Das Schimpfen auf „die da oben, die sich eh alles richten (können)“ gilt als österreichisches Spezifikum und ist eine harmlose Spielart des Protests, welche in gewisser Weise sogar einem demokratiepolitischen Zweck dient. Allerdings scheint sie ihre Funktion als Ventil immer weniger erfüllen zu können, da vielen Österreicherinnen und Österreichern Entwicklungen und Zustände auf dem Magen liegen, über die sie nicht frei von der Leber weg reden können oder wollen, weil sie nicht abgestempelt werden und in einer Schublade landen möchten. So wie die Psyche und manchmal in der Folge der Organismus auf Verdrängung reagieren, so macht sich diese subtile Art von Unterdrückung in der Gesellschaft bemerkbar.
Immer stärker tritt nämlich ein Typus in den Vordergrund, der mit einer Art von „neuer Moral“ den Leuten den „rechten Weg“ weisen will. Er ist nicht nur in den öffentlichen Diskussionen präsent, sondern hat natürlich auch längst die Redaktionsstuben erobert. Seine hervortretenden Merkmale scheinen stark verbalisierte Humanität, gepaart mit einem Werte-Relativismus zu sein. „Political correctness“ mutet dabei wie ein Abfallprodukt dieses „neuen Denkens“ an. Auffallend ist auch, dass die immer zahlreicher werdenden Vertreter dieses Typs von ihrem gesellschaftlichen Grundverständnis her im Gegensatz zu jenen stehen, welche Heimat und Familie einen hohen, stabilisierenden Stellenwert zumessen. Denn das ist aus der Sicht dieser „neuen Moral“ a`priori suspekt und rückt die Träger solcher traditionellen Denkungsart in die Nähe von „Blut und Boden“, woraus sich weitere Qualifizierungen geradezu von selbst ergeben. Das Etikett „erzkonservativ“, vielleicht auch „reaktionär“ ist schnell bei der Hand, wenn zum Beispiel die Forderung er-hoben wird, gegen Bettler- und brutale Einbrecherbanden aus dem Osten wirkungsvoller vorzugehen. Abgesehen von dem Tribut, den man dem alles überstrahlenden, zumal grenzenlosen „Friedensprojekt Europa“ zu leisten hätte, wird häufig argumentiert, dass man die Wurzeln des Übels bloßlegen und erkennen müsse, dass das Ganze vielleicht einer höheren Gerechtigkeit im Sinne eines Wohlstandsausgleichs zwischen armen und reichen Ländern folgt. Angesichts eines solchen „Weitblicks“ bleibt so manchem die Artikulation der gut bürgerlichen Forderung nach Recht und Ordnung im Halse stecken. Wohl muss es eine lebendige, sich weiter entwickelnde Demokratie aushalten, dass traditionelle Sichtweisen hinterfragt werden. Es hat allerdings etwas mit Zersetzung zu tun, wenn diese staatlichen Grundpfeiler systematisch dis-kreditiert und lächerlich gemacht werden. Es wäre interessant zu erfahren, in-wieweit sich diese Weltoffenheit, die die Toleranz gerne wie ein Werbeplakat vor sich herträgt, auch in der unmittelbaren sozialen Zuwendung dem Einzelnen gegenüber niederschlägt.
Die Menschen mit „überkommenem“ Rechtsempfinden werden mitunter als „Ewig-Gestrige“ hingestellt, ja sogar in ein faschistoides Eck gedrängt. Da diese nicht in der Lage oder willens sind, sich auf das moralische Vagabundieren einzustellen, sind die Voraussetzungen für ein (Massen-)Verdrängungs-Syndrom gegeben, welches in einem Maße hinter der sogenannten Politik-Verdrossenheit stecken dürfte, wie es selbst gelehrte Polit-Auguren nicht wahr-haben wollen. Wenn sich dann das besagte Ventil in der Wahlzelle explosionsartig öffnet oder die Wahlbeteiligung sinkt, dann wird meist mit Wehklagen und Unverständnis reagiert. Allein das ist schon Indiz genug, dass man sich immer weiter vom Empfinden breiter Bevölkerungsschichten entfernt hat.
Georg Weigl, Salzburg