„Zur Zeit sind keine Auszüge vorhanden“
Aus klammer Zeit
Armut und infolgedessen Mangel an Habseligkeiten aller Art lassen uns das Ableben eines lieben Verwandten oder Freundes als recht schicklichen Vorgang erscheinen.
Nimmt er doch nicht zuletzt auf diese Weise dem Gerede und elenden Gezeter, ja selbst einem ungnädigen Schicksal den Wind aus den Segeln, d.h. den Hammer aus den Händen.
Endlich muss er nicht mehr den ganzen Unsinn, den seine Lebensfahrt säumte, mit anhören. All das Geblöke von „Arbeit“, „Glück“ und „Schmied“, das keiner glaubt und alle glauben.
Will einer nur ein wenig vom Universalienproblem mit Walter Burley naschen, Stifter lesen, Shaw oder meinetwegen Casanova, will einer nur hin und wieder satt werden, zu einer Gavotte tanzen oder einem Weibsbild nicht unziemlich den Hof machen oder ihm gleich unter den Rock langen, dann ist’s schon aus mit ihm, hat er nicht zuvor seine Seele irgendeinem Tollhäusler verkauft, der die Macht hat, ihn zu einem Berufstrottel zu befördern.
Um die Codierungen der heute lebenden Menschheit auch nur in übersichtlichen und eher geläufigen Zusammenhängen – wie Kaffeebestellung, Kreditgesuch, Gunstwerbung - ohne größeren Zeitverlust dechiffrieren zu können, muss man eine Enigma- Maschine sein oder Geld haben. Weil die Armen und Toten keins haben, können sie nicht mitkommunizieren, sondern bilden bestenfalls das Hintergrundrauschen des gesellschaftlichen Gequakes.
Die Vulgärökonomie dieser Zeit baut ihre unzähligen Kanälchen um den Wertfetisch; vielfach vermitteltes Schachern, das Verwandeln von Dumping in Wucher, Lohndruck in Erpressung, Zeit in Geld usf. besorgt ihren Fortbestand.
Das Unbehagen am globalen Unsinn der Produktionsweise ist spürbarer geworden denn je. Um den schreienden Widerspruch zwischen den immerzu produzierten Reichtümern und dem zugleich immer herrschender werdenden Elend wenigstens zum Teil zu übertönen, bedarf die Lüge größter Megaphone und absurdester Sprachregelungen.
Sprachsoziologisch dem belächelten „Frauenversteher“ verwandt, der in einigen deutschen Landen auch als „Pflaumenstreichler“, zum Teil dialektal eingefärbt, verunglimpft oder auch „Weichei mit Halblatte“ gescholten wird, ist der, seit einer 2008 grassierenden und nicht enden wollenden Wirtschaftskrise, „Spätkapitalismusversteher“ (SKV) geläufig.
In der Regel verfügt er über eine oder mehrere Erbschaften, eine mäßige, aber stabile und belastbare Halbbildung und einen untrüglichen Sinn für jeweils aktuelle Sprechbausteine. Mit dieser Ausstattung akkomodiert er sich scheinbar zwanglos an alles und jeden, einem gesunden Augenpaar gleich, dessen Linsen unermüdlich Wunderwerke des Sehens vollbringen.
Seine Domäne ist die präzise Planung; sein klassifikatorischer Verstand taugt wenig zur eigenen Unterhaltung oder zur Unterhaltung anderer, dafür aber um so mehr zur fundierten Lügenkonstruktion. Bekanntlich nehmen Schamlosigkeit und Dreistigkeit des Lügners mit dem wachsenden Ausmaß seiner Lügen zu. Und ebenso bekanntlich spricht er irgendwann keine mehr aus, die er nicht auch glauben würde.
Wie der Koch, der dem kotzenden Gast darlegt, dass er das üble Gericht nicht nur gut zubereitet, sondern eben noch in seiner Küche selbst mit Genuss und ohne alle schädlichen Folgen verzehrt habe und nun so satt sei, dass er auf renitente Gäste gern verzichten könne.
Weil Tradition heute das bedeutet, was die Juristerei unter dem Begriff „Gehörverstoß“ versteht, lautet sein kategorischer Imperativ: Handle so, dass das Desaster, dem du dich verschreibst und von dem du ein Teil bist, jederzeit zur Grundlage und zum Prinzip allgemein anerkannten Rechtsbruchs werden kann.
Dieser Heilsbringer relativiert das verbrannte Essen so gut wie die Schrecken der Hölle. Denn gäbe es sie im Jenseits, er färbte sie dort sich und anderen so schön wie die diesseitige.
Nachschrift:
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGS ZEITUNG (9. Juni 2013) referiert Hanno Beck einen Artikel aus der American Economic Review 2013 103 (2), der die geradezu diätetische Wirkung der Sprachen traktiert.
„Wer deutsch spricht, raucht weniger, treibt mehr Sport und spart für die Zukunft“, heißt es da im Brustton des Vertreters für Kurzwaren. Begründung: Futur I durch Zeitadverb plus Präsens.-
Dass das schwarze Loch der Esoterik die Nationalökonomie erst aufsaugt und dann als linguistischen Gartenzwerg wieder ausspeit, musste noch erwiesen werden. Mit Keith Chens o.a. Artikel in einem renommierten Fachblatt für elaborierten Blödsinn ist es erwiesen.
Ralf Frodermann VI 2013