022. Europaartikel des Grundgesetzes, Bundesverfassungsgericht und Politik.....

II.5 zur formalen Bedeutung von Art. 38 GG

Die Verfassungsbeschwerden, über welche im Lissabon-Urteil vom 30.06.2009 entschieden worden ist, sind zulässig gewesen, soweit sie sich auf Art. 38 GG gestützt haben (Rn. 167, S. 56+57).

Auch die hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden stützen sich in sämtlichen Rügen auch auf Art. 38 GG. Dies ist ersichtlich aus Abschnitt I.1 dieser Verfassungsbeschwerden, worin geltend gemacht wird, dass die Zustimmungsgesetze zu Art. 136 Abs. 3 AEUV und zum ESM-Vertrag gegen Art. 20 Abs. 1, 2 und 3 GG, Art. 2 GG, Art. 38 GG und Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen, und dann erst im zweiten Teil des Satzes aufgezählt wird, in welchen Grundrechten, Menschenrechten und grundrechtsgleichen Rechten die Beschwerdeführerin im besonderen verletzt würde. Durch ihre exponierte Positionierung im ersten Antrag der Verfassungsbeschwerden umfassen die Art. 20 Abs. 1, 2 und 3 GG, Art. 2 GG, Art. 38 GG und 79 Abs. 3 GG die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführerin gegen die Zustimmungsgesetze zu Art. 136 Abs. 3 AEUV und zum ESM-Vertrag wie eine Klammer, ohne dass sie zu jedem einzelnen Abschnitt nochmals wiederholt werden müsste. Aus Gründen äußerster Vorsicht wird auf Art. 38 GG trotzdem noch einmal in den einzelnen Abschnitten der Begründung Bezug genommen.

Ungeachtet dessen kann die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegenüber Zustimmungsgesetzen zu internationalen Verträgen aber inhaltlich auch nicht auf Art. 38 GG verengt werden, weil dies sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn und Zweck von Art. 93 Nr. 4a GG widerspräche und mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar wäre. Die Grundrechte, grundrechtsgleichen Rechte und universellen Menschenrechte dürfen in ihrer Abwehrfunktion gegenüber Zustimmungsgesetzen zu internationalen Verträgen nicht allein auf die Verbindung mit Art. 38 GG verengt werden. Es käme einer, formell gesehen, mit Art. 20 Abs. 2 GG sowie mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1 UNO-Sozialpakt und Art. 1 UNO-Zivilpakt, jeweils i. V. m. Art. 1 Abs. 1+2 GG, Art. 38 GG, Art 25 GG) unvereinbaren Reduzierung auf das Recht, bzgl. dieser Rechte von den Bundestagsabgeordneten vertreten zu werden, gleich. Im Geltungsbereich des GG lebende, Inhaber unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte sowie grundrechtsgleicher Rechte würden bzgl. deren Inanspruchnahme gegenüber Zustimmungsgesetzen zu Mündeln der Bundestagsabgeordneten degradiert. Es ist aber gerade nicht der Sinn von Art. 38 GG, die Bürger, im Verhältnis zu internationalen Verträgen, zu Mündeln der Abgeordneten zu machen. Aus diesem Grund darf nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin die Befugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Zustimmungsgesetze zu internationalen Verträgen nicht auf die Verbindung mit Art. 38 GG verengt werden. Art. 93 Nr. 4a GG will und normiert offensichtlich sämtliche Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte (mit Ausnahme von Art. 20 Abs. 4 GG) des Grundgesetzes als Rechtsgrundlagen für die Verfassungsbeschwerde und darüber hinaus, in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1+2 GG, Art. 25 GG und Art. 38 GG auch die universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Sicherlich gibt es ein Abstandsgebot zwischen Verfassungsbeschwerde und Normenkontrollklage. Das wird aber bereits dadurch gewahrt, dass die Normenkontrollklage sich auf sämtliche Vorschriften des Grundgesetzes beziehen kann, und dass bei der Verfassungsbeschwerde immer die persönliche Betroffenheit gegeben sein muss.

Die Strukturprinzipien des Grundgesetzes allein können nicht Grundlage einer Verfassungsbeschwerde sein; sie können nur in Verbindung mit einem der in Art. 93 Nr. 4a GG enummerierten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte geltend gemacht werden. Das gilt nach dem Lissabon-Urteil auch für das Sozialstaatsprinzip, obwohl dessen innerstaatliche Geltendmachung üblicherweise über die Verbindung mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) erfolgt. Wenn das grundrechtsgleiche Wahlrecht aus Art. 38 GG, welches inhaltlich die größte Nähe zum Strukturprinzip Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) aufweist, auch die Verbindung für die Geltendmachung des Sozialstaatsprinzips ist, dann muss das ebenso für die Rechtsstaatlichkeit gelten, da das Wahlrecht zur Rechtsstaatlichkeit einen wesentlich engeren Bezug hat als zur Sozialstaatlichkeit. Alle in diesen Verfassungsbeschwerden geltend gemachten Punkte hinsichtlich der Strukturprinzipien sind in Verbindung mit Art. 38 GG gemeint.

II.6 die Bedeutung des Urteils vom 07.09.2011 für die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden vom Zeitpunkt her

Dass gültige Verfassungsbeschwerden erst nach der vollständigen Zustimmung des Parlaments eingereicht werden können, ist unstreitig. Bei normalen Gesetzen, zu denen auch reine Bürgschaftsermächtigungen gehören, egal wie hoch diese sind, dürfen sie überdies erst nach der Verkündung des Gesetzes im Bundesgesetzblatt eingereicht werden (sowie, wenn ein anderer Rechtsweg als direkt zum Bundesverfassungsgericht gegeben ist, natürlich erst nach Ausschöpfung des Rechtswegs). Bei Zustimmungsgesetzen zu internationalen Verträgen hingegen muss die Verfassungsbeschwerde mit Rücksicht auf den völkerrechtlichen Vertrauenschutz vor Verkündung im Gesetzblatt eingehen.

Beim StabMechG haben die 5 Professoren ihre Verfassungsbeschwerden nach Verkündung einge-reicht und Dr. Gauweiler vorher. Wenn das StabMechG eine reine Bürgschaftsermächtigung ist, dann hätte das Bundesverfassungsgericht, aus Sicht seiner Rechtsprechung vom dem 07.09.2011, nur über die StabMechG-Klage der Professoren entscheiden dürfen, im Falle eines Zustimmungsgesetzes nur über die von Dr. Gauweiler.

Es hat am 07.09.2011 aber materiell-rechtlich entschieden bzgl. des StabMechG über die Verfassungsbeschwerden der 5 Professoren und von Dr. Gauweiler.

Zugleich sagt das Urteil aber auch nicht, warum es gegen ein und dasselbe Gesetz sowohl vor als auch nach der Verkündung im Gesetzblatt eingegangene Verfassungsbeschwerden nicht als vom Zeitpunkt her unzulässig ansieht. Hätte das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung bzgl. der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden vom Zeitpunkt her revolutionieren wollen, dann hätte dies zumindest einer Begründung im Text des Urteils bedurft, die aber nicht existiert. Daher ist die Beschwerdeführerin der Rechtsauffassung, dass die Möglichkeit einer zulässigen Verfassungsbeschwerde sowohl vor als auch nach Verkündung für solche Gesetze gegeben ist, welche, wie das StabMechG, nicht zweifelsfrei erkennen lassen, ob sie ein Zustimmungsgesetz sind oder nicht, und dass es ansonsten aber bei Gesetzen, welche diesen Zweifel nicht aufwerfen, bei der bisherigen ständigen Rechtsprechung bzgl. des Klagezeitpunktes bleibt.

Für die Zustimmungsgesetze zum ESM und zum Fiskalpakt sind gültige Verfassungsbeschwerden also vor Verkündung einzureichen, da sie, anders als das StabMechG, klar als Zustimmungsgesetze erkennbar sind.

II.7 Ergebnisse des Urteils vom 07.09.2011 zum formalen Vorgehen gegenüber ultra-vires

Dass ein ultra-vires – Handeln in der Form der Falschanwendung von Art. 48 Abs. 6 EUV bei einer Änderung des EU-Primärrechts geschieht, sodass man formal gegen das dazu gehörende Zustimmungsgesetz mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen kann (Abschnitt III.3.1), ist im Vergleich zur Gesamtheit der ultra-vires-Handlungen die Ausnahme.

Die meisten ultra-vires-Handlungen geschehen im sekundärrechtlichen Raum internationaler Organisationen, darunter auf Grund der, auch an der Menge des geschaffenen Sekundärrechts gemessen, engen Zusammenarbeit im Rahmen des Staatenverbundes EU, ein großer Teil innerhalb des EU-Sekundärrechts. Aber auch im intergouvernementalen Raum gibt es ultra-vires-Verstöße, wo Entscheidungen, welche von ihrer Tragweite her Zustimmungsgesetze erfordern würden, ohne solche ergehen und umgesetzt werden.

Soweit sich die Verfassungsbeschwerden, über welche am 07.09.2011 entschieden wurde, gegen EU-sekundärrechtliche und gegen intergouvernementale Rechtsakte wendeten, darunter insbesondere gegen den EFSM und gegen Rechtsakte auf EU-Ebene zur Griechenlandhilfe sowie gegen intergouvernementale Vereinbarungen zur EFSF, stellte Rn. 116 des Urteils die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerden fest, da Verfassungsbeschwerden sich nur gegen innerstaatliche Rechtsakte wenden könnten.

Es bleibt dabei jedoch die Frage im Raum stehen, wie man sich dann gegen ultra-vires-mäßige, also die primärrechtlich in ihren völkerrechtlichen Verträgen der EU oder auch anderen internationalen Organisationen eingeräumten Kompetenzen überschreitende Rechtsakte dieser Organisationen in dem von Art. 19 Abs. 4 GG normierten Umfang wehren kann, wenn ultra-vires-Klagen nicht wenigstens im Umfang eines geltend gemachten ultra-vires-Verstoßes (und natürlich mit Wirkung allein für Deutschland) direkt gegen völkerrechtliche Akte gerichtet werden können.

Das Maastricht-Urteil (BVerfG 89,155) hat bereits in Rn. 106 die Möglichkeit anerkannt, gegenüber ultra-vires-Akten der EU in der Weise vorzugehen, dass man die darauf aufbauenden Rechtsakte innerhalb des deutschen Rechtsraums anfechtet, und das Bundesverfassungsgericht dann mit Wirkung für Deutschland die Nichtigkeit der entsprechenden ultra-vires-Akte, nicht nur der darauf auf-bauenden innterstaatlichen Rechtsakte, feststellen kann. Das würde jeweils zur Feststellung der Nichtigkeit des gesamten sekundärrechtlichen oder intergouvernemenntalen ultra-vires-Aktes führen, nicht nur Feststellung der Nichtigkeit der jeweils formal streitgegenständlichen darauf aufbauenden Rechtsakte im deutschen Rechtsraum.

Dass mit der Verfassungsbeschwerde formal nur Rechtsakte im deutschen Rechtsraum angefochten werden können, ist also gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und damit hinzu- nehmen, zumal sie auch im Sinne der Rechtsklarheit gegenüber den Zuständigkeiten der Gerichts- höfe internationaler Organisationen ist.

Die in Rn. 106 des Maastricht-Urteils aufgezeigte Möglichkeit reicht jedoch allein für eine ultra-vires-Kontrolle nicht aus. Denn man müsste immer erst alle Instanzen im deutschen Rechtsraum durchschreiten, um zum Bundesverfassungsgericht zu gelangen, wo dort dann für Deutschland die Nichtigkeit des europäischen Rechtsaktes und eines bestimmten darauf aufbauenden deutschen Rechtsaktes festgestellt würde. Bis dahin würde nach dem europäischen ultra-vires-Akt viel Zeit ins Land gehen und, z. B. beim Ungleichgewichtsverfahren, eine Vielzahl von Rechtsakten auf unter- schiedlichsten Gebieten im deutschen Rechtsraum erfolgt sein. Selbst wenn, um im Beispiel zu bleiben, die Nichtigkeit der EU-Verordnungen bzgl. des Ungleichgewichtsverfahrens oder bzgl. dessen Sanktionierbarkeit wegen ultra-vires für Deutschland festgestellt würde, würde es viele Jahre dauern, bis über alle daraufhin im deutschen Rechtsraum im Vertrauen auf die vermeintliche Gültigkeit des Ungleichgewichtsverfahrens ergangenen Rechtsakte entschieden würde, ob und inwieweit diese auf Grund der Nichtigkeit des Ungleichgewichtsverfahrens wieder aufzuheben bzw. zurückzunehmen wären.

Am Ungleichgewichtsverfahren mit seiner Ermächtigung an die EU-Kommission für sanktionsbewehrte Empfehlungen mit der Zielrichtung, buchstäblich alles dem Weltmarkt zugänglich machen zu können (Abschnitte V.11 und V.19 dieser Verfassungsbeschwerden), zeigt sich das am deutlichsten. Würde man die Aussage von Rn. 116 des Urteils vom 07.09.2011 so auf die Abwehrmöglichkeit gegenüber einer ultra-vires-mäßigen Etablierung der EU-Verordnungen zur Schaffung des Ungleichgewichtsverfahrens übertragen, dann würde man bzgl. der auf das Ungleichgewichtsverfahren gestützten Kommerzialisierung aller beliebigen Bereiche, von Behörden, über bisher gemeinnützige Bereiche bis hin zu Naturdienstleistungen, jeweils einzeln den gesamten Rechtsweg durch-schreiten zu müssen. Das käme einer nahezu vollständigen Entleerung über einen unzumutbar langen Zeitraum hinaus aller Grundrechte, grundrechtsgleichen Rechte und universellen Menschenrechte hinsichtlich ihrer materiellen Abwehrwirkung gegenüber dem Ungleichgewichtsverfahren gleich – bei weitem nicht nur einer vollständigen Entleerung von Art. 19 Abs. 4 GG, unvereinbar mit dem gesamten Art. 1 Abs. 1, 2 und 3 GG (incl. des Gebots zur Anwendung der universellen Menschenrechte aus Art. 1 Abs. 2 GG) und mit der Rechtsstaatlichkeit im materiellen und formellen Sinne.

Die aus Gründen der Rechtssystematik zugelassene Rechtsschutzlücke gegenüber ultra-vires-Akten muss zusätzlich geschlossen werden, indem formal ultra-vires nicht nur geltend gemacht werden kann gegen auf den ultra-vires-Akten aufbauende Rechtsakte im deutschen Rechtsraum, sondern auch zusätzlich im Rahmen von Verfassungsbeschwerden gegen Zustimmungsgesetze zur Nachlieferung der primärrechtlichen oder intergouvernementalen Grundlagen für die Rechtsakte, welche bis dahin ultra-vires sind. Und dabei ist es dann gewaltiger Unterschied, ob eine völkerrechtliche Rückwirkung in der primärrechtlichen Änderung rechtsklar formuliert wird (Abschnitt III.9 dieser Verfassungsbeschwerden), und ob die begrenzte Einzelermächtigung eingehalten wird, oder gar, wie bei Art. 136 Abs. 3 AEUV, blankettartige primärrechtliche Grundlagen nachgeliefert werden. Da im vorliegenden Fall, man nun zusätzlich zu Art. 136 Abs. 3 AEUV auf intergouvernementale Verträge wie den EFSF-Rahmenvertrag, den ESM und den Fiskalpakt setzt, man auf diese aber kein EU-Sekundärrecht stützen kann, ist beides nichtig (sowohl das Stützen von EU-Verordnungen auf intergouvernementale Verträge als auch die verdeckte völkerrechtliche Rückwirkung), und ist im Rahmen der Entscheidung über die hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden auch über die Nichtigkeit und über den Umfang der Nichtigkeit der ultra-vires-Rechtsakte zu entscheiden, die ohne die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 AEUV keine wirksame primärrechtliche Grundlage haben.

Das betrifft hier im besonderen:

-das Fehlen jeglicher primärrechtlicher Grundlage (vor allem mangels eines wirksamen deutschen Zustimungsgesetzes zum EFSF-Rahmenvertrag) für die Kreditauflagen der EFSF (mit der Folge des allein privatrechtlichen Rangs von deren Auflagen)

-das Fehlen jeglicher primärrechtlicher Grundlage für die Verschärfung des Stabilititäts- und Wachstumspaktes (mit der Folge insbesondere der Nichtigkeit der Ausweitung der Sanktionierbarkeit, der umgekehrten Abstimmung und der Stimmrechtsaussetzung)

-das Fehlen jeglicher primärrechtlicher Grundlage für die Sanktionierbarkeit des Ungleichgewichtsverfahrens (mit der Folge, dass die gesamten darauf aufbauenden Eingriffe in Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik sowie Kommerzialisierungen von Behörden, Naturdienstleistungen und gemein- nützigem Bereich dann rückgängig gemacht werden müssen)

-das Fehlen jeglicher primärrechtlicher Grundlage für die jegliche Sanktionsbewehrung und für die direkten Eingriffe der EU-Kommission in die Haushaltsentwürfe im Rahmen der haushaltsmäßigen Überwachung (Abschnitt VI.2 dieser Verfassungsbeschwerden)

Bereits diese Aufzählung zeigt, dass eine ordnungsgemäße Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden einen Bruchteil der Arbeit verursacht, die entstehen würde, wenn die ultra-vires-Kontrolle allein in dem in Rn. 106 des Maastricht-Urteils aufgezeigten Umfang zugelassen würde. Denn je später die ultra-vires-Kontrolle erfolgt, desto größer der mögliche Schaden, der hinterher wieder rückgängig gemacht werden muss, und desto größer und aufgeblähter die Zahl der Verfahren, die dafür notwendig ist.

Außerdem wird bei der hier dargestellten ultra-vires-Kontrolle auch im Rahmen des Verfahrens über die hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden die Prüfung nachgeholt, welche auch bei einem ordnungsgemäßen Vorgehen der EU erfolgt wäre. Wäre zuerst ein ordnungsgemäßes Vertragsänderungsverfahren erfolgt, hätte das Bundesverfassungsgericht dann im Rahmen über die Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz entschieden, ob die Zustimmung wegen Blankettartigkeit zu untersagen ist, bzw. wie weit unter Anwendung des Instruments der verfassungskonform einschränkenden Auslegung die neue primärrechtliche Vorschrift angewendet werden dürfte. Erst danach würden bei einem ordnungsgemäßen Vorgehen der EU darauf aufbauende sekundärrechtliche bzw. intergouvernementale Vorschriften geschaffen. Dass das Vorgehen nicht so, sondern geradezu okkupatorisch erfolgt ist, darf nicht auch noch belohnt und das deutsche Volk durch Zulassen des dreisten Übergriffs zu Lasten von Art. 19 Abs. 4 GG in die Widerstandslage (Art. 20 Abs. 4 GG) katapultiert werden.

Die ultra-vires-Kontrolle im Rahmen der hier vorliegenden Verfassungsbeschwerde hat natürlich auch Grenzen. Soweit man auf Fiskalpakt, ESM und EFSF-Rahmenvertrag Rechtsakte stützen will, welche der Beschwerdeführerin nicht bekannt sind, und welche sie hier deshalb auch nicht darlegen kann, verbleibt es bzgl. der Anfechtbarkeit natürlich bei der in Rn. 106 des Maastricht-Urteils dargestellten Möglichkeit. Im Rahmen der hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden kann natürlich in keiner Weise über hypothetische Absichten, was man noch alles darauf hätte stützen wollen, geurteilt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat auch bereits mindestens einmal bzgl. ultra-vires geurteilt, als das Zustimmungsgesetz zur Nachlieferung primärrechtlicher Grundlagen für einen EU-Rechtsakt, welcher zuvor ultra-vires gewesen war, angefochten wurde. Der Lissabonvertrag wollte mit Art. 1 EUV, Art. 51 EUV und Erklärung 17 erstmals eine primärrechtliche Grundlage dafür schaffen, sämtliches Recht des EGV und des EUV sowie sämtliches darauf aufbauendes EU-Sekundärrecht über die Verfassungen aller Mitgliedsstaaten zu stellen. In 1964 hat der EUGH in der Rechtssache Costa/Enel (Az. 6/64) , völlig ohne formelle oder materielle Rechtsgrundlage dafür und damit offenkundig ultra-vires, geurteilt, der EWG-Vertrag und alles darauf aufbauende Recht stünde über den mitgliedsstaat-lichen Verfassungen. Im Urteil über die Zustimmung zum Lissabonvertrag hat das Bundesverfas-sungsgericht, weil da dann ein entsprechender Anfechtungsgegenstand vorhanden war, im Rahmen der richterlichen Überprüfungskompetenz erforderliche Grenzen gesetzt (siehe vor allem Abschnitt VII.1 dieser Verfassungsbeschwerden). Damit wurde damals ein justizieller ultra-vires-Akt des EUGH für Deutschland eingegrenzt. Entsprechendes ist mindestens ebenso gegenüber legislativen und exekutiven ultra-vires-Akten bei Nachlieferung der primärrechtlichen Grundlage geboten.

Mit der Versagung der direkten Anfechtbarkeit sekundärrechtlicher und intergouvernementaler Akte im Hinblick auf ultra-vires durch das Urteil vom 07.09.2011 wurde außerdem die in Abschnitt III.10 geltend gemachte Verpflichtung zu Volksabstimmungen umso entscheidungserheblicher. Die Lücke bzgl. Art. 19 Abs. 4 GG, welche ansonsten bestehen würde, muss auch durch Volksabstimmungen geschlossen werden, auch zur arbeitsmäßigen Entlastung des Bundesverfassungsgerichts und als Ausgleich für die oben dargestellte verbleibende Rechtsschutzlücke auf Zeit. Dabei ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, im Urteil über die hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden das richtige Maß zu finden, ab welchem Volksabstimmungen erforderlich sind. So wenig das Bundesverfassungsgericht durch Maisgrieß und Champignons (vergleiche die Themen zu den Urteilen bzgl. Solange I und Solange II) lahm gelegt werden darf, so wenig sollte gleich das gesamte Volk durch Volksabstimmungen über Kleinigkeiten lahm gelegt werden. Angesichts der Unantastbarkeit (Rn. 216+217 Lissabonurteil) der gesamten Demokratie incl. Volksabstimmungen muss das Maß, ab welchem jeweils eine Volksabstimmung erforderlich ist, deutlich niedriger sein als im Honeywell-Urteil (vgl. Abschnitt III.6 dieser Verfassungsbeschwerden). Es wäre unvereinbar sowohl mit Art. 19 Abs. 4 GG als auch mit Art. 20 Abs. 1+2 GG, die Lücke bzgl. der ultra-vires-Abwehr erst im Falle offensichtlich großer Machtverschiebungen zu schließen. Denn die Wahlen und Abstimmungen gehören, anders als Legislative, Exekutive und Judikative, zum Kernbereich des insgesamt unantastbaren Demokratieprinzips (Abschnitt III.10 dieser Verfassungsbeschwerden). Es bietet sich wegen der Unantastbarkeit der Demokratie vielmehr ein umgedrehter Honeywell-Maßstab an: Bei den in Abschnitt III.10 genannten Rechtsakten sollte nur dann eine Volksabstimmung unterbleiben dürfen, wenn diese offensichtlich zu keinerlei Kompetenzausweitung führen. Das würde natürlich das Risiko schaffen, dass die Regierung einfach behaupten würde, ein Rechtsakt brächte offensichtlich keinerlei Kompetenzausweitung mit sich; um das Risiko wiederum einzufangen, wäre dann doch wieder entweder eine Überprüfbarkeit einer solchen Einlassung direkt vor dem Bundesverfassungsgericht erforderlich oder die Möglichkeit von Volksbegehren.

Außerdem ist die Beschwerdeführerin der Rechtsauffassung, dass eine Divergenz besteht zwischen dem Urteil vom 07.09.2011 und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2 BvE 6/99) zur NATO-Strategie 1999. Zur damaligen NATO-Strategie, welche eindeutig NATO-Sekundärrrecht ohne eigenes Zustimmungsgesetz gewesen ist, bestätigte das Bundesverfassungsgericht damals den Vorrang der UNO-Charta vor dem NATO-Primärrecht (siehe Art. 103 UNO-Charta, Art. 5 Nord- atlantikvertrag), und wiederum den Vorrang des NATO-Primärrechts vor dem NATO-Sekundär- recht, sodass keine noch so blankettartige Formulierung in der NATO-Strategie dazu genutzt werden kann, ausdrückliche Verbote der UNO-Charta wie vor allem das Angriffskriegsverbot (Art. 2 Abs. 4 UNO-Charta) zu umgehen. Eine inhaltliche Entscheidung wäre damals kaum möglich gewesen ohne Zulassung einer gegen NATO-Sekundärrecht gerichteten Organklage zur Entscheidung zumindest im Umfang eines möglichen ultra-vires-Verstoßes.

II.8 Das Bundesverfassungsgericht macht keine Politik – Gewaltenverschränkung ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Intensität des gerichtlichen Eingriffs

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, hat zum Auftakt der mündlichen Verhandlung am 05.07.2011 zum Pilotverfahren gesagt, dass das Bundesverfassungsgericht keine Politik macht. Das bedeutet, dass es politischen Entscheidungen nur die erforderlichen Grenzen zieht. Es bedeutet insbesondere, dass es nicht dazu berufen ist, politische Entscheidungen über das rechtlich gebotene Maß durch Entscheidungen zu ersetzen, die es selbst für sinnvoller erachtet.

Rechtlich gesehen geht es dabei darum, die Balance der Gewaltenverschränkung zu wahren. Diese Balance ist dabei allerdings nicht etwa ein alles überragendes Ziel, hinter welchem alles andere zurückzustehen hätte. Da die Rechtsstaatlichkeit genauso unantastbar ist wie die Demokratie (Rn. 216+217 des Lissabonurteils), ist geltendes Recht anzuwenden incl. Grundrechten, grundrechtsgleichen Rechten und universellen Menschenrechten. Die Gewaltenverschränkung bietet keinerlei Grundlage für die Nichtanwendung geltenden Rechts. Allerdings ist sie von entscheidender Bedeutung dafür, wie weit das Bundesverfassungsgericht jeweils den anderen Gewalten Grenzen setzen kann und muss, um die jeweiligen Rechte zu wahren. Je tiefer der Eingriff in die Grund- und Menschenrechte und je höher deren Rang, je weitreichender die Vorschrift, welche eingreift, desto stärker muss die Antwort des Bundesverfassungsgerichts sein. Aus der Gewaltenverschränkung ist auch zu folgern, dass bei Verfassungs- und Menschenrechtsverstößen in der Regel dem Gesetzgeber vorzugeben ist, welche Vorschriften zu ändern sind in welcher Richtung, dass dem Gesetzgeber aber meistens noch ein gewisser Spielraum zu lassen ist, wie er dies tut. Bei der Untersagung der Zustimmung zum Fiskalpakt und zum ESM-Vertrag wird zur Wahrung von Art. 19 Abs. 4 GG, wie in Abschnitt II.7 dieser Verfassungsbeschwerden auch über ohne Art. 136 Abs. 3 AEUV, ESM, EFSF-Rahmenvertrag und Fiskalpakt ultra-vires-mäßige sekundärrechtliche Akte zu befinden sein. Die Gewalten-verschränkung kann sich dabei in der Richtung auswirken, diese insoweit für Deutschland für nichtig zu erklären, wie sie verfassungs- oder menschenrechtswidrig sind, und wie der jeweilige ultra-vires-Verstoß reicht, sie aber nicht unbedingt alle vollständig untersagen zu müssen. Das könnte z. B. bedeuten, ein Ungleichgewichtsverfahren zur Förderung der diskursiven Entfaltung über die Ungleichgewichte ohne jegliche Durchsetzungsmöglichkeiten zu erlauben. Auf jeden Fall könnte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nicht vorgeben, was er stattdessen zur Stärkung des Euro zu tun hätte. Auch Abschnitt XI.3 dieser Verfassungsbeschwerden ist in dem Sinne gemeint, dass es Alternativen zum europäischen Finanzierungsmechanismus gibt, und dass diesem daher auch unter Berücksichtigung der Gewaltenverschränkung enge Grenzen gesetzt werden können und müssen, und ist nicht etwa in der Richtung gemeint, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber etwa vorgeben könnte oder sollte, stattdessen eine oder mehrere der in Abschnitt XI.3 genannten Alternativen zu wählen.

Dass das Bundesverfassungsgericht nicht dazu berufen ist, Politik zu machen, also nicht dazu berufen ist, im Vergleich zur Sach- und Rechtslage unangemessen tief in den Bereich von Legislative und Exekutive einzugreifen, gilt nicht nur bzgl. des Handelns, sondern auch bzgl. des Nicht-Handelns des Gerichts. So würde das Bundesverfassungsgericht z. B. auch politisch, wenn es universelle Menschenrechte nicht anwenden würde, obwohl diese anzuwenden sind und überzeugend geltend gemacht werden, selbst wenn das aus dem Respekt vor der Gewaltenverschränkung motiviert wäre.

Fortsetzung: https://sites.google.com/site/euradevormwald/02-esm/023-vertrag