Exordium (I - X)

II

Geschichtsphilosophisches Taschenspiel, post mortem

Nähme Geschichtsphilosophie heute noch den Rang einer wissenschaftlichen Disziplin oder überhaupt noch irgendeinen Rang ein, einer der ihren verfiele wohl auf den Gedanken, die Weltgeschichte habe einzig stattgehabt, um in Hollywood und an weniger prominenten Orten filmisch verwurstet zu werden.

Die präformierte Perspektive der Filmindustrie kondensierte die Historie auf eine Abfolge von Spektakeln, deren vermeintlich spektakulärsten sie sich vorzunehmen pflegte.

Sie hat Geschichtsphilosophie als Agentur der „Sinngebung des Sinnlosen“ (Theodor Lessing) abgelöst und cineastisch durch in aller Regel überwältigendere Schocks als die der Erkenntnis oder Divination substituiert.

Mit der Geschichtsphilosophie und ihren Schwierigkeiten hörte indessen die Geschichte nicht auf. Ihr schrieb jene, schon halb delirierend, noch das Epitaph ins Logbuch:

Misst du auch alle Räume aus,

Und macht dir keiner den Garaus:

Kannst doch nicht alle Bücher lesen,

Kannst doch nicht alle Filme sehn;

Drum lerne besser zu versteh’n:

Auch du wirst sein, als wärst du nicht gewesen.

Ralf Frodermann II 2013

III

Snob, talentlos

Über einen Charakter ohne Maske

War der Snob einmal als eine Art reflektierter Narziss zu bestimmen, so kommt man seiner begrifflichen Bestimmung heute am nächsten, indem man ihn als nackten, als bloßen Narren zu fassen sucht.

Aus seiner Dürftigkeit macht er so wenig ein Hehl wie aus seinem Mitteilungsdrang. Er liebt es nicht nur, sich als ganz und gar durchschaubar zu geben, sondern er ist es in der Tat.

Die manische und professionelle Kaltblütigkeit, mit der große Schriftsteller zu allen Zeiten menschliche Niedertracht ihren Vivisektionen unterzogen, ist hier fehl am Platz. Denn ganz zwanglos und ohne alle Küchenpsychologie stellt sich nahezu prima vista der Eindruck exaltiertester Dummheit ein.

Ihm selbst teilt sich dieser Eindruck auch mit; freilich auf die Weise, wie sich ein Nebelhorn dem Schiffbrüchigen mitteilt: als sicheres Zeichen nahender Rettung.

Zuweilen geht er, voller Ehrerbietung, doch einmal unter, ohne deshalb schon zum Gespött zu werden.

Ralf Frodermann II 2013

IV

„Da er eben einmal eine solche Lehrstunde hielt, fügte es sich, daß ein Nachtwächter, weil er ein so gar grosses Geschrey hörte, endlich stehn blieb. Der Mann wuste anfangs gar nicht, woran er war. Denn ob er gleich das, was gesagt wurde, recht gut verstand, so glaubte er doch lange Zeit, er irte sich. Denn er konte sich nicht vorstellen, daß das wirklich die Meinung wäre, was er nur aus Unerfahrenheit und Gutherzigkeit nicht dafür hielt.“

Friedrich Gottlieb Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774)

Schildbücher

Unter dem Titel „Der Amazon-Studenten-Dienst erwartet euch“ lamentiert in der FAZ 13.Februar 2013 der Heidelberger Germanist Roland Reuss über den allgemeinen Niedergang des deutschen Buchwesens. Als ob es nicht einen Glücksfall darstellte, dass dank AMAZON und anderen Distributoren der reale Buchhandel endlich ad patres geht!

Um reale Buchhandlungen, traditionell Sammelbecken von alten Jungfern, Sonderlingen, Besserwissern, verhinderten Schriftstellern, Berufsempfindsamen und anderen Grattlern, Krawuffkes und Hilfsverkäufern ist es keineswegs so schade, wie Reuss offenbar meint.

Und das von ihm monierte Verfahren, wonach die Heidelberger Universitätsbibliothek direktemang ihre Leserschaft auf AMAZON orientiert, ist eher als vorzügliche Serviceleistung zu werten denn als bibliomanisches Manko.

Die FAZ aber gibt in ihrer Ausgabe vom 13. Februar nicht nur den professoralen Idiosynkrasien eines verdienten Philologen Raum, sondern weist auch, gleichsam zum Ausgleich, darauf hin, dass endlich eine Ausgabe der Werke Barthold Heinrich Brockes‘ erscheint; Jürgen Rathje hat eben den ersten Band kommentiert und herausgegeben.

Dass man den bei AMAZON und anderswo bestellen kann, wird weder seinen Absatz befördern noch dem grassierenden Analphabetismus in der Bundesrepublik Einhalt gebieten.

Ist es nicht ganz unerheblich, ob einer keine Briefe oder keine e-mails erhält, Bücher nicht im Buchladen oder nicht im Internethandel bestellt? Oder ist etwa auch dies eine Geschmacksfrage, über die sich nicht streiten lässt? Mit anderen Worten: Graeca sunt, non leguntur/Ist ein Buch, wird nicht gelesen.

Ralf Frodermann II 2013

V

Dr. Shit in memoriam

Anachronismus Migration

„Städtetag besorgt über Armutseinwanderung“

FAZ 15. Februar 2013

Man muss kein Ugaritist oder auf andere Art weltabgewandt sein, um die aktuellen Diskussionen um das prospektive Ende der Armutseinwanderung in der Bundesrepublik mit vertrautem Befremden zu Kenntnis zu nehmen.

Neuprofilierung, Neukalibrierung der Klassengesellschaft waren, unter anderen, seit Gatstarbeitertagen die Folgen der Einwanderung des arbeitssuchenden, zumeist agrarischen Lumpenproletariats, der sozial Untergeordneten aus Ländern, die vielen ihrer Staatsbürger weder eine materielle Lebensgrundlage noch auch nur eine Perspektive auf eine solche zu bieten vermochten, so dass sie sich oft zur Auswanderung gezwungen sahen.

Als Arbeitsmigranten ohne formale Berufsqualifikationen in großer Zahl noch vom Produktionsprozess in Deutschland absorbiert werden konnten, existierte ihnen gegenüber keine spezifisch soziale Wahrnehmung. Armutsauswanderung war ohnehin vor und nach den Tagen irischer Amerikafahrer des 19. Jahrhunderts individual- ökonomischer Normalzustand in weiten Teilen der Welt.

Mit der seit Jahrzehnten erfolgenden Verschärfung der globalen Wirtschaftskrise, die mittlerweile den Wert der Ware Arbeitskraft prinzipiell in Frage gestellt hat, wurde auch Arbeitsmigration überflüssig; an ihre Stelle trat wieder die bare Armutsmigration.

Nach dem Muster von Brechts DREIGROSCHENROMAN kristallisiert sich die flexible Armutsavantgarde global entweder da, wo es sich noch zu betteln oder kriminell zu werden lohnt oder dort, wo staatliche Elendesverwaltung überhaupt noch in Kraft, d.h. wirksam ist.

Alle euphemistischen Reden zu den Segnungen der Migration, guten Glauben oder wider besseren Wissens geführt, ein perhorreszierter Fachkräftemangel und der bange Blick auf demographische Entwicklungen verbergen nicht, dass auch die Krise im ausfransenden Spätkapitalismus einer Logik des Zerfalls folgt.

Ihr krisenlogischer Slogan könnte in Deutschland, wo man schon immer Sinn für idealistische Häme hatte und Beschwörungsformeln als Denken auszugeben gewohnt ist, lauten:

„Bitte fragen Sie sich nicht, wie Sie hier vom Tellerwäscher zum Millionär werden können. Fragen Sie sich einfach: wie werde ich Tellerwäscher?!“

Ralf Frodermann II 2013

VIII

„Das, was als Nettoresultat sich jetzt ergeben wird, auch wenn wir neue Kredite bekommen, ist eine neue Welle von Arbeitslosigkeit und Bankrotten.“

(In, J .A. Schumpeter: Kleine Schriften, 1906 – 1934. Universitätsbibliothek Mainz, Rara 40 K 3428:

„ Bemerkungen über die gegenwärtige Lage“ Bonn, 20. Juli 1931)

Als das bis dato, hinsichtlich seiner Effektivität und Nachhaltigkeit, erfolgreichste ökonomische Konjunkturprogramm hatte sich der Nationalsozialismus erwiesen. Zynische Jesuiten und andere Saisondialektiker pflegten solche Vorgänge nach erfolgten Untergängen mit den Worten „bonum durch malum“ (dt. „der Zweck heiligt die Mittel“) auf den Begriff zu bringen. Zwar waren Wirtschaftswunder nach vielen Kriegen kurzfristig epidemisch gewesen, doch in Deutschland bestand nach 1945 gute Aussicht darauf, für mindestens hundert Jahre von Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Streiks verschont zu bleiben. Dies hat sich als einer jener Irrtümer erwiesen, an dem in Deutschland freilich noch nie einer irre geworden ist. Da Irrtümer keine Neuralgien sind, kann man gut mit ihnen leben.

Ernst Jünger zum Beispiel, Nationalsozialist avant la lettre, avancierte in der Bundesrepublik so gut zum rentenberechtigten Anarch mit Tagebuch wie gewöhnliche Parteimitglieder und Nahkampfspangenträger. Zwar hatte der zweite Weltkrieg so wenig aus ihm einen Schriftsteller gemacht wie der erste, doch als Instanz erlauchter Gewissenlosigkeit mit Streifschuss wurde er zur Försterikone der Bundesrepublik und Inbegriff überzeitlichen Dichtertums in nachseherischen Zeiten.

Die ehemals so erfolgreichen Finten, sich aus der Asche verjüngt zu erheben, von Proteus und Phönix flankiert, verfangen in Deutschland auch weiterhin so gut, weil sie hier, wo sie längst durchschaut und zu Aufklärungsmüll, den man trennt vom Eigentlichen, geworden sind, als die pursten Wahrheiten, die in dieser Welt zu haben sind, gelten. Der Rest ist Arbeit, die Krone menschlicher Schöpfung.

Ralf Frodermann II 2013

IX

Persistenz der Arbeit

„Arbeitslose einstellen? Bin ich verrückt? Bestatter holen sich ihre Leichen ja auch nicht vom Friedhof!“

PRODOMO (Heft 13 März 2010 S. 97)

Argumentum: Arbeit ist keine Lösung. Da Arbeit im Gegenteil ein Problem ist, gibt es zuständige Problemlösungsagenturen, die vornehmlich mit sich selbst beschäftigt sind, d. h. für Manifeste gegen die Arbeit, Arbeitsabschaffung und Abscheu gegen Arbeitspflicht weder etwas übrig haben noch zuständig sind. Kaum einer müsste zwar noch arbeiten oder so tun, als sei es nötig oder möglich, seinen Lebensunterhalt durch Lohnarbeit zu bestreiten, doch „nicht jedes Volk hat für milde Betrübnisse ein gleich zartes Herz“, wie Herder sagt, und zieht es daher vor, sich die Leviten der Arbeit, zum Zwecke des Überlebens eines ganz und gar weltlichen ungeglaubten Glaubens, immer von neuem und immer ab ovo lesen zu lassen.

Großraumsprücheklopfer zwischen Hertha bzw. dem seit seinem Tod vergessenen Heiner Müller („Hiroshima war die Rache für Auschwitz“) und Michel Houllebecq („Europa wird der Puff Asiens“) sind unter Arbeitsverwaltern gemeinhin verpönt. Hier wird Formalrecht bevorzugt, hier sind alle nur denkbaren Don Quichotterien aus Besserwisserei, Borniertheit und Angstlust zu Haus, die sämtlich denn doch immer wieder und denn doch vollmundig in paulinischer Barbarei gipfeln, deren Motto in zeitgenössischer Übertragung lautet: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht fasten, surfen, nörgeln und vögeln!

Ralf Frodermann II 2013

X

HAL in memoriam

20 Jahre Kampf der Plausibilitätskonzepte / Protokollsatzversuch

Im Sommer 1993 erschien in der amerikanischen Zeitschrift FOREIGN AFFAIRS ein Artikel des Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington unter dem Titel „Clash of Civilizations?“.

Wenige Jahre später war aus diesem Papier ein Buch geworden, dessen Titel ohne das Fragezeichen des vorangegangenen Zeitschriftenbeitrags auskam und dessen vermeintlicher Inhalt weltweit noch schneller verteufelt als gelesen war.

Insbesondere seine Analysen im Umfeld dessen, was er unter dem Begriff „Resurgenz des Islam“ zu fassen suchte, stießen weithin auf Ablehnung.

Sein Befund, wonach gerade die technische Intelligenz in muslimisch geprägten Gesellschaften eine spezifische Bereitschaft zu einer dogmatisch- orthodoxe Islamauffassung zeige, entging breiterer Wahrnehmung.

Die Konvergenz differenziertester Ingenieursintelligenz mit alten Spruchweisheiten aus heiligen und anderen esoterischen Büchern ist in westlichen Gesellschaften bis heute verbreitet. Eine Art dezenter Ignoranz hat dafür gesorgt, dass sich diese Koalition aus Obskurantismus und instrumenteller Computervernunft nicht über die Maßen herumspricht.

Denn wer wollte noch in ein Flugzeug steigen, dessen Entwickler und Monteure regelmäßige Besucher kultischer Frömmlersceancen, heiliger oder unheiliger Messen oder andere, sendungsbewusste Schicksalsgläubige gewesen sind?

Heute, da selbst Mord als Appendix oder Ausfluss privater und damit schützwürdiger spiritueller Ansichten gilt, vermutlich jeder.

Ralf Frodermann II 2013