Agrostemma

Agrostemmae semen (Kornradesamen)

Verfasser

Kerstin Hoffmann-Bohm

Übersicht

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Gliederung

G Agrostemma

A Agrostemma githago L.

D Agrostemma Githago hom. HAB 34

D Agrostemma githago hom. HPUS 78

D Agrostemmae semen (Kornradesamen)

Synonyme

Semen Agrostemmae; Semen Githaginis

Definition der Droge

Getrocknete Samen.

Charakteristik

Stammpflanzen: Agrostemma githago L.

Ganzdroge: Aussehen. Samen schwarz, nierenförmig, 2,5 bis 3,5 mm lang, spitzwarzig [2], [8].

Inhaltsstoffe: Aromatische Aminosäuren. In reifen Samen nur 0,4 % Orcylalanin (2,4-Dihydroxy-6-methylphenylalanin), das im Embryo lokalisiert ist (Orcylalanin-Gehalt der Embryonen 1,5 %) [6], [7]. Samenöl. Die Samen enthalten ca. 5,8 % fettes Öl (Ethyletherextraktion), das u.a. gesättigte und ungesättigte Fettsäuren, Paraffinkohlenwasserstoffe und α-Spinosterol enthält [9]. Triterpensaponine. Die Samen enthalten ein Saponingemisch, das nach Hydrolyse Gypsogenin (= Githagenin, 3 β-Hydroxy-23-oxo-Δ12 -oleanen-28-Säure) als Hauptsapogenin und Quillajasäure (3β, 16α-Dihydroxy-23-oxo-Δ12-oleanen-28-Säure) als Nebensapogenin liefert. Als Hauptsaponin wurde aus dem Gemisch ein Gypsogenintetraglykosid, genannt Githagosid, isoliert (ca. 0,04 % Ausbeute, bez. auf die getrockneten Samen), dessen Struktur vollständig aufgeklärt werden konnte: 3-O-[β-D-Glucopyranosyl-(1→ 3Rham)-β-D-xylopyranosyl- (1→ 4 Rham)-α-L-rhamnopyranosyl-(1→ 2 Fuc)-β-D-fucopyranosyl]-3β-hydroxy-23-oxo-Δ12-oleanen-28-Säure [10].

Githagosid

Nebenglykoside mit Quillajasäure und den Zuckern D-Glucuronsäure und D-Galactose konnten aus dem Saponingemisch bisher nicht rein erhalten werden [10]. Um welche Verbindungen es sich bei den in der Literatur[5], [11]-[15] häufig erwähnten Saponinen Sapotoxin A, Githaginglykosid, Githaginglucosid, Githagin C35H54O11(Aglykon Githagenin = Gypsogenin) und Agrostemmasäure C35H54O10 handelt, ist ungeklärt.

Identitaet: Als Nachweis für die Anwesenheit von Kornradesamen in Mehl oder Brot werden folgende Reaktionen beschrieben: [14], [15] Nach Vermischen von 2 g verunreinigten Mehles mit Alkohol und Salzsäure (keine Angabe der Mengenverhältnisse), färbt sich der Überstand orangegelb. Kocht man das Mehl oder Brot mit verd. Natronlauge, so entsteht bei Anwesenheit von Kornradesamen eine fahlgelbe Farbe, die schnell in Kupferrot übergeht. Außerdem soll mit Kornrade verunreinigtes Brot bläulich sein [14].

Lagerung, Stabilität, Verwendung, u. a.

Gesetzliche Bestimmungen: Stark giftig ++ [11].

Wirkungen: Antimykotische Wirkung. Das aus den Samen isolierte Saponingemisch (s. → Inhaltsstoff) zeigt im Plättchentest gegenüber den Pilzen Trichoderma viride und Neurospora crassa schwache Hemmzonen (2 bzw. 6,5 mm); das rein isolierte Saponin Githagosidmethylester zeigt dabei überhaupt keine Aktivität [10]. Nähere Angaben fehlen. Hämolytische Wirkung. Die Grenzkonzentration für die hämolytische Wirkung des Saponingemisches aus dem Samen liegt bei 50 μg/mL; Githagosidmethylester ist dagegen selbst bei 500 μg/mL inaktiv [10]. Nähere Angaben fehlen.

Volkstümliche Anwendungen &

andere Anwendungsgebiete

Früher wurden Kornradesamen in der Volksmedizin bei Hautunreinheiten, Gastritis [19], Husten, gegen Würmer und zur Entwässerung angewendet (keine Angabe der Zubereitungsform) [8], [15]. Die Wirksamkeit der Droge bei den genannten Indikationen ist nicht belegt.

Tox. Inhaltsstoffe und Prinzip: Die Giftigkeit der Kornradesamen wurde bisher den Saponinen zugeschrieben [5],[11], [15], [16]. Es liegen derzeit weder ausreichende tierexperimentelle noch klinische Untersuchungen zur Bestätigung oder Widerlegung dieser These vor; die Aminosäure Orcylalanin stellt nicht das toxische Prinzip dar[17].

Acute Toxizität:

Mensch. Früher, als das Getreide noch nicht ausreichend gereinigt wurde und keine Herbizide zum Einsatz kamen, konnten z. T. erhebliche Mengen (bis zu 7 %) Kornradesamen in das Brotgetreide kommen. Da die toxischen Inhaltsstoffe durch Backen oder Kochen anscheinend nicht zerstört werden, waren Vergiftungen nach dem Verzehr von Brotwaren oder radehaltigem Kornkaffee relativ häufig. Heute dürften Vergiftungen in Ländern, in denen moderne Ackerbautechnik und maschinelle Saatgutreinigung stattfindet und die Pflanze allein dadurch fast ausgerottet ist, nur noch selten vorkommen. In Deutschland darf der Gehalt an Kornradesamen im Getreide 0,1 % nicht übersteigen[2], [5], [12], [14]. Von 100%igem Rademehl (Semen Githaginis pulv.) gelten 2 bis 3 g für den Menschen als unschädlich, 3 bis 5 g dagegen schon als toxisch und 5 g als letal. Vergiftungen sollen besonders dann zu befürchten sein, wenn bei Einnahme der Samen eine Enteritis besteht, da dies die Resorption der toxischen Inhaltsstoffe begünstigt [5], [14], [18]. Als akute Vergiftungserscheinungen werden allgemein beschrieben: Bei örtlicher Einwirkung des Samenpulverstaubes: Schleimhautreizungen, vor allem Niesen, Tränenfluß, Bindehautentzündung, Brennen und Kratzen in Mund- und Rachenraum, Speichelfluß, Aufstoßen, Übelkeit, Erbrechen, Koliken und Diarrhöen. Bei Einnahme größerer Mengen, d. h. 3 bis 5 g Samen, Kopfschmerzen, Schwindel, Unruhe, Delirien, Kreislaufstörungen (beschleunigter, kleiner Puls, Schock), eventuell Krämpfe und in schweren Fällen Tod durch Atemlähmung [5], [15]. Ein Bericht über die Vergiftung von fünf Menschen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren nach Einnahme von 3 bis 4 g Kornradesamen schildert folgende Symptome: [14]Kratzen im Hals, Übelkeit, Dyspepsie, Bronchitis, Kopfschmerzen und Herzstörungen. Nach dem Genuß von geröstetem Kornkaffee (keine Mengenangaben) traten bei einigen Personen gastroenterale Störungen, Schwindel, heiße Haut, Unruhe, Krämpfe und Koma auf [14].

Tier. Die Empfindlichkeit einzelner Species gegenüber den toxischen Inhaltsstoffen der Kornradesamen scheint sehr unterschiedlich und zudem noch von vorherbestehenden Schleimhautschädigungen abhängig zu sein [14], [19]. Empfindlich gegenüber Kornradesamen sollen Schweine, Pferde, Rinder, Enten, Gänse, Hühner, Kaninchen und Silberfüchse sein [8], [11], [14], [20], [21], [22]. Bei Hühnern werden ab einer Dosis von 3 bis 5 g gemahlenen Samen/kg KG folgende toxischen Symptome beobachtet: Vermindertes Gewicht, Apathie, stumpfes Gefieder, Diarrhöe und Läsionen unter der Zunge [21]. Die Vergiftung mit Kornradesamen soll bei Rindern Freßunlust, Schlingbeschwerden, Speicheln, aussetzendes Wiederkäuen, Erbrechen, Koliken, absinkende Körpertemperatur, Lähmung, Herzschwäche und schließlich den Tod bewirken [11], [16]. Weiterhin soll es Vergiftungsfälle mit Kornradesamen bei Katzen, Hunden, Fröschen, Ziegen, Schafen, Kanarienvögeln und Tauben geben [5], [14], [15]. Konkrete Berichte hierzu finden sich in der Literatur allerdings nicht. In einer Toxizitätsprüfung an Ratten wird für das Saponin aus Kornradesamen (vermutlich ist das Saponingemisch gemeint – s. → Inhaltsstoffe) folgendes Vergiftungsbild beobachtet: Nach i.v. Gabe von 1 mg Saponin/kg KG kommt es bei Ratten zu schweren kapillartoxischen Erscheinungen. In der Leber zeigen sich Parenchymblutungen und Nekrosen, in der Lunge Blutungen in den Gefäßscheiden und Alveolen, im Herz Myocardblutungen, im Dünndarm Blutungen in allen Wandschichten und in den Nieren Hämoglobineinlagerungen in den Lumina der Harnkanälchen [23].

Chronische Toxizität:

Mensch. Wiederholte Einnahme kleiner Dosen (keine Mengenangaben) der Samen soll zur chronischen Vergiftung, „Githagismus“ genannt, führen (Symptome nicht näher erläutert) [15].

Toxikologische Daten:

LD-Werte. Samen. Bei weißen Mäusen zeigen sich bis zu einer Dosis von 8 g Kornrademehl/kg KG oral appliziert keine Vergiftungserscheinungen (höhere Dosen wurden nicht getestet) [10]. In Fütterungsversuchen mit gemahlenen Kornradesamen ergaben sich für Küken (6 Wochen alt) und für ältere Hühner (6 bis 10 Wochen alt) letale Dosen von 5g/kg KG bzw. 8 g/kg KG [21]. Für Schweine wird in der Literatur eine letale Dosis von 2 bis 5 g Kornradesamen/kg KG angegeben [11], allerdings fehlt die Angabe, ob sich die Dosis auf ganze oder zerkleinerte Samen bezieht. In einer älteren Arbeit wird berichtet, daß sich bei Fütterungsversuchen mit zerbrochenen oder pulverisierten Samen bei Rindern und Schweinen eine letale Dosis von 1 bis 2,5 g/kg KG ergab, während mit ganzen, unzerbrochenen Samen die letale Dosis doppelt so hoch lag [24]. Saponingemisch. (s. → Inhaltsstoffe) Weiße Mäuse LD50 p. o. 750 mg/kg KG [10]. Akute Toxizitätsprüfungen mit „Saponin“ aus Kornradesamen (vermutlich handelt es sich um das Saponingemisch) ergaben bei Ratten folgende LD50-Werte: i. v. 2,3 mg/kg KG; p. o. 50 mg/kg KG [23].

Therapie: Erste Hilfe: Kohle-Pulver oder Erbrechen. Klinik: Kohle-Pulver, Natriumsulfat, Magenspülung; Plasmaexpander (gegen Kreislaufschock), Diazepam i. v. bei Krämpfen, Beatmung [5], [11].

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25. BAz Nr. 108a vom 19.6.1986

Copyright

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Datenstand

15.08.2010