Der König von Thule
Johann Wolfgang von Goethe
Es war ein König in Thule,
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.
Es ging ihm nichts darüber,
Er leert' ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.
Und als er kam zu sterben,
Zählt' er seine Städt' im Reich,
Gönnt' alles seinen Erben,
Den Becher nicht zugleich.
Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.
Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut,
Und warf den heil‘gen Becher
Hinunter in die Fluth.
Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer,
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.
Goethe schrieb den König von Thule im Jahr 1774 und baute ihn in sein Faustdrama ein. Gretchen singt die Verse und denkt hoffnungsvoll dabei auf Liebe und Treue zwischen ihr und Heinrich Faust, -eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung geht. Dies macht auch die Ballade zu einem Ausdruck der Sehnsucht und nicht zu einer geschichtlichen Reflexion.