Exzerpt zu
"Eine unendliche Liste" von Umberto Eco
(italienisches Original "Vertigene della lista", übersetzt von Barbara Kleinert)
Umberto Eco verwendet folgende Bezeichnungen etwa synonym:
Liste = Verzeichnis = Katalog = Aufzählung
Kapitel 1
Der Schild des Achill und die Form
"Form" bedeutet hier bei Eco etwas "Geschlossenes" oder "In sich Abgegrenztes"
"Es gibt nichts jenseits davon, es ist eine in sich geschlossene Welt."
"Kunst weiß harmonische Bilder zu erschaffen, in denen eine Ordnung hergestellt wird, eine Hierarchie, eine Beziehung zwischen Figur und Hintergrund."
- vom ästhetischen Standpunkt aus:
eine Form ist unendlich interpretierbar, immer wieder neue Aspekte, subjektives Gefühl von Unendlichkeit
- die referentielle Funktion:
so oder so ist es laut Text oder laut Bild; die Form lädt uns erstmal nicht dazu ein, noch etwas zu sehen, was sie nicht zeigt
Kapitel 2
Das Verzeichnis oder die Liste
"Liste" wird hier im Gegensatz zur "Form" gebraucht.
Liste: faktisches Unendliches, macht das Unendliche physisch spürbar
Liste - eigentlich für primitive Kulturen typisch
Form - eigentlich für hochentwickelte Kulturen typisch
ABER: Der Zauber der Liste bleibt bis zur Gegenwart.
Kapitel 3
Die sichtbare Liste
Die Bezeichnung "Liste" wird auch auf die darstellende Kunst übertragen.
Beispiele für "sichtbare Listen" aus der Malerei:
- Schlachtengemälde
- Stillleben
- "Vanitas"-Stillleben
- Darstellungen vom Jüngsten Gericht
"Sichtbare Listen" sind auch im Film möglich
"Hörbare Listen" in der Musik bei wiederkehrenden Rhythmen
Gemeinsam ist ihnen der Eindruck von Überfluss, von unglaublicher Menge und Vielfalt.
Kapitel 4
Das Unsagbare
Topos des Unsagbaren
Der Dichter muss sprachlos bleiben angesichts der Fülle der Dinge oder weil es etwas Unbekanntes, nicht Erforschbares ist.
Listen sind eine Ausdrucksweise, das Unsagbare anzudeuten.
z. B. Liste der Namen von Engeln und Teufeln
Kapitel 5
Listen von Dingen
Umberto Eco bringt diverse Beispiele aus der Literatur.
Kapitel 6
Listen von Orten
Umberto Eco bringt diverse Beispiele aus der Literatur.
Kapitel 7
Zweierlei Arten von Listen
"praktische Liste"
sachliche Aufzählung zu einem bestimmten Thema
real, nicht widersprüchlich, zum Zeitpunkt der Aufstellung erschöpfend
"poetische Liste"
nicht abgeschlossen, Andeutung der Endlosigkeit,
bezieht sich nicht unbedingt auf Signifikate (Wortbedeutungen), sondern auch auf Signifikanten (Wortklänge)
herausragende Beispiele für poetische Listen:
Litaneien
Kapitel 8
Übergänge zwischen Liste und Form
Die Zusammenstellung verschiedener Einzelheiten zu einer Liste unter einem bestimmten Gesichtspunkt der Auswahl verleiht einer ansonsten ungeordneten Menge schon die Andeutung einer Form.
Bei Künstlern (z. B. darstellenden Künstlern wie Malern) gibt es auch subtilere Arten, eine Liste in Form zu überführen.
Kapitel 9
Die Rhetorik der Aufzählung
Häufig verwendete Stilfiguren bei Listen:
Häufung
Congeries Ballung von Synonymen
Enumeration Aufzählung
Similitudo dissimilis unähnlicher Vergleich
panegyrische Aufzählungen z. B. Litaneien
Amplificatio
Metabole
Commoratio
Paraphrase
Amplifiatio incrementum oder Klimax oder Gradatio
Amplificatio decrementum oder Antiklimax
asyndetische Aufzählung
polysyndetische Aufzählung
ohne Bezeichnung in der klassischen Rhetorik sind die unersättlichen Listen oder lange Listen mit sehr unterschiedlichen Elementen
Kapitel 10
Listen von Mirabilia
Beispiele aus der Literatur, angefangen bei Plinius dem Älteren
Kapitel 11
Sammlungen und Schatzkammern
abgeschlossene, thematisch abgegrenzte, nicht offene Museen sind die absolute Ausnahme
(z. B. eine Sammlung mit allen Werken eines bestimmten Künstlers)
normalerweise bei Sammlungen die Lust und Mehrung ad libitum
Paul Valéry (1923) - Kritik an Museen
stille, dunkle, wenig freundliche Umgebung
Präsentation der Werke außerhalb jedes Kontexts
Museum bedrückt durch seine Unersättlichkeit
(Die ersten beiden Kritikpunkte treffen für moderne museale Präsentation nicht mehr zu.)
Museen gehen auf Privatsammlungen zurück, diese oft einfach auf Raub (z. B. bei römischen Feldherren).
Krysztof Pomian (1978) unterscheidet in seiner Untersuchung
ursprüngliche Grabbeigaben oder Weihegaben für Tempel an nicht öffentlichen Orten (z. B. Schätze der Pharaonen)
"Semiophor"-Dinge, die jenseits ihres materiellen Werts Bedeutungsträger und Zeichen sind, die auf etwas Anderes verweisen (Vergangenheit, exotische Welt, Welt des Unsichtbaren)
Bedeutende Beispiele für Sammlungen sind Kirchenschätze und Schatzkammern,
oft auch Reliquiensammlungen
Kapitel 12
Die Wunderkammer
neuzeitliche Sammlungen mit naturwissenschaftlichen Kuriositäten (Monstren, Föten, exotischen Tieren u. v. m.)
können als Vorläufer der Naturkundemuseen angesehen werden
Kapitel 13
Definition durch Eigenschaften und Definition nach Substanz
In der Wissenschaft: Definition der Dinge nach ihrer Substanz
z. B.
"Der Mensch ist ein vernunftbegabtes, sterbliches Tier."
"Der Tiger - Klasse der Säugetiere, Ordnung der Raubtiere, Familie der Katzen, Unterfamilie der Großkatzen, Gattung der Panther, Art Tiger"
Im alltäglichen Leben und in der Literatur: Definition nach Eigenschaften ("Definition durch Akzidenzien")
z. B.
"Der Tiger - sieht aus wie eine Katze, aber größer, ist schnell, hat ein Fell mit schwarzen Streifen, lebt im Dschungel, frisst manchmal Menschen, heißt im Dschungelbuch von Rudyard Kipling Shir Khan, es gibt bengalische Königstiger, sibirische Tiger usw. usw. usw."
Somit entsteht ein Liste.
Kapitel 14
Das aristotelische Fernrohr
Der Titel dieses Kapitels stammt von dem enzyklopädischen Werk "Das aristotelische Fernrohr" (1665) von Emanuel Thesaurus.
Aufstellung von diversen Grundkategorien zur Kategorisierung aller Wesen, Dinge und Erscheinungen in der Welt
Umberto Eco bringt dazu diverse Beispiele von Universalgelehrten des Barockzeitalters.
Gegenbild zum "Baum" der Kategorien, der Klassen und Unterklassen ist das "Rhizom" (Unterirdisches, mehrfach vernetztes und in sich verschlungenes Wurzelgeflecht einer Pflanze), im Anblick ähnlich einer Nervenzelle
Rhizom
"Es hat kein Zentrum, es verbindet jeden Punkt mit jedem beliebigen anderen, es ist nicht genealogisch wie eine Wurzel, es ist nicht hierarchisch, es ist ohne Zentrum und im Prinzip hat es weder Anfang noch Ende."
Kapitel 15
Der Exzess seit Rabelais
in der Renaissance und im Barock Abwenden von einer Definition nach Substanz (wie in der Antike und im Hochmittelalter in den "Summae")
exzessive Listen in der Literatur besonders bei Francois Rabelais "Gargantua und Pantagruel"
exzessive Listen bis in die moderne und postmoderne Literatur
zwei Arten
die kohärente exzessive Liste
bringt Dinge zusammen, die eine gewisse Verwandtschaft haben
die chaotische Liste
stellt Dinge zusammen, die bewusst keinen inneren Zusammenhang aufweisen
Kapitel 16
Der kohärente Exzess
Eco bringt Beispiele für kohärente exzessive Listen in der Literatur.
Übergänge zu chaotischen Liste werden diskutiert.
Beziehung zwischen chaotischer Aufzählung und innerem Monolog ("stream of consciousness") wird angerissen.
Ein Sonderfall für kohärente Listen in der Literatur:
kohärent nur vom Klang her, also vom Standpunkt der Signifikanten, aber nicht vom Standpunkt der Signifikate (der Bedeutungsträger)
Kapitel 17
Die chaotische Aufzählung
Beispiele für chaotische Aufzählung hauptsächlich aus der modernen Literatur,
auch ein Beispiel aus der Spätantike "Cena Cypriani" (5./6. Jh.)
Unterscheidung
"konjunktive Aufzählung" - wenn auch sehr unterschiedliche Dinge aufgezählt werden, wird dem aber dadurch Zusammenhalt verliehen, dass das Ganze von ein und demselben Subjekt gesehen oder in demselben Kontext betrachtet wird
"disjunktive Aufzählung" - eine Art Zertrümmerung, eine Spaltung des Subjekts, das eine Reihe von disparaten Eindrücken wahrnimmt, ohne ihnen eine Einheit verleihen zu können
Kapitel 18
Die Listen der Massenmedien
Listen haben in den Massenmedien eine andere Zielrichtung als in der Literatur: Massenmedien wollen Überfluss suggerieren, das Verlangen nach kolossalen Dimensionen befriedigen.
ungeheure Warenanhäufungen
- Schaufenster (deuten auf noch mehr Objekte im Laden hin)
- Mustermesse (nur Teil des gesamten Lieferprogramms)
- Warenhäuser, Einkaufsstraßen, Shopping malls, ...
andere Bespiele für Listen in Massenmedien
- Revues mit einer Unzahl von Girls
- Paraden und Aufzüge
- moderne Kuriositätenausstellungen, Wachsfigurenkabinette
"Die große Mutter aller Listen" - "World Wide Web"
kein ordentlich verzweigter Baum, sondern eher Spinnennetz und Labyrinth
Kapitel 19
Schwindelerregende Listen
Betrachtung über alle statistisch-kombinatorisch möglichen Varianten zur Bildung von Wörtern und Sätzen
(aussprechbar und unaussprechbar - sinnvoll und unsinnig)
Beispiele aus Literatur und Philosophie
Jorge Luis Borges "La biblioteca de Babel"
Thomas Pavel "Fictional Worlds" (Cambridge 1986)
Raymond Queneau "Hunderttausend Milliarden Gedichte"
Die je 14 Zeilen von Sonetten können vom Leser jeweils neu kombiniert werden.
Es ergeben sich 1014 Möglichkeiten.
Kapitel 20
Übergänge zwischen der praktischen und der poetischen Liste
Es ist möglich, eine poetische Liste wie eine praktische Liste zu lesen, also nur den Informationsgehalt der Aufzählung zu nehmen.
Ebenso kann man eine praktische Liste wie eine poetische lesen, je nachdem ob man den Informationsgehalt nimmt oder ins "Schwärmen" kommt bei der Aufzählung der genannten Dinge oder Personen.
Kapitel 21
Eine anormale Liste
Literarisches Beispiel nach Borges
"Es gibt folgende Tiere:
a) dem Kaiser gehörige
b) einbalsamierte
c) gezähmte
d) Milchschweine
e) Sirenen
f) Fabeltiere
g) streunende Hunde
h) in diese Einteilung aufgenommene
i) die sich wie toll gebärden
j) unzählbare
k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete
l) und so weiter
m) die den Wasserkrug zerbrochen haben
n) die von Weitem wie Fliegen aussehen"
Logische Unterordnungen und Beiordnungen sind völlig gestört.
Weitere Überlegungen zum Thema "Listen"
nach der Lektüre von Ecos Abhandlung "Eine unendliche Liste"
Auch diese Überlegungen selbstverständlich in Form von Listen!
Abgrenzung folgender Begriffe:
Aufzählung: innerhalb eines Fließtextes, in der klassischen Literatur auch Katalog genannt
Liste: sachlich, außerhalb des syntaktischen Zusammenhangs
Tabelle: verschiedene Spalten und Zeilen, sozusagen "eine zweidimensionale Liste"
Datenbank: mit Feldern und Datensätzen, auch mit Suchfunktionen, althergebracht mit Karteikartenreitern, ansonsten am PC mit diversen Such- und Sortierfunktionen, sozusagen "eine dreidimensionale Liste"
Weitere "darstellende Listen":
Landkarten (Die Namen der Städte, Flüsse usw. können ohne Weiteres in einer geschriebenen Liste zusammengefasst werden.)
Diagramme
Grafiken
Übersichten
Formen von streng geordneten Listen:
Register
Inhaltsverzeichnis
Index
Schlagwortverzeichnis
Alphabetische Auflistung
weitere verwandte Themen siehe auch: