050. Griechenland, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Überschuldung und Staateninsolvenz, Machtmissbrauch, Schuldenbremse, Wirtschaftsregierung, Defititverfahren
V.13 zu erwartende Auflagen gemessen an den „Empfehlungen“ der EU-Kommission an Griechenland im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
Das im Januar 2010 veröffentlichte und am 18.01.2010 dem EU-Ministerrat vorgelegte aktuelle Stabiliäts- und Wachstumsprogramm Griechenlands steht unter dem folgenden Link:
http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/10/st05/st05454.en10.pdf
So hat sich Griechenland gem. Tz. 7.2.1 des Stabilitäts- und Wachstumsprogramms zur Marktöffnung gegenüber der “Biotechnologie” verpflichtet. Das bedeutet, dass es als Auflage der EU hingenommen hat, den Anbau genveränderter Pflanzen und / oder den Import genveränderter Produkte zuzulassen. Griechenland ist bisher als eines der restriktivsten Länder bekannt, was den Einsatz von Genmanipulation in der Landwirtschaft angeht.
Das Stabilitäts- und Wachstumsprogramm Griechenlands beschäftigt sich in seinem Abschnitt 7.4 mit der Schaffung einer effizienteren und transparenteren öffentlichen Verwaltung. Der Unterabschnitt 7.4.6 des Abschnitts 7.4 beschäftigt sich mit Politik zur Privatisierung von Vermögensgegenständen und zur Umstrukturierung. Die Einordnung des Abschnitts 7.4.6 zur Privatisierung in den Abschnitt 7.4 zur öffentlichen Verwaltung spricht dafür, dass es bei der Privatisierung auch um hoheitliche Aufgaben geht. Der erste Absatz von Abschnitt 7.4.6 und auch die Beispiele in Abschnitt 7.4.6 hingegen beziehen sich zumindest explizit aber ausschließlich auf die Privatisierung der meisten wirtschaftlichen Beteiligungen außerhalb öffentlicher Güter und den Erhalt zumindest von Beteiligungen in Bereichen von strategischer Bedeutung für das öffentliche Interesse und die nationale Sicherheit. Die Beispiele in Abschnitt 7.4.6 für staatliche Beteiligungen beziehen sich alle auf die Daseinsvorsorge. Der Begriff der nationalen Sicherheit hingegen als Grenze der Privatisierung ist wiederum ein starkes Indiz dafür, dass den Griechen auch Behördenprivatisierungen abverlangt werden sollen.
Dass neben der EU-Kommission auch der IWF eine Geschichte darin hat, Staaten mit seinen Kreditauflagen zur Privatisierung hoheitlicher Aufgaben zu zwingen, zeigt Abschnitt IV.5.4 dieser Verfassungsbeschwerden.
V.14 Übersetzungshilfe zwischen Begrifflichkeiten der Bundesregierung und des EU-Rechts
Der Spiegel-Artikel „Euro-Zone Merkel schmiedet Plan für gemeinsame Wirtschaftsregierung“ vom 29.01. 2011 belegt jetzt, wie der deutschen Bevölkerung die Ermächtigung der EU-Wirtschaftsregierung dargestellt wird.
www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,742359,00.html
Die de-facto Verschärfung der zulässigen Neuverschuldung auf 0,5% des BIP im Rahmen der Bußgeldbewehrung der präventiven Komponente des Stabiliäts- und Wachstumspaktes, das Aufbrechen der nationalen Verfassungen für den Stabilitäts- und Wachstumspakt (vgl. Art. 3 und Art. 8 Fiskal-pakt, Abschnitte V.1+V.20 dieser Verfassungsbeschwerden) präsentiert die Bundeskanzlerin als eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten auf „eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild“.
Ein „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“, welcher von der deutschen Bundesregierung gefordert wurde, wurde zumindest dem Namen nach nicht beschlossen. Stattdessen wurde auf dem Gipfel vom 11. 03.2011 als Name „Pakt für den Euro“ und schließlich auf dem Gipfel vom 24./25.03.2011 verbindlich „Euro-Plus-Pakt“ als Name beschlossen (siehe Abschnitt III.15 dieser Verfassungsbeschwerden).
V.15 Strukturreformen im Stabilitäts- und Wachstumspakt
Im Rahmen der bisherigen Fassung von Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 zur vorbeugenden Komponente berücksichtigte die EU zwar auch bisher schon für die Beurteilung des Anpas-sungspfads hin zum mittelfristigen Haushaltsziel vorübergehend die Kosten, welche Staaten haben für Strukturreformen; die EU konnte solche Strukturreformen aber nicht im Rahmen der vorbeugenden Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes erzwingen. Das würde die Neufassung der EU-Verordnung über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euroraum ändern, die ausdrücklich auch für die präventive Komponente gilt, und die bei Nichterfüllung einer vorsichtigen Haushaltspolitik ein Bußgeld vorsieht (Art. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 der EU-Verordnung). Erstmals bekäme die EU die Möglichkeit, Staaten, die nicht in der Lage sind, die Kriterien für eine vorsichtige Haushaltspolitik zu erfüllen, aber auch kein Bußgeld zahlen können, zu zwingen, beliebige von der EU empfohlene Strukturreformen umzusetzen.
Zur Vermeidung von Wiederholungen siehe hierzu die Abschnitte V.4 und V.6 dieser Verfassungsbeschwerden.
Die Anrechnung der Kosten für größere Strukturreformen im Rahmen der präventiven Komponente hat, auch wenn die Anrechnung nur für jeweils 5 Jahre und nur linear-degressiv vorgesehen ist, erhebliche Auswirkungen. Dies vor allem auch im Hinblick darauf, dass eine vorsichtige Haushaltspolitik im Sinne der präventiven Komponente nur bis zu einem Defizit von max. 0,5% des BIP gegeben ist, deutlich weniger als die erlaubten 3% des BIP im Rahmen der korrektiven Komponente. Wenn nun die präventive Komponente mit Bußgeldbewehrung versehen werden soll, würde 0,5% statt 3% zur maßgeblichen Grenze zur Vermeidung eines Verfahrens. Dadurch bekäme die Frage der Anrechnung der Kosten für Strukturreformen ein ganz anderes Gewicht. Spätestens alle 5 Jahre würde sich der Druck deutlich verschärfen, wieder neue Strukturreformen durchzuführen.
Darum ist es entscheidend, was mit „Strukturreformen“ gemeint ist. Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 verlangt als Muss-Vorschrift, dass „ größeren Strukturreformen Rechnung“ getragen wird, welche „auch durch Steigerung des Potenzialwachstums — direkte langfristige Kosteneinsparungseffekte und mithin nachprüfbare Auswirkungen auf die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen haben.“
Anrechnungsfähig sind also nur die Kosten für größere Strukturreformen, nicht die für kleinere.
Das Wort „Potentialwachstum“ gibt es in der deutschen Sprache nicht. Gemeint ist offensichtlich „Wachstumspotential“. Mit der präventiven Komponente hat das insoweit zu tun, als Wachstum den Anstieg des BIP bedeutet, und ein höheres BIP einen höheren absoluten Betrag an Defizit bedeutet, der noch innerhalb der Grenzen einer vorsichtigen Haushaltspolitik wäre. Und ein höheres BIP bedeutet höhere Steuereinnahmen, vor allem bei der Umsatzsteuer und den Ertragsteuern.
Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 bezieht sich jedoch nicht darauf, ob die größeren Strukturreformen wirklich Wachstum bringen würden. Es reicht eine Steigerung des Wachstumspotenti- als – also eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass das BIP wächst, bzw. eine Erhöhung des Betrags, um den es wahrscheinlich wächst. Das BIP misst das Entgelt, was für die insgesamt innerhalb einer Volkswirtschaft in einem Jahr erbrachten Leistungen gezahlt wird. Zusätzlich zu dem Anreiz zur BIP-Erhöhung insgesamt, um mehr Spielraum für Defizit, vorsichtige Haushaltspolitik und Gesamtschuldenkriterium zu haben, setzt Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 erheblichen Druck, zur BIP-Erhöhung größere Strukturreformen durchzuführen.
Das BIP lässt sich vor allem dadurch erhöhen, wenn man bisher kostenlose Leistungen entgeltlich macht. Wozu das führen kann, wird in den Abschnitten V.5 und V.7 zum Ungleichgewichtsverfahren und in Abschnitt V.11 dieser Verfassungsbeschwerden zur Allkäuflichkeit dargestellt. Und es lässt sich erhöhen, wenn man möglichst viele Leistungen outsourcet an eine möglichst lange Kette von Subunternehmern. Dabei will man vor allem auch die hoheitlichen Tätigkeiten der Staaten funktionell privatisieren; auf die Verfassungswidrigkeit solcher Bestrebungen geht Abschnitt VIII. dieser Verfassungsbeschwerden zur Entstaatlichung näher ein.
Der große Unterschied zu den Ungleichgewichtsverfahren ist, dass bei der vorübergehenden Anrechnung der Kosten die Staaten selbst entscheiden können, welche größeren Strukturreformen sie durchführen, während ihnen beim Ungleichgewichtsverfahren diese vorgegeben werden entsprechend dem Kalkül der EU-Kommission. Ein weiterer Unterschied zwischen den Strukturreformen i. S. v. Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 und dem Ungleichgewichtsverfahren ist, dass nur solche Strukturreformen die Anrechenbarkeit begründen, welche zu langfristigen Kosteneinsparungen führen.
Wie die „langfristigen Kosteneinsparungseffekte“ gemeint sind, ist nicht ganz eindeutig. Die Be- schwerdeführerin versteht dies so, dass nur solche größeren Strukturreformen anrechnungsfähig sind, die in der Summe zu mehr Einsparungen als zusätzlichen Ausgaben führen.
Die präventive Komponente, auf welche sich die befristete Anrechnung der Kosten größerer Strukturreformen bezieht, gehört zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Art. 12 zu den Verträgen der EU enthält Definitionen für Art. 126 AEUV, also für die korrektive Komponente des Stabiiliäts- und Wachstumspaktes. Art. 2 von Protokoll 12 definiert, dass sich Defizit- und Gesamtschuldenkriterium auf den Haushalt von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung beziehen. Mangels anderweitiger Definition für Zwecke der präventiven Komponente ist die Beschwerdeführerin der Rechtsauffassung, dass die gleichen Begriffe im Rahmen der präventiven Komponente ebenfalls nach Art. 2 von Protokoll 12 auszulegen sind. Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 meint also solche größeren Strukturreformen, welche in der Summe der Haushalte von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung zu Einsparungen führen. Es könnte sich also um Reformen handeln, welche bei der Sozialversicherung auf Kosten der Steuerzahler sparen oder umgekehrt, wenn sie nur in der Summe zu Einsparungen führen.
Die beabsichtigte Hauptrichtung gibt dann Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 unmissverständlich an:
„Besondere Aufmerksamkeit gilt Rentenreformen, durch die ein Mehrsäulensystem mit einer gesetzlichen, vollständig kapitalgedeckten Säule eingeführt wird. Mitgliedstaaten, die solche Reformen durchführen, dürfen vom Anpassungspfad in Richtung auf ihr mittelfristiges Haushaltsziel oder von dem Ziel selbst mit der Maßgabe abweichen, dass die Abweichung den Nettokosten der Reform für die von der öffentlichen Hand finanzierte Säule entspricht und vorübergehend ist und dass eine angemessene Sicherheitsmarge zum Defizit-Referenzwert beibehalten wird.“
Das bedeutet, dass man bei der bisherigen gesetzlichen Rentenversicherung Beiträge und Leistungen senken und stattdessen zusätzlich eine weitere Versicherung mit Zwangsmitgliedschaft einführen will, in welcher der Versicherte die Beiträge ohne Unterstützung durch einen Arbeitgeberanteil einzahlt, und für welchen es vorübergehend stattdessen staatliche Zuschüsse in fallender Höhe gibt, denn die Anrechnung auf die strengere Defizitgrenze der präventiven Komponente von nur 1% ist ja nur linear-degressiv vorgesehen.
Das erinnert sehr an die Riesterrente in Deutschland, auch wenn die bisher eigentlich mit steigenden Zuschüssen vorgesehen ist. Und tatsächlich zeigt das Gutachten „Überschuldung und Staatsinsolvenz in der Europäischen Union“ des wissenschaftlichen Beirats des deutschen Bundeswirtschafts-ministeriums im Abschnitt „3.3 den Stabiiliäts- und Wachtstumspakt wirksamer machen“ auf S. 27+28 zur Entstehungsgeschichte der Anrechnung der Kosten solcher Strukturreformen gem. Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 in der Fassung ihrer bisher letzten Änderung aus dem Jahr 2005:
„Zudem wurde der Pakt auf deutsch-französische Initiative im Jahr 2005 aufgeweicht. Es wurde betont, dass die Ziele der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Durchführung von Strukturreformen in den Mitgliedsländern und der sozialen Kohäsion es erforderten, die mittelfristigen Budget- und
Defizitziele nach Ländern zu differenzieren und sie insbesondere im Falle von Reformen der Alterssicherung weniger ehrgeizig anzusetzen.“
Daraus, dass es eine deutsch-fränzösische Initiative gewesen ist, ergibt sich schon aus dem zeitlichen Zusammenhang, dass man offensichtlich die Steuerzuschüsse zu den Riesterrenten in Deutschland vorübergehend angerechnet bekommen wollte. Es drängt sich zugleich die Frage auf, ob man mit der Änderung von Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 im Jahr 2005 zugleich auch einen Druck aufbauen wollte für eine Rechtfertigung, die Steuerzuschüsse zur Riesterrente wieder auslaufen zu lassen.
Aber auch die Kosten für den Staatshaushalt in Zusammenhang mit dem ALG 2 („Hartz IV“), das ja gerade im Jahr 2005 eingeführt wurde, konnte man sich so anrechnen lassen. Das ALG 2 bedeutete eine massive Entlastung der Arbeitslosenversicherung auf Kosten vor allem der Leistungsempfänger, aber auch durch höhere Steuerzuschüsse, wobei aber die Kosten für die Haushalte von Bund, Ländern, Gemeinden und gesetzlicher Sozialversicherung zusammen genommen deutlich gesenkt wurden. So wurde dafür gesorgt, dass die EU-Kommission im Rahmen der präventiven Komponente, zumindest vorübergehend und linear-degressiv, die höheren Steuerzuschüsse im Rahmen der Absicherung für Langzeitarbeitslose, aus der Prüfung der 1%-Grenze für die vorsichtige Haushaltspolitik der präventiven Komponente herausgerechnet bekam. Dass man nun in 2010 plötzlich die Streichung der Rentenbeiträge für die Langzeitarbeitslosen und weitere außerhalb der Zahlungen zum Lebensunterhalt für diese bestehenden Leistungen beschlossen hat, dürfte nicht nur daran liegen, dass der IWF (siehe Abschnitt IV.5.1 dieser Verfassungsbeschwerden) in seiner (rechtlich unverbindlichen) abschließenden Stellungnahme vom 08.02.2010 zu den Artikel IV – Konsultationen gegenüber Deutschland „die strenge Anwendung bereits beschlossener Anpassungsmaßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung“ (Tz. 7) und die Verringerung der Anreize für Langzeitarbeitslose, nicht arbeiten zu gehen, gefordert hat, sondern ebenso am Auslaufen der 5 Jahre für die Anrechenbarkeit im Rahmen der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachtstumspaktes bzgl. der Steuerzuschüsse, aus denen bisher seit 2005 die Rentenbeiträge für die Langzeitarbeitslosen gezahlt wurden.
Auf das gleiche Muster ausgerichtet ist die Kopfpauschale für die gesetzliche Krankenversicherung. Erst reduziert man die Beiträge der Arbeitgeber und ersetzt diese durch eine Kombination von höheren Beiträgen der Versicherungsnehmer und von Steuerzuschüssen. Danach beruft man sich auf Sparzwänge von Bund, Ländern und Gemeinden und natürlich auf die sinkende Anrechnung der Steuerzuschüsse zur Kopfpauschale im Rahmen der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachtstumspaktes und reduziert die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, um die Steuerzuschüsse senken zu können. Dabei ist auch das Zusammenwirken mit dem europäischen Finanzierungsmechanismus zu betrachten, denn der IWF würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wenn er erst einmal über eine von dessen drei Stufen Deutschland verbindliche Auflagen machen könnte, durchzusetzen versuchen (siehe Abschnitt IV.5.1 dieser Verfassungsbeschwerden), was er schon in seinen abschließenden Bemerkungen 2006 zu den Artikel IV – Konsultationen gegenüber Deutschland unverbindlich empfohlen hat, nämlich eine gesetzliche Krankenversicherung mit Kopfpauschale und geringen Steuerzuschüssen, also auch geringen Leistungen.
Im gleichen rechtlichen Rahmen zu sehen ist die gegenwärtige Debatte, ob neben die gesetzliche Pflegeversicherung eine zusätzliche private zwangsweise Pflegeversicherung gestellt werden sollte.
Die linear-degressive Anrechnung von Strukturreformen im Rahmen der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hat also in allererster Linie das Ziel, die gesamte gesetzliche Sozialversicherung auf eine Mindestversorgung zu reduzieren und daneben eine, je nach Zweig der Sozialversicherung, zwangsweise oder freiwillige private Versicherung zu stellen, zu welcher man nur vorübergehend größere Steuerzuschüsse geben will.
Das bedeutet nicht, dass der Betriff der Strukturreform im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes klar auf die weitgehende Entsolidarisierung der gesetzlichen Sozialversicherung begrenzt wäre. Er ist ihm aber aus seiner Entstehungsgeschichte bezogen auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt im Sinne eines Schwerpunktes auf die Entsolidarisierung der Sozialversicherung auszulegen.
Der Begriff der Strukturreform ist, da es hier um den Stabilitäts- und Wachtstumspakt geht, in allererster Linie zu interpretieren in dem Lichte, wie er in dessen Rahmen bisher verwendet worden ist, und aus dem Zusammenhang, in welchem die Änderung von Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466/97 in 2005 erfolgt ist.
Daneben ist der Begriff aber auch zu betrachten in seiner im allgemeinen Sprachgebrauch üblicheren Verwendung, nämlich bzgl. der Kreditauflagen des IWF. Früher hat man diese Auflagen „Struturanpassungsprogramme“ genannt, als dieser Begriff diskreditiert war angesichts der menschenrechtsblinden Härte der Auflagen, ist man dann zum Begriff „Strukturreformen“ übergegangen, der bis heute gebräuchlich ist. Der Begriff der Strukturreform ist gleichzeitig ein Indiz für die Ausgerichtetheit auf einen radikalen Sozialabbau unabhängig der Frage, ob dieser jeweils überhaupt dienlich ist für die Haushaltssanierung.
Die Reichweite der Strukturreformen ist auch zu betrachten in ihrem Zusammenspiel mit den Ungleichgewichtsverfahren, welche die EU-Kommission im Rahmen der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zwecks Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung will. Dadurch bleibt die Reduzierung der gesamten Sozialversicherung eines Euro-Mitgliedsstaates auf ein Minimum keine Angelegenheit zwischen dem jeweiligen Staat und der Eurozone bzw. EU. Denn über die Ungleichgewichtsverfahren und die im Rahmen dessen willkürlich von der EU-Kommission festlegbaren Messgrößen könnten jederzeit alle anderen Euro-Mitgliedsstaaten, denen es sozialversicherungsmäßig aus Sicht der Kommission im Vergleich zu den ärmsten oder am wenigsten wettbewerbsfähigsten oder importüberschüssigsten Staaten der Eurozone einfach noch zu gut geht, jederzeit mit Bußgelddrohung gezwungen werden, die jeweiligen Schritte zur Entsolidarisierung der Sozialversicherung auch in ihrem Land nachzuvollziehen.
Es bräuchte aber noch nicht einmal das Ungleichgewichtsverfahren, um alle Staaten der Eurozone unter bußgeldbewehrten Druck zu setzen, den solidarischen Teil ihrer Sozialversicherung auf ein Minimum zu reduzieren. Denn nach der EU-Prognose von Oktober 2009 zu den Haushaltsdefiziten der EU-Mitgliedsstaaten (zitiert auch auf S. 161 des Buches „Der Staatsbankrott kommt“ von Michael Grandt, Kopp-Verlag) für 2011 wurde ein Unterschreiten des 3%-Defizitkriteriums nur von den EU-Mitgliedsstaaten Estland (zwischen 2% und 3% des BIP), Schweden (2,7% des BIP) und Bulgarien (0,4% des BIP) erwartet. Da Bulgarien nicht zur Eurozone gehört, bedeuten das, dass mit Inkrafttreten der in den Abschnitten V.3, V.4 und V.6 dieser Verfassungsbeschwerden erörterten EU-Verordnungen und noch mehr mit Inkrafttreten des Fiskalpakts, an dessen Art. 3, Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 die Bußgeldbewehrung der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes anknüpfen würde, ein präzedenzloser Druck auf alle EU-Mitgliedsstaaten außer Bulgarien und damit auf alle Staaten der Eurozone, deren Defizit ja jeweils klar über 0,5% des BIP prognostiziert wird, einsetzen würde, ihre gesamte Sozialversicherung bzw. den solidarischen Teil derselben auf ein Minimum zu reduzieren und auch das dann nur noch in linear-degressiv sinkenden Beträgen über Steuerzuschüsse vorübergehend sozial abzufedern.
Dass nicht etwa die Strukturreformen dafür da sind, die Neuverschuldung oder die Gesamtverschuldung, jeweils im Verhältnis zum BIP in den Griff zu bekommen, sondern, dass man den Stabilitäts- und Wachstumspakt dazu missbrauchen will, bestimmte sonst demokratisch nicht mehrheitsfähige „Strukturreformen“ durchzusetzen, beweist außerdem der Spiegel-Artikel „More Teeth for Brussels“ vom 01.03.2010.
www.spiegel.de/international/europe/0,1518,680955,00.html
Siehe dazu auch Abschnitt V.2.1 dieser Verfassungsbeschwerden.
Noch offizieller wird dies bewiesen durch die Erklärung der Regierungschefs zum Gipfel der Eurozone vom 21.07.2011 (Abschnitt III.22 dieser Verfassungsbeschwerden), wonach die „Finanzstabilität“ (also die Bankenrettung) weit vor der „Konvergenz“ (dort als Metapher für den Stabilitäts- und Wachstumspakt) kommt. Auch die „unumstößliche Entschlossenheit“ der Regierungschefs zur Erfüllung aller Auflagen zu Struktureformen beweist, dass es nicht um die Stabilität der öffentlichen Finanzen geht.
Der Brief der deutschen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Seiner Exzellenz, des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, vom 17.08.2011 an Herman van Rompuy, den Präsidenten des Europäischen Rates, beweist, dass diese Struktureformen „insbesondere in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik, Wettbewerb im Dienstleistungsbereich und Rentenpolitik“ als besonders wichtig ansehen, da sie in dem Brief eine unverbindliche Absichtserklärung aller Staaten der Eurozone einfordern, Empfehlungen zu Struktureformen in diesen Bereichen vollständig umzusetzen.
Bei der Rentenpolitik dürfte es sich um den Wechsel zu Mehrsäulensystemen (staatliche Minimalrente, der Rest privat) handeln (vgl. insbesondere Abschnitte V.3, V.4, V.6 und V.8 dieser Verfassungsbeschwerden), bei der Arbeitsmarktpolitik um die Lockerung des Kündigungsschutzes ganz im Sinne von Flexicurity (Abschnitte III.15, V.16 und VIII.4 dieser Verfassungsbeschwerden) und der Veröffentlichung des IWFs vom 22.11.2010 (Abschnitt VI.1.3 dieser Verfassungsbeschwerden).
Beim „Wettbewerb im Dienstleistungsbereich“ dürfte es um die Öffnung aller Dienstlestungen für den Weltmarkt gehen (siehe Abschnitte V.11 und V.19 dieser Verfassungsbeschwerden).
Auch die Rede „Global Risks Are Rising, But There Is a Path to Recovery“ von Christine Lagarde, der Geschäftsführenden Direktorin des IWF, vom 27.08.2011 beweist, dass die befristete linear-degressive Anrechnung von Steuerzuschüssen für Wechsel auf Mehrsäulensysteme in der Sozial-versicherung dafür da ist, den Übergang auf solche Mehrsäulensysteme durchzusetzen:
„The precise path is different for each country. But to meet the credibility test, each country
needs a dual focus: a primary emphasis on durable measures that will deliver savings tomorrow
which, in turn, will help to create as much space as possible for supporting growth today—at least
by permitting a slower pace of consolidation where possible. For instance—measures that change
the rate of growth of entitlements, health or retirement.“
http://www.imf.org/external/np/speeches/2011/082711.htm
V.16 der Zusammenhang mit Europa 2020
Die „Europa 2020 – Strategie“ ist eine wirtschaftspolitische Strategie der EU, die als Nachfolgerin der „Lissabon-Strategie“ vorgesehen ist. Die „Lissabon-Strategie“ wollte die EU zur wettbewerbsstärksten wissensbasierten Wirtschaftsregion der Welt machen.
Die in Abschnitt VI.1.1 dieser Verfassungsbeschwerden zitierte Studie des WIFO-Instituts geht auf den S. 9-10 und 20-22 auf Europa 2020 ein.
Der Zusammenhang mit dieser Verfassungsbeschwerden besteht darin, dass bisher der Ministerrat lediglich, gestützt auf Art. 121 AEUV, unverbindliche „integrierte Leitlinien“ beschließen kann, sowie „Warnungen“ und unverbindliche Empfehlungen aussprechen kann, soweit EU-Mitgliedsstaaten sich dann nicht an diese „integrierte Leitlinien“ halten – alles ohne jegliche Sanktionen. Denn für Sanktionen enthält Art. 121 AEUV keinerlei Rechtsgrundlage.
Art. 121 AEUV hat den Sinn der engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU-Mitglieder, aber ohne jegliche Zwangsmaßnahmen. Darum knüpfen sowohl die wirtschaftspolitischen Strategien der EU, als auch die präventive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspakte (EU-Verordnung 1466/97) an Art. 121 AEUV an.
Mit dem Umbau des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung hingegen will die EU-Kommission nun auch im Rahmen der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes die Sanktionsbewehrung. Eine solche Sanktionsbewehrung will man auf Art. 136 Abs. 3 AEUV und auf Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt stützen.
Der Studie des WIFO-Instituts zufolge definitiert die Europa 2020 – Strategie die folgenden „unmittelbaren Prioritäten“:
„• Festlegung einer glaubwürdigen, zeitlich abgestimmten Ausstiegsstrategie aus den konjunkturstützenden Maßnahmen.
• Intelligente Konsolidierung der Haushalte mit der Prioritätenfestlegung für wachstums- und
beschäftigungsfördernde Maßnahmen verbunden.
• Koordinierung der Wirtschafts- und Währungsunion im Hinblick auf makroökonomische
Ungleichgewichte und die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten.“
Die „Europa 2020 – Strategie“ will also, in Verbindung mit Art. 121 AEUV, unverbindliche „integrierte Leitlinien“, „Warnungen“ und „Empfehlungen“. Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich bewusst auf diese Strategie ohne Zwang, nur mit Lob und Tadel als Anreizen zur Umsetzung von Europa 2020, eingelassen. In den „unmittelbaren Prioritäten“ ist auch keine Rede von der Verbind-lichmachung (mittels Sanktionsbewehrung) innerhalb der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bzgl. des Rechtsinstruments der Empfehlung. Es ist keine Rede davon, auf diese Weise der EU-Kommission über die Ungleichgewichtsverfahren (Art. 9 Fiskalpakt, Abschnitte V.1, V.5 und V.7 dieser Verfassungsbeschwerden) den Zugriff auf alle beliebigen Zuständigkeiten der Lohn-, Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Eurozone zu verschaffen. Und erst recht ist keine Rede davon, der Kommission auf diese Weise einen Mechanismus zu schenken, mit der sie buchstäblich alles heute unveräußerliche exportierbar machen kann.
Auch auf S. 20 + 21 zeigt die WIFO-Studie deutlich, dass das Ziel, die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu verringern, von der Europa 2020 – Strategie stammt. Aber nicht, wie von der WIFO-Studie und der EU-Kommission gewollt, mit verbindlichen und sanktionsbewehrten Empfehlungen, Allkäuflichkeit und Errichtung einer halbdiktatorischen EU-Wirtschaftsregierung.
Der auf dem Gipfel vom 24./25.03.2011 vereinbarte Euro-Plus-Pakt (Abschnitt III.15 dieser Verfassungsbeschwerden) zeigt die Verbindung zwischen Europa 2020 und EU-Wirtschaftsregierung auf.
Nach Leitvorgabe c) des Euro-Plus-Paktes müssten die Regierungschefs der Staaten der Eurozone und der außerdem freiwillig weiteren am Euro-Plus-Pakt teilnehmenden EU-Mitgliedsstaaten jedes Jahr im Europäischen Rat einander Versprechen für Reformen zur Erreichung der Ziele des Euro-Plus-Paktes machen, wobei Leitvorgabe a) feststellt, dass die Versprechen sich im Rahmen der Strategie Europa 2020, des Europäischen Semesters, der Integrierten Leitlinien, des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des neuen Rahmens für die Überwachung der Wirtschaftspolitik (letzteres offenbar als eine Umschreibung der Ungleichgewichtsverfahren) halten müssen.
Die Regierungschefs wären bei ihren Versprechen also auch an die eigentlich unverbindliche Strategie Europa 2020 gebunden. Über die Erfüllung der Versprechen wiederum wäre an die EU zu berichten (siehe Abschnitt III.15 dieser Verfassungsbeschwerden). Und das würde erheblich in die Inspiration der EU-Kommission (alias EU-Wirtschaftsregierung) einfließen für deren bußgeldbewehr-te Sanktionen im Rahmen der Ungleichgewichtsverfahren und der Neuregelung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Auf diese Weise würde die Europa 2020 – Strategie, welche sich in ihrer Eigenschaft als eine Wirtschaftsstrategie der EU primärrechtlich auf Art. 121 AEUV stützt, jederzeit nach dem Gutdünken der EU-Kommission durch Aufnahme in deren bußgeldbewehrte Empfehlungen de-facto verbindlich gemacht werden gegenüber den Mitgliedsstaaten der Eurozone.
Über die Erwägungsgründe 3 + 7 sowie Art. 6 Abs. 1+5 von EU-Verordnung 385/2011 (COD) (Abschnitt VI.2.1 dieser Verfassungsbeschwerden) würden alle Empfehlungen nach Art. 121 (vor allem Ungleichgewichtsverfahren und präventive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspates), Art. 126 AEUV (Defizit- und Gesamtschuldenkriterium des Stabilitäts- und Wachstumspaktes) und Art. 148 AEUV (Beschäftigungspolitik) iwf-artig streng verschärft und mit der Kürzung von EU-Fördermitteln als Sanktionen belegt.
Außerdem würde die Europa 2020 – Strategie durch den ESM mit durchgesetzt, weil die Auflagen im Rahmen des ESM ausdrücklich mit den Beschlüssen, Versprechungen etc. aus der „freiwilligen“ Koordinierung der EU-Wirtschaftspolitik vereinbar sein müssten.
Die de-facto Verbindlichmachung der Europa 2020 – Strategie mittels sanktionsbewehrter Mechanismen, obwohl Art. 121 AEUV nur als Grundlage vorgesehen ist, für nicht sanktionsbewehrte Koordinierung der Wirtschaftspolitik, ist eine dramatische Machtverschiebung weg von den nationalen Parlamenten hin vor allem zur EU-Kommission und daneben auch hin zu den Regierungschefs im Europäischen Rat. Der Bundestag hat der Europa 2020 – Strategie nie zugestimmt, würde aber über die bußgeldbewehrten Empfehlungen nach Gutdünken der Kommission in Defizitverfahren im Rahmen der Neuregelung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und in Ungleichgewichts- verfahren dazu gezwungen, bei der Gesetzgebung sich an diese Strategie zu halten.
Das ist ein mit dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG) unvereinbares Maß an Entleerung der Macht des Bundestags.
V.17 Erkenntnisse aus dem Gutachten „Überschuldung und Staatsinsolvenz in der Europäischen Union“ des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium bzgl. des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
Schon in Abschnitt IV.6.8 dieser Verfassungsbeschwerden hat die Beschwerdeführerin angemerkt, dass das Gutachten die Auswirkungen der Kreditauflagen im Rahmen eines Staateninsolvenzverfahrens, wie es der Erklärung der Eurogruppe vom 28.11.2010 vorschwebt, auf die Menschen in den Schuldnerländern nicht hinreichend beleuchtet. Entsprechendes gilt für die Auswirkungen der „Empfehlungen“ im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Beides scheint nicht im Gutachtenauftrag enthalten gewesen zu sein. Aus solch einer eingeschränkten Perspektive heraus erklärt sich, dass das Gutachten sich aus S. 40 des Abschnitts „4. Fazit“ ausspricht für die Einführung der umgekehrten Abstimmung bzgl. der Sanktionen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Das tun die Gutachter offenbar auch aus dem Bewusstsein heraus, dass es bisher noch zu keiner einzigen Festsetzung eines Bußgeldes im Rahmen der Defizitverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gekommen sei (S. 28 und Fußnote 36). Außerdem spricht sich das Gutachten für eine Ausdehnung des Defizitverfahrens auf das Gesamtschuldenkriterium des Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV aus und stellt dazu im Abschnitt „3.1.1 Stärkung des 60-Prozent-Schuldenstandskriteriums“ auf S. 30-32 eine Berechnungsmethode vor. Auf S. 29+30 sprechen sich die Gutachter darüber hinaus für die Stärkung der präventiven Komponente aus, sehen dabei aber bereits erhebliche Gefahren bzgl. ultra-vires.
Den Sinn der Verordnungsentwürfe bzgl. der wirtschaftlichen Ungleichgewichte verorten sie in der „Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit“ durch die EU und sagt dazu auf S. 29:
„Es ist derzeit nicht zu erkennen, dass diese Ansätze nennenswerte Wirkungen haben werden.“
Damit sagen die Gutachter, dass die Verordnungsentwürfe zu den wirtschaftlichen Ungleichgewichten keinen Sinn haben in Zusammenhang mit der Stabilität der Haushalte der Euro-Mitgliedsstaaten und damit indirekt der Stabilität des Euro.
Dass die Kommission damit die Blankett-Ermächtigung haben will, alles exportierbar machen zu können, blenden sie aber aus.
Außerdem sprechen sich die Gutachter auf S. 36 gegen die von der deutschen Bundesregierung ins Spiel gebrachte Streichung von Strukturmitteln als Sanktion im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und auf S. 37 gegen die Stimmrechtsaussetzung von Schuldnerstaaten im Ministerrat aus, die sie weder als klug noch als durchsetzbar ansehen.
Das Gutachten trifft keine Aussage dazu, inwieweit die Vorstellungen der Gutachter Vertragsänderungen des EU-Primärrechts erfordern würden, und inwieweit sie mit dem Grundgesetz zusammen passen. Und es wird in keiner Weise darauf eingegangen, wie schon bisher Staaten der Eurozone durch drohende Bußgelder im Rahmen eines Defizitverfahrens des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unter Druck gesetzt wurden und werden, Ziele der EU-Kommission, die mit der Haushaltssanierung überhaupt nichts zu tun haben, zu erfüllen.
V.18 Gefahr des Machtmißbrauchs von Regierungen der Staaten der Eurozone durch die Umgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu Lasten der nationalen Parlamente
Auch wenn sämtliche bußgeldbewehrten „Empfehlungen“ im Rahmen der Umgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung von der EU-Kommission (oder wer auch immer dieser alles zuarbeiten mag) kommen würde, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass die Entscheidung über die „Empfehlungen“ immer noch beim EU-Ministerrat läge. Damit wäre, trotz Ausschluss des Stimmrechts des jeweils betroffenen Staates der Eurozone, faktisch die Möglichkeit gegeben, politische Entscheidungen, über welche sich die Mehrheit der mitgliedsstaatlichen Regierungen der Eurozone sich einig wäre, welche aber in den nationalen Parlamenten oder auch in der gesamten EU keine Aussicht auf Zustimmung hätten, gegenüber der EU-Kommission anzuregen, die sich vermutlich über solche Anregung für eine zusätzliche Entfaltung ihrer Macht freuen würde. So hätten die mitgliedsstaatlichen Regierungen einen Hebel, die legislative Macht ihrer Parlamente beliebig auszuhebeln, da die „Empfehlungen“ im Rahmen des Stabiliäts- und Wachstumspaktes in keiner Weise explizit sachlich begrenzt wären, zumindest aber den Zugriff der EU auf alle Fragen der Lohn-, Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Staaten der Eurozone betreffen würden.
Die größte Macht als EU-Wirtschaftsregierung würde jedoch bei der EU-Kommission liegen, schon angesichts der umgekehrten Abstimmung.
V.19 zum Begriff der „nicht handelbaren Güter“ und zur Bedeutung von deren Exportierbarmachung
Die Verordnung über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (Az. KOM (2010) 527 endgültig, siehe Abschnitt V.7 dieser Verfassungsbeschwerden) durch das Ungleichgewichtsverfahren über sanktionsbewehrte Empfehlungen der EU-Kommission
„ signifikante Veränderungen der relativen Preise und Kosten und eine Reallokation von Angebot und Nachfrage zwischen dem Sektor nichthandelbarer Güter und der Exportwirtschaft“ durchsetzen. Darum ist eine genauere Betrachtung erforderlich bzgl. der Frage, was nicht handelbare Güter sind.
Im Wikipedia-Lexikon taucht der Begriff in Zusammenhang mit dem „Balassa-Samuelson-Effekt“ auf. Dort ist die Unterscheidung zwischen handelbaren und nicht handelbaren Gütern von Bedeutung bzgl. der Produktivitätsunterschiede zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern vor allem bei den handelbaren, aber weniger bei den nicht handelbaren Gütern, und welche Folgen das hat. Der Begriff der Güter umfasst in diesem Zusammenhang nicht nur Herstellung und Handel von körperlichen Gegenständen, sondern auch Dienstleistungen. Handelbare Güter sind hier solche, welche auf international gehandelt werden können. Als Beispiele für nicht handelbare Güter nennt das Wikipedia-Lexikon hier die Dienstleistungen von Friseuren und Restaurants, welche jeweils nur vor Ort und nicht grenzüberschreitennd erbracht werden können. Handelbare Güter sind dabei tendenziell wettbewerbsfähiger, weil sie auch dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, und weil international tätige Unternehmen größer sind und damit niedrigere Stückkosten pro Einheit der erbrachten Leistung haben. Der Balassa-Samuelson-Effekt stellt dar, wie sich daraus mathematisch die höhere Inflation bei den nicht-handelbaren Gütern ergibt, deren Kosten sich auch weniger drücken lassen.
In einer Besprechung des Buches „Kapitalismus contra Kapitalismus“ von Michel Albert arbeitet das Wikipedia-Lexikon Unterschiede zwischen einer angelsächsischen und einer rheinischen Form (dürfte in etwa der Sozialen Marktwirtschaft entsprechen) der Marktwirtschaft heraus. Beide dort dargestellten Wirtschaftsformen hätten dabei die gleichen Vorstellung (mit Ausnahme der wirtschaftlichen Einstufung der Religionsgemeinschaften) hinsichtlich der nicht handelbaren Güter, aber unterschiedliche Vorstellungen bzgl. der Abgrenzung zwischen handelbaren und bedingt handelbaren Gütern. Dabei wird der Begriff der „nicht handelbaren Güter“ im Sinne von staatlichem Eigentum oder von Gemeinnützigkeit verwendet. Religionsgemeinschaften seien im rheinischen Modell stets nicht handelbar (weil gemeinnützig), im angelsächsischen Modell bedingt handelbar (also dort auch Möglichkeit wirtschaftlich wie Firmen organisierter Religionsgemeinschaften). Als gemischte, also bedingt handelbare Güter werden solche beschrieben, die es sowohl in handelbarer, als auch in nicht handelbarer Form gibt. Als im rheinischen Kapitalismus bedingt handelbare Güter beschreibt die Rezension Unternehmen (darunter nicht handelbar die Unternehmen der staatlichen Daseinsvorsorge incl. des staatlichen Teils des ÖPNV), Wohnungen (teilweise auch staatlich), Medien (da auch öffentlich-rechtliche vorhanden), Bildungswesen (starker öffentlicher Anteil), Gesundheits- und Rechtswesen (letztere jeweils in starkem Umfang aus sozialen Zielen staatlich reguliert).
Von den hoheitlichen Leistungen des Staates steht in der Buchrezension nichts. Diese scheinen auch im dort vorgestellten angelsächsischen Modell ganz selbstverständlich keine handelbaren Güter zu sein, möglicherweise noch nicht einmal dem Begriff der Güter zu unterfallen.
Es gibt somit keine einheitliche, sondern mehrere unterschiedliche Definitionen der nicht handelbaren Güter. Wenn die EU nun die Möglichkeit haben will, über die Ungleichgewichtsverfahren alle beliebigen bisher nicht handelbare Güter exportierbar zu machen, dann geht es um mehrere Dinge:
1. bisher wegen ihrer ortsgebundenen Erbringungsweise als nicht handelbare Güter klassifizierte Leistungen international handelbar zu machen
2. öffentliche Daseinsvorsorge (siehe auch Art. 14 AEUV) und hoheitliche Einrichtungen (siehe auch Art. 2 von Protokoll 26 zu den Verträgen der EU) zu privatisieren und international handelbar zu machen
3. bisher gemeinnützige Organisationen in die Kommerzialisierung ihrer Tätigkeit zu zwingen
4. bisher nur unentgeltlich erbrachte Leistungen und freie Güter käuflich und international handelbar zu machen
Für die Macht der EU ist die grenzüberschreitende Erbringungsweise von entscheidender Bedeutung, weil die EU sich dann auf Grund ihrer Binnenmarktkompetenz und ihrer Außenhandelskompetenz primärrechtlich legislative Zuständigkeiten ableiten kann, was bei vielen nicht grenzüberschreitend, rein staatlich oder unentgeltlich erbrachten Leistungen nicht der Fall ist.
Zu Beispielen, was bei einer vollständigen Ausschöpfung einer Blankett-Ermächtigung zur Exportierbarmachung aller beliebigen bisher nicht handelbaren Güter, siehe Abschnitt V.11 dieser Verfassungsbeschwerden.
V.20 die bisherige Schuldenbremse des Grundgesetzes und die EU-Wirtschaftsregierung
Im Rahmen der Föderalismusreform 2 wurde, mit unterschiedlichen Übergangsfristen (Art. 143d GG) eine Schuldenbremse ins Grundgesetz eingebaut durch Änderung der Artikel 109 GG und 115 GG. Den hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden geht es nicht darum, ob möglicherweise bereits die Schuldenbremse in der im Rahmen der Föderalismusreform 2 geschaffenen Form verfassungswidriges Verfassungsrecht sein könnte, weil sie die Haushaltsautonomie der Länder quantitativ be- grenzt, wie dies z. B. in dem Referat „Die Haushaltswirtschaft der Länder – verfassungsrechtliche Grenzen einer Schuldenbremse“ von Prof. Dr. Hans-Peter Schneider (verdi-Tagung vom 16.04.2009 zur Schuldenbremse) im Hinblick auf das Strukturprinzip Föderalismus vertreten wurde. Dazu gab es eine Klage des Landtags von Schleswig-Holstein (Az. 2 BvG 1/10); diese wurde mit Urteil vom 19.08.2011 als unzulässig verworfen, weil beim Bund-Länder-Streit nur die Landesregierungen, nicht aber die Landtage, antragsberechtigt sind (§68 BVerfGG). Im Rahmen der hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden dürfte die Frage der Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Schuldenbremse jedenfalls nicht klärungsfähig oder klärungsbedürftig sein.
Es geht vielmehr um die heutige Bedeutung von Art. 109 Abs. 2 GG und Art. 109 Abs. 5 GG für den Stabilitäts- und Wachstumspakt, und inwieweit diese durch die Zustimmungsgesetze zum ESM und zum Fiskalpakt, durch das StabMechG sowie durch die an diese anknüpfenden EU-Verordnungen (Abschnitte V.3 bis V.7 und VI.2 dieser Verfassungsbeschwerden) zu verfassungswidrigem Verfassungsrecht würden.
Art. 109 Abs. 2 GG hat heute folgenden Wortlaut:
„Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin und tragen in diesem Rahmen den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung.“
Art. 109 Abs. 2 GG ist als Muss-Vorschrift („erfüllen“) formuliert. Art. 104 EGV ist heute umnummeriert in Art. 126 AEUV. Der Bezug besteht also (Art. 126 Abs. 2 AEUV) zum Defizitkriterium und zum Gesamtschuldenkriterium des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Nicht genannt wird Art. 121 AEUV. Damit stellt Art. 109 Abs. 2 GG keinerlei Bezug her zur präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, zum Ungleichgewichtsverfahren und zu sämtlichen anderen auf Art. 121 AEUV gestützten Verfahren der EU wie z. B. den integrierten Leitlinien, der Strategie Europa 2020 und dem Euro-Plus-Pakt (Abschnitt III.15 dieser Verfassungsbeschwerden). Auch zu Art. 136 AEUV und zu Art. 148 AEUV nimmt Art. 109 GG keinen Bezug.
Da von „Rechtsakten“ der „Europäischen Gemeinschaft“ die Rede ist, sind offensichtlich sekundärrechtliche Akte, welche auf dem Primärrecht des AEUV beruhen würden, gemeint. Das umfasst die in Art. 288 AEUV genannten Rechtsakte. Darunter ist die EU-Verordnung 1467/97 zur korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Darunter sind auch die Empfehlungen im Rahmen der korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes – dem Grunde nach.
Nicht ganz eindeutig ist der Terminus der „Verpflichtung“ in Art. 109 Abs. 2 GG. Mit Sicherheit umfasst er die heute schon bußgeldbewehrten Empfehlungen im Rahmen von Defizitverfahren zum Defizitkriterium. Unklar jedoch ist, ob der Begriff „Verpflichtungen“ auch die nicht bußgeldbewehrten, und damit durch die EU nach heutiger eu-primärrechtlicher Rechtslage nicht erzwingbaren, Empfehlungen zum Gesamtschuldenkriterium (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV) umfasst. Auch wenn die EU-Verordnung 1467/ 97, zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung, so geändert wurde, dass sie das Defizitverfahren und damit auch dessen Bußgeldbewehrung auf das Gesamtschuldenkriterium ausgedehnt hat (Abschnitt V.4 dieser Verfassungsbeschwerden), so stützt sich die Bußgeldbewehrung zum Gesamtschuldenkriterium jedoch weiterhin nicht auf Art. 126 AEUV, sondern auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 AEUV und auf Art. 3 Fiskalpakt; es ist weiterhin uneindeutig, ob Art. 109 Abs. 2 GG sich dann auch auf Empfehlungen im Rahmen des Gesamtschuldenkriteriums beziehen würde. Eindeutig wäre dies nur der Fall, wenn sowohl die Empfehlungen, als auch die Sanktionen zum Gesamtschuldenkriterium ihre primärrechtliche Rechtsgrundlage in Art. 126 AEUV bekämen.
Die Beschwerdeführerin ist hierzu der Rechtsauffassung, dass Art. 109 Abs. 2 GG Bund und Länder verpflichtet auf die eu-sekundärrechtlichen Akte zum Defizitkriterium incl. der bußgeldbewehrten Empfehlungen zu diesen.
Art. 109 Abs. 2 GG hat einen einfachen grundgesetzlichen Rang. Er steht offensichtlich nicht unter dem Schutz der Ewigkeitsgarantie, ist insbesondere kein Bestandteil des unantastbaren (Rn. 216+217 des Lissabonurteils) Strukturprinzips Föderalismus, zumal er der Autonomie der Bundesländer Grenzen setzt. Damit hat Art. 109 Abs. 2 GG über lex specialis Vorrang vor allen anderen Vorschriften mit einfachem grundgesetzlichem Rang, welche also ebenfalls weder direkt noch indirekt über Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sind, und die weniger speziell sind als Art. 109 Abs. 2 GG. Da kein anderer Grundgesetzartikel eine Verbindung nach Art. 126 AEUV zieht, ist Art. 109 Abs. 2 GG insoweit am speziellsten. Auch gegenüber dem „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ (mag. Viereck) sind die Verpflichtungen aus Art. 126 AEUV gem. Art. 109 Abs. 2 GG ausdrücklich vorrangig. Art. 109 Abs. 2 GG verpflichtet jedoch zugleich mit einfachem grundgesetzlichem Rang auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht.
Nachrangig ist Art. 109 Abs. 2 GG jedoch hinter den Strukturprinzipien (incl. als Teil des Strukturprinzips Rechtsstaatlichkeit der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit als solcher der universellen Menschenrechte, siehe Abschnitt VII.12 dieser Verfassungsbeschwerden), Grundrechten, grundrechtsgleichen Rechten und abgeleiteten Grundrechten, und den Staatsaufträgen Friedensgebot (Art. 1 Abs. 2 GG) und europäische Integration (Art. 23 GG) des Grundgesetzes sowie hinter dem nicht auf die GASP bezogenen Teil des EU-Primärrechts (Abschnitte VII.1 und VII.5 dieser Verfassungsbeschwerden). Das über Art. 109 Abs. 2 GG stehende Recht setzt der Anwendung des Art. 109 Abs. 2 GG damit Grenzen. Art. 109 Abs. 2 GG verpflichtet Deutschland also nur insoweit direkt auf die Empfehlungen aus dem Defizitverfahren in Zusammenhang mit dem Defizitkriterium des Art. 126 AEUV, wie diese Empfehlungen mit dem gesamten über Art. 109 Abs. 2 GG stehenden Recht vereinbar sind.
Insbesondere setzt auch die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit (auch bzgl. der unmittelbaren Anwendung und des Rangs) der universellen Menschenrechte („in der Welt“) als Teil des unantastbaren (Rn. 216+217 des Lissabonurteils) Strukturprinzips Rechtsstaatlichkeit (siehe Abschnitt VII.12 dieser Verfassungsbeschwerden) der Anwendung von Art. 109 Abs. 2 GG Grenzen.
Die Verpflichtung Deutschlands auf die AEMR und auf die von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen steht unter dem Schutz der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG), welche wiederum von der AEMR inspiriert ist (Rn. 218 des Lissabonurteils, Wernicke-Kommentar zu Art. 1 GG, siehe insbesondere Abschnitte VII.6 und VII.9.1 dieser Verfassungs-beschwerden).
Damit setzen auch alle in Deutschland geltenden universellen Menschenrechte der Anwendung der Empfehlungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Grenzen, da die Verbindung zu den universellen Menschenrechten aus dem unantastbaren Bereich des Grundgesetzes heraus besteht, die Verbindung zum EU-Sekundärrecht bzgl. des Defizitkriteriums bzw. des Defizitverfahrens hingegen nur aus dem einfachen grundgesetzlichen Bereich heraus.
Der hinreichende Raum für die Umsetzung der universellen Menschenrechte, den Art. 1 Abs. 2 GG für Deutschland normiert, und den Leitsatz 3 des Lissabonurteils anerkannt hat, lässt sich auch nur durch den Vorrang der universellen Menschenrechte vor dem EU-Sekundärrecht bewahren (siehe Abschnitt VII.6 dieser Verfassungsbeschwerden).
Art. 126 AEUV ist natürlich vorrangig vor den universellen Menschenrechten (siehe Abschnitte VII.1 und VII.6 dieser Verfassungsbeschwerden). Darum können die universellen Menschenrechte die Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dem Grunde nach, soweit er sich nicht auf Blankett-Ermächtigungen stützt, auch nicht hindern. Wohl aber setzen sie sämtlichem EU-Sekundärrecht, also auch sämtlichen EU-Verordnungen und Empfehlungen und neuerdings auch sanktionsbewehrten Meinungen (Abschnitt VI.2.2 dieser Verfassungsbeschwerden) Grenzen, und zwar auf der nationalen Ebene, wo sämtliches für Deutschland verbindliches Völkerrecht soweit möglich miteinander in Einklang zu bringen ist, und das jeweils niedrigerrangigere genau insoweit unangewendet zu bleiben hat, wie das notwendig ist, um das jeweils höherrangigere noch zu erfüllen.
Aus Gründen äußerster Vorsicht wird an dieser Stelle auch auf den Begriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ aus Art. 109 Abs. 2 GG eingegangen. Dieser Rechtsbegriff war schon Teil von Art. 109 GG, als es weder einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, noch einen Euro oder eine Schuldenbremse gab. Er wird definiert in §1 Stabilitätsgesetz (StabG). §1 StabG verpflichtet Bund und Länder „bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“
Aus Art. 109 Abs. 2 GG lässt sich also insbesondere auch keinerlei Verbindung zu dem Ungleichgewichtsverfahren, welches als Kernstück für die Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung geplant ist, herstellen.
Art. 109 Abs. 5 GG legt fest, dass Bund und Länder die in Art. 104 EGV (heute Art. 126 AEUV) normierten Sanktionen zu tragen haben, und wie diese finanziellen Lasten auf Bund und Länder zu verteilen sind. Diese Verpflichtung betrifft ausschließlich die in Art. 126 Abs. 11 AEUV ausdrücklich genannten Sanktionen im Defizitverfahren bzgl. des Defizitkriteriums des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Die Instrumentalisierung von EU-Fördermitteln (Abschnitte III.14, VI.1. bis VI.2.1 und VI.3 dieser Verfassungsbeschwerden) sind damit offensichtlich nicht umfasst. Für die geplanten Sanktionen in Zusammenhang mit dem Gesamtschuldenkriterium (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV) öffnet Art. 109 Abs. 5 AEUV die einfache grundgesetzliche Ebene damit ebenfalls nicht, da die Sanktionen dazu auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 AEUV bzw. auf Art. 3 Fiskal-pakt (und nicht auf Art. 126 AEUV) gestützt würden, und auch nicht gegenüber Sanktionen in Zusammenhang mit der präventiven Komponente und dem Ungleichgewichtsverfahren und auch NICHT gegenüber den EU-Verordnungen zur haushaltsmäßigen Überwachung (Abschnitt VI.2 dieser Verfassungsbeschwerden), da deren Sanktionen ebenfalls auf Art. 136 Abs. 3 AEUV bzw. Art. 3 Fiskalpakt (präventive und Gesamtschuldenkomponente), Art. 5 Abs. 2 Fiskalpakt (haushaltsmäßige Überwachung) und Art. 9 Fiskalpakt (Ungleichgewichtsverfahren) (und nicht auf Art. 126 AEUV) gestützt würden, abgesehen davon, dass die präventive Komponente und das Ungleichgewichtsverfahren sich ansonsten, abgesehen von ihrer Sanktionierbarkeit, auf Art. 121 AEUV und Art. 136 AEUV und nicht auf Art. 126 AEUV beziehen würden.
Durch die in Abschnitt VI.2.1 dieser Verfassungsbeschwerden erörterte EU-Verordnung 385/2011 (COD) würden auch alle Auflagen incl. der zur korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, auf eine IWF-artige Strenge verpflichtet (Erwägungsgründe 3+7 und Art. 6 Abs. 1+5 der Verordnung, siehe insbesondere Abschnitte III.4, III.14 und VI.1. dieser Verfassungsbeschwerden), und damit auf die Ignorierung sämtlicher Grund- und Menschenrechte der Einwohner der Schuldnerstaaten.
Nach Art. 3 Abs. 2 Fiskalpakt würden die Mitgliedsstaaten des Fiskalpaktes, so auch Deutschland, verpflichtet, den Inhalt von Art. 3 Abs. 1 Fiskalpakt (siehe Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) in ihre Verfassung aufzunehmen. Das würde dem Wortlaut des Art. 3 Fiskalpakt nach bedeuten, die einfach-grundgesetzliche Ebene über eine Änderung von Art. 109 GG nun auch noch für das Gesamtschuldenkriterium und für die präventive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht nur zu öffnen, sondern Art 109 GG würde, erzwungen über Art. 3 Fiskalpakt und Art. 8 Fiskalpakt, auch noch zur Rechtsgrundlage für die in den Abschnitten V.3, V.4 und V.6 dieser Verfassungsbeschwerden genannten EU-Verordnungen zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Art. 109 Abs. 2 + Abs. 5 GG würde dadurch zu verfassungswidrigem Verfassungsrecht, weil so eine mit erheblichsten Teilen der Verfassungsidentität unvereinbare Vorschrift (Abschnitte IX. und X. dieser Verfassungsbeschwerden) ins Grundgesetz eingebaut würde, welche darüber hinaus Grundlage zur Umgehung des EU-Primärrechts hinsichtlich des Stabilitäts- und Wachstumspakts wäre.
Es würde durch den Fiskalpakt, einen intergouvernementalen Vertrag mit einfach-völkerrechtlichem Rang außerhalb des EU-rechtlichen Raums, eine Grundlage geschaffen, um die Staaten der Eurozone vor dem EUGH, dem höchsten Gericht der EU, darauf zu verklagen, auf einfach-verfassungsrechtlicher Ebene unter Umgehung des EU-Primärrechts und der dafür vorgeschriebenen Änderungsver-fahren ebenso wie unter Umgehung des Bundesverfassungsgerichts, zusätzliche im EU-Primärrecht nicht vorhandene Ermächtigungen zur Schaffung von EU-Sekundärrecht einzubauen.
Darüber hinaus ist der Versuch, die einfach-grundgesetzliche Ebene zu instrumentalisieren zur Umgehung des nicht auf die GASP bezogenen Teils des EU-Primärrechts, unvereinbar mit Rn. 240 des Lissabon-Urteils.
V.21 die Änderungswünsche des Europaparlaments bzgl. der Verordnungen zur Errichtung der Wirtschaftsregierung
Am 23.06.2011 hat das Europaparlament seine Änderungsvorschläge zu den in den Abschnitten V.3 bis V.7 dieser Verfassungsbeschwerden veröffentlicht.
Laut dem taz-Artikel „Absage an Finanzmarktsteuer und Konjunkturprogramme“ vom 19.09.2011 hatte sich das Europaparlament bis dahin auf die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes geeinigt.
Am 28.09.2011 hat das Europaparlament die 5 Verordnungsentwürfe beschlossen. Auch die Rede des EU-Kommissionspräsidenten Jose Manuel Barroso vor dem Parlament am gleichen Tag bestätigt, dass sich die Fassung, über welche an dem Tag vom Parlament beschlossen wurde, sich nicht wesentlich vom ursprünglichen Entwurf der Kommission unterschied.
Die wichtigsten vom Europaparlament am 28.09.2011 beschlossenen Änderungen im Vergleich zum Entwurf der Kommission sowie die einzelnen Fundstellen dazu sind in den Abschnitten V.3 bis V.7 dieser Verfassungsbeschwerden dargestellt.
V.22 die Enteignung der privaten Rentenversicherungsansprüche in Ungarn
Die Pressemitteilung des Ministerrats „Council finds Hungary's action on excessive deficit insufficient“ (Az. 5654/12) vom 24.01.2012 beweist, dass auch noch der Zugriff auf die kompletten privaten Rentenversicherungsansprüche geplant ist.
www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/pressdata/en/ecofin/127501.pdf
In der Pressemitteilung beklagt sich der Ministerrat darüber, dass Ungarn seit 2004 im Defizitverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sei, doch wiederholt keine effektiven, vor allem auch nicht alle vorgeschlagenen, Maßnahmen zur Senkung des Defizits auf unter 3% des BIP ergriffen habe. Aus der Mitteilung geht auch hervor, dass Ungarn im November 2008 insgesamt 20,- Mrd. € erhalten hat, davon 6,5 Mrd. € von der EU, den Rest von „international lenders“. Unter letzteren ist, wie die Beschwerdeführerin der taz entnommen hat, auch der IWF. In 2011 habe Ungarn einen Haushaltsüberschuss erzielt von 3,6% des BIP, welche aber vor allem auf Einmaleffekten von 10 % des BIP beruhten, darunter vor allem aus der Verstaatlichung der privaten Rentenversicherungsansprüche. Für 2012 prognostiziert die Kommission laut der Pressemitteilung des Ministerrats ein Defizit von 2,8 % des BIP, aber wieder durch Einmaleffekte, und 2013 werde das Defizit Ungarns wieder mit 3,7 % prognostiziert. Obwohl Ungarn es vor allem auch mit drastischen Enteignungen zwei Jahre in Folge geschafft hat, das Defizitkriterium des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einzu-halten, entlässt man das Land nicht aus dem Defizitverfahren, weil das ja nur in 2013 wieder auslaufende Einmaleffekte seien, und planmäßige Strukturreformen unzureichend spezifiziert seien. Die Hinhaltetaktik bis zum Inkrafttreten des Fiskalpaktes, der auch EU-Mitgliedsstaaten ohne Euro offen steht (Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden), ist offensichtlich. Auffallend ist auch, dass der Ministerrat der angeblich so liberalen EU sich mit keinem Wort daran stört, dass das in der bürgerlich-liberalen Menschenrechtstradition bei vielen ähnlich hoch wie das Recht auf Leben geschätzte Recht auf Eigentum bei der Enteignung der privaten Rentenversicherungsansprüche in der Mitteilung mit keinem Wort würdigt. Wenn es um die Finanzstabilität der Großbanken geht, scheinen nicht nur bürgerliche Freiheitsrechte vergessen, sondern ebenso die Frage, ob man Wettbewerbs- oder Zentralverwaltungswirtschaft will, Hauptsache die Finanzstabilität der Großbanken.
Dass die privaten Rentenversicherer dagegen nicht protestieren, lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass die im Namen der Finanzstabilität in ihrer Eigenschaft als Gläubiger der Staaten abzusichernden Großbanken nicht warten, bis mit dem Erreichen des Rentenalters der enteigneten Versicherungsnehmer die Renten dann stattdessen an die Großbanken gehen, sondern dass die Versicherungsansprüche dann, wie man es aus dem Privatrecht kennt, von den Gläubigern, hier von den Gläubigern Ungarns, vorzeitig gekündigt werden. Dann müssen die Versicherungen nur den Rückkaufswert auszahlen und machen damit auch selbst noch ein Geschäft. Nur so erklärt sich auch, dass die private Versicherungsbranche nicht europaweit gegen das Vorgehen in Ungarn protestiert. Die Geschädigten bei der Enteignung der privaten Lebensversicherungsansprüche sind vor allem kleinere und mittelständische Unternehmer, weil diese nicht nur in Deutschland die Hauptkundschaft der privaten Rentenversicherer ausmachen. Das passt zur Tradition des IWF, kleinunternehmerische Strukturen zu zerstören (Abschnitt IV.5.12 dieser Verfassungsbeschwerden).
Die Mitteilung sagt auch, dass Ungarn als EU-Mitgliedsstaat ohne Euro zwar keine Sanktionen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zu befürchten habe, dass bei Nichterfüllung der Empfehlungen sehr wohl aber Mittel aus dem Kohäsionsfonds ausgesetzt werden könnten.
Die Pressemitteilung des Ministerrats sagt nicht, auf welcher Grundlage er Ungarn die Kohäsionsmittel aussetzen will. Die Art. 174 bis 178 AEUV liefern keine Grundlage, diese Mittel wegen Nichterfüllung von Auflagen aus dem europäischen Finanzierungsmechanismus oder von Empfehlungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zu kürzen (Abschnitt VI.1.2 dieser Verfassungsbeschwerden). Der ESM steht nur Staaten mit Euro offen (Art. 2 und Art. 44 ESM-Vertrag). Auch vom EFSM und vom EFSF erhalten nur Staaten der Eurozone Finanzhilfen. Einzig der Fiskalpakt steht nach seinem Art. 14 Abs. 5 auch EU-Mitgliedsstaaten ohne Euro offen. Art. 14 Abs. 5 Fiskalpakt spricht aber nur davon, dass die EU-Mitgliedsstaaten ohne Euro den Fiskalpakt ganz oder teilweise gegen sich gelten lassen können. Davon, dass dann auch alles, was man an EU-Verordnungen an den Fiskalpakt anknüpfen lassen will, dann auch auf die Fiskalpakt-Mitgliedsstaaten ohne Euro anwenden würde, steht dort nichts.
Auch der taz-Artikel „EU will Ungarn halbe Milliarde streichen“ vom 23.02.2012 bestätigt das Vorhaben der Kommission, Kohäsionsmittel für Ungarn zu streichen.
www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=wu&dig%2F02%2F23%2Fa0110&cHash=5c0337ea31
V.23 Machtmissbrauch des EU-Währungskommissars im Rahmen des Defizitverfahrens am Beispiel Belgiens
Am 30.01.2012 war in Belgien Generalstreik. Der Anlass war das durchgesickerte Schreiben von EU-Währungskommissar Olli Rehn an den belgischen Bundesfinanzminster vom 05.01.2012.
http://static.tijd.be/upload/VP_Rehn_to_Minister_Vanackere_050120121_3280718-236983.pdf
Darin hat die EU-Kommission, vertreten durch ihren Währungskommissar Olli Rehn, der belgischen
Regierung eine Frist von 3 Tagen bis zum 08.01.2012, spätestens bis zum Morgen des 09.01.2012, gesetzt, um entweder bis dahin über Einsparungen von 0,3 % - 0,5 % des BIP (nach Berechnungen des Kommissar zwischen 1,2 und 2,- Mrd. €) oder über eine Haushaltssperre zur Einsparung eines entsprechenden Betrags zu beschließen, da die Kommission am 11.01.2012 über weitere Schritte im Defizitverfahren gegenüber Belgien beschließen wolle. Steuererhöhungen und Änderungen von Gesetzen incl. Haushaltsgesetz sind natürlich auch in Belgien nicht innerhalb von 3 Tagen schaffbar.
Eine Fristsetzung von 3 Tagen ist offensichtlich willkürlich kurz. Fair wäre es gewesen, die belgische Regierung zu unterrichten, wieviel Zeit sie gehabt hätte bis zum nächsten Termin, an welchem der Ministerrat über Entwürfe der EU-Kommission für die nächsten Schritte im Defizitverfahren hätte entscheiden können. Auch im verschärften Stabilitäts- und Wachstumspakt ist vorgesehen in Art. 3 Abs. 4 von EU-Verordnung 1467/97 (Abschnitt V.3 dieser Verfassungsbeschwerden), dem jeweils im Defizitverfahren befindlichen Staat eine Frist von max. 6 Monaten zu setzen zur Erfüllung der sanktionsbewehrten Empfehlungen. Selbst wenn es schon um den Sanktionen gegangen sein sollte, ist eine Frist von nur 3 Tagen offensichtlich weitaus schärfer als selbst der ultra-vires-mäßige verschärfte Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Im gleichen Brief schrieb der Währungskommissar, dass er ähnliche Briefe an die Regierungen von Zypern, Ungarn, Malta und Polen versandt habe. Das zeigt, dass spätestens dann, wenn der Fiskalpakt in Kraft sein sollte, der gleiche Machtmissbrauch auch gegenüber Deutschland zu erwarten ist. Bis dahin ist noch damit zu rechnen, dass die Kommission versuchen wird, die deutsche Bevölkerung incl. des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Sicherheit zu wiegen.
Der Brief des EU-Währungskommissars verrät auch, dass die EU-Kommission die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und das Ungleichgewichtsverfahren bereits anwendet vom Tag ihres Inkrafttretens an !
Fortsetzung: https://sites.google.com/site/euradevormwald/02-esm/051-ueberwachung