2.5.2 Das 5-Strategien-Modell nach Dylan William

In vielen Vorträgen und Publikationen verweist William auf 5 "Schlüsselstrategien", die es ermöglichen, formative Beurteilung auf effektive Art und Weise umzusetzen. Den 5 Strategien ist je ein Kapitel seines großartigen Buches Embedding Formativ Assessment (2011) gewidmet. Das Buch basiert auf Arbeiten, die er in den Neunzigern und Zweitausendern, in Zusammenarbeit mit KollegInnen entwickelte.

Die 5 Strategien (Stand 2005) sind:

    1. Lernziele verstehen, erläutern und transparent machen

    2. Effektive Klassengespräche, Diskussionen und Aktivitäten planen, die Anhaltspunkte für den Lernprozess bieten

    3. Den Lernenden konstruktives Feedback erteilen

    4. Die Lernenden dazu animieren, sich gegenseitig als Unterstützungsquelle für ihren Lernprozess zu dienen

    5. Die Lernenden dazu anhalten, ihren Lernprozess selbst zu verantworten

(Leahy, Lyon, Thompson and Wiliam (2005).)

Häufig präsentiert Wiliam seine Ideen mithilfe dieser hilfreichen Tabelle, die die Strategien mit den grundlegenden Konzepten des Assessments verbindet:

Tom Sherrington (2019), ein Berater und Ausbilder für Lehrkräfte, ist der Meinung, dass diese 5 Strategien in allen Curricula der Lehrendenfortbildung zu finden sein sollten und erläutert deren Wichtigkeit und Verbindungen wie folg:

1. Lernziele verstehen, erläutern und transparent machen

William sagt: "Wenn Sie nicht wissen, wo sie hinwollen, werden Sie dort nie ankommen." Die Aussage verweist auf die Curriculums-entwicklung. Ich verstehe unter "Lernzielen" das Wissen und die Fähigkeiten, die wir allen Lernenden vermitteln wollen. Genauer gesagt bedeutet das, alles Wissen, dass die Lernenden erlangen und in neuen Kontexten anwenden sollen, präzise zu definieren. Dies passt perfekt zu den Anstrengungen, die gegenwärtig im Bereich der Curriculumsentwicklung unternommen werden. Zusätzlich steht es im Einklang mit dem Strang der Rosenshine'schen Prinzipien der Instruktion, die sich mit Sequenzkonzepten, der Bereitstellung von Modellen und der angemessenen Staffelung beschäftigen.

William stellt sich außerdem die Frage, wie hervorragende Leistungen aussehen müssen. Diese Frage lässt sich mit den Themen Assessments, vergleichender Beurteilung und Wissen der Lehrkräfte über gewisse Standards des Lernens verbinden. Besonders wichtig erscheint hierbei Williams Andeutung, dass für das "Erläutern, Verstehen und das Transparent-Machen" Lehrkräfte, Lernende und ihre Peers mit den Anforderungen und Kriterien für hervorgehende Leistung in jeder Aufgabenstellung vertraut sein müssen. Dabei geht es um weitaus mehr als das Lernziel als Einzeiler am Anfang jeder Stunde an die Tafel zu schreiben (Aarrghh!). Es verweist auf eine explizite Ausführung und Diskussion des angestrebten Wissens und den Eigenschaften jeder Bemühung, die ein immer größer werdendes Ausmaß des Erfolgs erzeugen.

Das wiederum leitet Vorstellungen über Selbstregulation und Metakognition ein. Erfolgreiche Schülerinnen und Schüler werden sich mit Selbstregulation und Planung auskennen und werden ihre Fortschritte in punkto Lernzielerreichung auf bewusste und selbstgesteuerte Weise überwachen können.

Somit lassen sich hier vielerlei Verknüpfungen herstellen: Curriculum, Wissen, Standards, Selbstregulation, Abstufung, Modellbildung.


2. Effektive Klassengespräche, Diskussionen und Aktivitäten planen, die Anhaltspunkte für den Lernprozess bieten

In gewisser Weise, ist diese Strategie eine einzeilige Zusammenfassung der restlichen Rosenshine'schen Prizipien der Instruktion (siehe oben). "Diskussionen, Aufgaben und Aktivitäten" bieten weitläufige Möglichkeiten. Im Kern findet sich das Konzept des "reaktiven Lehrens." Unterweisendes Lehren muss hochgradig interaktiv gestaltet werden, sodass Lehrkräfte die Möglichkeit haben, von ihren Lernenden Feedback zu bekommen. Dabei sollte vor allem angesprochen werden, in wie weit die Lernenden es schaffen, aus den gelieferten Materialen Schemata zu formen und wie gut es ihnen gelingt Gelerntes abzurufen und anzuwenden. Die Herausforderung für Lehrkräfte besteht dabei darin, so viele Lernende wie möglich in den Prozess einzubinden. Daraus resultierend ergibt sich die Notwendigkeit, effektive Praktiken der Fragestellung und der Wissensüberprüfung anzuwenden. Diese sollten einen hohen Anteil an Lernbeteiligung ermöglichen, wobei die erhaltenden Informationen eine deutliche diagnostische Komponente aufweisen sollten.


Rosenshine spricht über die Notwendigkeit, durch bohrende Fragestellungen zu überprüfen, ob alles verstanden wurde. William dagegen legt seinen Fokus auf das Design der Fragen, wie z.B. effektive diagnostische Multiple-Choice-Fragen und die Rolle der Antwortpraktiken der Lernenden.

Anknüpfungspunkte: Rosenshine'schen Prizipien der Instruktion, das "Generieren-Evaluieren"-Modell von Shimamura, Konzepte der Abruf-praktiken, Nuthalls Konzept der "versteckten Leben" und die Vorstellung, dass wir nicht einmal ansatzweise unseres Lernprozesses sicher sein können, wenn wir ihn nicht dauerhaft überprüfen.

3. Den Lernenden konstruktives Feedback erteilen

Feedback ist eine heikle Angelegenheit, die in Diskussionen über den Gebrauch von formativem und summativem Assessments eingebunden ist. Dabei geht es vor allem um die Benotung und den Arbeitsaufwand, die Bewertung und den Datenwert als Werkzeug, um die Ergebnisse der Lernenden zu verbessern. Das Schlüsselelement in der Arbeit von Williams ist die Fokussierung auf den Fortschritt der Lernenden. Diese Denkweise diente als Grundlage der Konzepte, die im Post zu dem "handlungsbezogenen Feedback" diskutiert wurden.

Eigene Darstellung nach Tom Sherrington (2017)

Einige der Kernaussagen, die William in Verbindung mit Feedback macht, zitiere ich sehr oft:

    • Feedback hat nur dann Erfolg, wenn sich der Lernprozess der Lernenden verbessert. Das wiederum hängt davon ab, ob sie die Kapazitäten besitzen, dieses zu verstehen und dazu geneigt sind, es zu akzeptieren und anzuwenden. Dieser interpersonale, motivationale Aspekt kann nicht außer Acht gelassen werden. Natürlich kann Feedback nicht als etwas rein technisches und objektives verstanden werden – und dennoch bietet es Lernenden verschiedene Handlungsmöglichkeiten, die sie verfolgen können und nicht nur nebulöse retrospektive Kritik.

    • Das Ziel ist, die Kapazität der Lernenden dahingehend zu verändern, dass sie hochwertigere Arbeiten erstellen und nicht nur ihre bisherigen verbessern. Der Schmetterling von Austin ist wunderbar – er zeigt, was effektives Feedback erreichen kann. Allerdings hat Austin nur davon profitiert, wenn er später – wie ein Naturwissenschaftler – auch ohne Feedback wunderschöne Schmetterlinge zeichnen kann: er sollte in der Lage sein, sein eigenes Feedback zu generieren und unabhängiger zu werden.

So wird formatives Assessment mit Metakognition, Selbstregulierung und Rosenshines Vorstellungen von zunächst geführter und dann autonomer Praxis in Zusammenhang gebracht. Wenn wir noch immer auf externes Feedback angewiesen sind, um festzustellen ob wir erfolgreich waren (SatNav Style), haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Leistungsstarke Lernende schaffen es, ihre Arbeiten mit den Erfolgskriterien in Verbindung zu bringen und ihren eigenen, langfristigen, selbstregulierenden Feedbackbericht zu erstellen.

Anknüpfungspunkte: Ethik der hervorragenden Leistung, Rosenshines Handbuch für die autonome und selbstregulierte Praxis.


4. Die Lernenden dazu animieren, sich gegenseitig als Unterstützungsquelle für ihren Lernprozess zu dienen

Dieser Strategie sollte, meiner Meinung nach, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Allzu oft schaffen Lehrkräfte gewisse Engstellen und versuch alle Interaktionen während des Unterrichts dort hindurch zu zwingen. Wenn es Lehrkräften jedoch gelingt, strukturierte Abläufe zu generieren, bei denen die Lernenden sich gegenseitig in ihrem Lernprozesses unterstützen, kann der Anteil, die Häufigkeit und die Qualität der Interaktionen zwischen den Lernenden erheblich verbessert werden. Wir können uns nicht allen Lernenden gleichzeitig widmen, aber sie haben dafür so die Möglichkeit miteinander in Kontakt zu treten, um ihren Lernprozess gegenseitig zu unterstützen. Somit können sie erarbeiten, wo sie als Lernende gerade stehen und wie sie sich weiterentwickeln können. Dabei ist besonders die disziplinierte Anwendung der "Think-Pair-Share"-Methode von besonderer Wichtigkeit.

William zitiert Slavin, wenn er zeigt, dass gut konzipiertes kollaboratives Lernen deutliche Gewinne mit sich bringt – allerdings muss es so gestaltet werden, dass alle davon profitieren. Es gibt dabei einige Möglichkeiten dies zu erreichen: Lernende können die Antworten ihrer Lernpartner überprüfen, wobei sie alle Methoden des Abfragens und Entstehungsprozesse nutzen und elaborativ-interrogative Fragen stellen (Warum? Wie?). Die Partnerarbeit erweist sich dabei als wirkungsvollste und effektivste Methode, um diese Strategie anzuwenden, da sich der Austausch so leicht unterbrechen und wieder aufnehmen lässt.

Wenn einer der Partner für den anderen als Prüfstelle fungiert – also z.B. Merkblätter oder ein Benotungsraster als Referenzpunkt ver-wendet –, kann das Ausmaß von Abrufübungen und Feedback stark erhöht werden. Außerdem können strukturierte Dialoge dazu genutzt werden, den Gebrauch von Sprache zu üben oder die Nutzung von Erklärungen und Argumenten zu erproben. Vorausgesetzt, dass die Antworten und Reaktionen der Lernenden stets auf Präzession und Qualität geprüft werden, kann ein hohes Maß an Peer-to-Peer Interaktionen von Vorteil sein.

Anknüpfungspunkte siehe: Hatties "Reziprokes Lernen", Shimamuras "think it, say it, teach it", Slavins "kollaboratives Lernen", Sumeracki und Weinstein über "elaborativ-interrogative Fragen und Abrufsübungen".


5. Die Lernenden dazu anhalten ihren Lernprozess selbst zu verantworten

Um ehrlich zu sein, habe ich festgestellt, dass die Implementation dieser Strategie hinter dieser Wohlfühlphase oftmals im Dunst der "guten Absichten" verschwindet, ohne etwas greifbares zu liefern.

Jedoch ist diese Strategie sehr gut umsetzbar und steht in direktem Zusammenhang mit vielerlei anderen Konzepten. Die Verantwortung über den eigenen Lernprozess zu tragen, ist im Kern selbstregulierend und metakognitiv: sich Lernziele zu setzen, den Lernprozess zu planen, zu überwachen und zu evaluieren, ob bestimmte Aufgaben erfolgreich ausgeführt wurden (was mit den Lernzielen in Verbindung steht ) und effektive Schemata zu schaffen, die Fragen des großen Ganzen und Themen, die bewusstes Üben und Elaboration nach sich ziehen, müssen berücksichtigt werden. Allerdings beschreiben diese "Ziele" keine weitläufigen Lebensziele sondern Lernziele – also Schritte, die notwendig sind um die Schreibfertigkeiten, das naturwissenschaftliche Wissen, das Selbstvertrauen in Mathematik und Sprachen und die körperliche Fitness zu verbessern.

Die Eigenschaften des effektiven Lernens können durch die Einführung von Routinen und Erwartungen gefördert werden. Lehrkräfte können den Lernenden aufzeigen, in welche Richtung sie sich bewegen und wo sie sich gerade auf ihrer Reise durch das Curriculum befinden. Dies kann durch folgende Maßnahmen unterstützt werden

    • die Lernenden erhalten Einsicht in die langfristige Themenplanung, den Bildungsplan und erhalten einen allgemeinen Überblick, bevor sie beginnen sich damit im Detail zu beschäftigen

    • die Lehrkraft bestimmt Meilensteine, die während des Prozesses zu erreichen sind, sodass die Lernenden selbst ihre nächsten Schritte eigenständig planen können und die passenden Übungsformen auswählen können, um dadurch nach und nach unabhängiger zu werden

    • die Lehrkraft nutz klar verständliche Relationenmodelle, die das konzeptuelle Schaffen von Schemata ermöglichen (vgl. Shimamuras Relate in MARGE)

    • für jedes Niveau werden beispielhafte Musterlösungen bereitgestellt, sodass die Lernenden ihre Produkte anhand einer Skala vergleichen können, selbst überprüfen können, wo sie sich befinden und wie ihre kurzfristigen Lernziele aussehen könnten

    • falls Lernende bereits wissen, was sie tun müssen, um sich zu verbessern und die Erfahrung gemacht haben, dass Erfolg sich durch Anstrengung und selbstbestimmte Zielsetzung einstellt, stößt dies eine positive Aufwärtsspirale an, die ihnen Selbstvertrauen und Wachstumsorientierung schenkt, sie bei der Selbstregulation unterstützt und weitere Erfolge hervorbringt

Links: Rosenshine → Übung; Shimamura → Relate; Wachstumsorientierung, Selbstregulation

Teilweise habe ich das Gefühl, dass der Begriff AfL oder sogar "formatives Assessment" zu weit gefasst ist und es dadurch möglich ist, dass er bis zu einem bestimmten Grad hin verfälscht oder verändert werden kann. Ich bin der Meinung, dass er vor allem durch ein tiefes Verständnis und die Anwendung der 5 Strategien Form annimmt. Dieses Verständnis des formativen Assessments ist das, was Lehrkräfte benötigen. Das ist eine ziemlich starke Sache und sie befindet, wie schon seit Jahren, genau vor uns.

Quellen der engl. Originals:Wiliam, D., & Thompson, M. (2007). Integrating assessment with instruction: what will it take to make it work? In C. A. Dwyer (Ed.), The future of assessment: shaping teaching and learning(pp. 53-82). Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates.Wilam, D (2011) Embedded Formative Assessment. Solution Tree PressEnglisches Original (Text und Grafiken):https://teacherhead.com/2019/01/10/revisiting-dylan-wiliams-five-brilliant-formative-assessment-strategies/