufall hielt, war alles andere als das, vielmehr Ergebnis einer nassforschen Intervention, und dass man auf Unsachlichkeiten nicht mit 'Entgegnungen' - war nicht Prof. Jens von Berufs wegen auch 'Entgegner'? - reagiert, sondern überhaupt nicht, hätte der Mann wissen müssen, im übrigen sind wir herausgeberseits nicht an der Darstellung neurotisch gestörter Eitler mit Nazihintergrund interessiert", kabelte ich eben Auchjauche. Der Mann lässt mich jetzt hoffentlich meine Ferien genießen!

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Unter dem Titel „Largesse und Weltflucht“ führt Bobby Holunder sein diesjähriges Sommertagebuch. Vor wenigen Stunden ist der Rektor der Universität Bockwurst mit seiner Gattin Richtung USA aufgebrochen, um sich in St.Edgartown auf der Insel Martha's Vineyard einige Wochen von den strapaziösen Monaten, die hinter ihm liegen, zu erholen.

„Auf meinem Nachttisch werden nur zwei Bücher liegen: Karl Auschs Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption und ein Band mit Gedichten von Swinburne (Ich gebiete euch, nur zu sein, ich brauche keine Gebete). Ich hoffe, mit den Dreharbeiten zur Verfilmung von Goethes Gedicht Das Tagebuch im kommenden Jahr auf Martha's Vineyard beginnen zu können. Jetzt will ich mir schon mal alles ansehen und verbinde auf diese Weise wieder einmal das Angenehme mit dem Angenehmen.“

Universität Bockwurst 26. Juli 2015