058. VII.14 Die universellen Menschenrechte im Licht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

VII.14 Die universellen Menschenrechte im Licht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

VII.14.1 Erkenntnisse aus dem Kriegsfolgelasten II – Urteil

Das Kriegsfolgelasten II – Urteil vom 14.05.1968 (BverfGE 23,288) entschied in seinem Leitsatz, dass es keine allgemeine Regel des Völkerrechts gibt, welche verbieten würde, auch Ausländer zur Bezahlung von Kriegsfolgelasten zu besteuern.

Das Urteil erkennt in Rn. 55 an, dass die Frage, ob es eine bestimmte allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG gibt, auch im Rahmen der Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde mit entschieden werden kann, wobei natürlich Voraussetzung ist, dass dies für die Frage der Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts von Bedeutung ist (Art. 93 Nr. 4a GG).

Außerdem hat das Urteil geklärt, dass für die Entscheidung mit Wirkung für Deutschland über die Existenz einer allgemeinen Regel des Völkerrechts sowie über deren jeweilige Tragweite gem. Art. 100 Abs. 2 GG allein dem Bundesverfassungsgericht obliegt (Rn. 136). Und eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist unabhängig von der eigenen Rechtsauffassung des jeweiligen Fachgerichts bereits dann zu machen, wenn divergierende Rechtsauffassungen dazu bestehen zwischen Meinungen deutscher Verfassungsorgane oder Entscheidungen hoher deutscher, ausländischer oder internationaler Gerichte oder den Lehren anerkannter Autoren der Völkerrechtswissenschaft (Rn. 135).

Nach Rn. 129 umfassen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts „vorwiegend universell geltendes Völkergewohnheitsrecht, ergänzt durch allgemeine Rechtsgrundsätze“. Diese seien nur in machen Fällen evident, in vielen Fällen müsse ihre Existenz und Tragweite erst festgestellt werden.

Das Urteil stellt auch fest, dass die Autorität des Gesetzgebers ebenso wie die Rechtssicherheit zu den Fundamenten des Strukturprinzips Rechsstaatlichkeit gehören (Rn. 130). Die Rechtsunsicherheiten, welche sich für den Gesetzgeber aus der Pflicht zur Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts über Art. 25 GG ergeben, sollen durch die Vorlagepflicht des Art. 100 Abs. 2 GG gering gehalten werden, entscheidungserhebliche Zweifelsfragen hierzu frühzeitig dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden.

Wenn bei gleichzeitiger Betroffenheit eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts mittels einer Verfassungsbeschwerde selbst abstrakte, nicht subjektivierte, Grundsätze daraufhin überprüft werden können, ob sie eine allegemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG sind, und welche Tragweite sie haben, so muss dies nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin umso mehr für subjektivierte universelle Menschenrechte gelten. Das gleichzeitig betroffene grundrechtsgleiche Recht ist dabei Art. 38 GG im Hinblick auf die von der Regierung unterzeichneten und vom Parlament ratifizierten Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen (siehe auch Abschnitt II.5 dieser Verfassungsbeschwerden) und außerdem die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), weil diese die Grundlage von Art. 1 Abs. 2 GG ist.

Dass die Rechtssicherheit zu den Fundamenten der Rechtsstaatlichkeit gehört, ist ein entscheidendes Argument dafür, dass der in völkerrechtlichen Verträgen festgelegte Teil des „ius cogens“ ebenso unter Art. 25 GG fällt wie der in keinem völkerrechtlichen Vertrag festgelegte Teil.

Dass das Kriegsfolgelasten II – Urteil nicht explizit auf die universellen Menschenrechte eingegangen ist, dürfte darin liegen, dass diese nicht geltend gemacht wurden, und dass Deutschland damals noch kein UNO-Mitglied war; dass der Begriff des „ius cogens“ nicht verwendet wurde, daran, dass die Wiener Vertragsrechtskonvention, welche diesen in Art. 53 und 64 WVRK enthält, erst aus dem Jahr 1969 stammt.

VII.14.2 Erkenntnisse aus dem Völkerrechtsurteil

Das Völkerrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.03.1987 (BVerfGE 75,1) entschied, dass es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts gibt, wonach eine Auslieferung eines Straftäters an einen anderen Staat nur erfolgen dürfte, wenn eine für die gleiche Tat in einem weiteren Staat bereits verbüßte Strafe angerechnet würde. Um eine allgemeine Regel des Völker-rechts zu sein, war eine solche konditionale Verbindung zumindest damals noch nicht verbreitet genug.

In Rn. 28 des Urteils stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass es auch bei Art. 100 Abs. 2 GG nur über im jeweiligen Fall entscheidungserhebliche Fragen entscheidet.

Rn. 35 des Völkerrechtsurteils stellt fest, dass die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorrangig vor der Prüfung einer Vereinbarkeit mit einer allgemeinen Regel des Völkerrechts zu erfolgen hat. Wenn etwas bereits wegen Verfassungswidrigkeit zu untersagen ist, kann es dahin stehen, ob es außerdem noch mit einer allgemeinen Regel des Völkerrechts kollidiert. Das bestätigt den Vorrang des gesamten Grundgesetzes vor den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (vgl. Abschnitt VII.1 dieser Verfassungsbeschwerden), und es bestätigt auch das dualistische Verhältnis des Grundgesetzes zum Völkerrecht (Abschnitt VII.8.1 dieser Verfassungsbeschwerden).

In Rn. 39 des Urteils legt das Bundesverfassungsgericht das Einheits-Übereinkommen der Vereinten Nationen über Suchtstoffe vom 30.03.1961 aus. Nach Rn. 42 des Urteils sind Behörden und Gerichte an über Art. 25 GG in Deutschland anzuwendendes Völkerrecht ebenso wie an über Art. 59 GG über Zustimmungsgesetze anzuwendendes gebunden. Daraus folgt nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin, dass das Bundesverfassungsgericht an die Anwendung der Menschenrechte aus den von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsverträgen gebunden ist, bereits unabhängig von der Frage, welche von diesen zum „ius cogens“ gehören.

In Rn. 44 des Völkerrechtsurteils bestätigt das Bundesverfassungsgericht, dass zum „ius cogens“ gehörendes Völkerrecht gem. Art. 53 WVRK und Art. 64 WVRK oberhalb des normalen völkerrechtlichen Rangs steht.

In Rn. 65 bestätigt das Völkerrechtsurteil, dass Regeln für ihre Zugehörigkeit zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts eine „erforderliche weltweite Breite“ benötigen. Das Wort „weltweit“ kann dabei nicht wörtlich gemeint gewesen sein, eher auf eine große Zahl von Staaten aus allen Rechtskreisen bezogen sein (vgl. Rn. 48 des Urteils, s. u.).

Das Völkerrechtsurteil ist außerdem erhellend für die Technik, mit welcher zu ermitteln ist, ob es einen bestimmten allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts gibt.

Es bezog den UNO-Zivilpakt in die Prüfung mit ein, was zeigt, dass allgemeine Regeln des Völker- rechts i. S. v. Art. 25 GG auch völkerrechtliche Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen umfassen. Der damalige Ratifikationsstand des Zivilpaktes lag bei 80 Staaten „aus allen weltweit bestehenden Rechtskreisen“ (Rn. 48). Da dort die gesuchte Regel nicht gefunden wurde, entschied das Völkerrechtsurteil mangels dortiger Entscheidungserheblichkeit (Rn. 87) formal weder die Zugehörigkeit des Zivilpaktes bzw. der universellen Menschenrechte zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, und auch nicht, ob dafür jeweils pro universellen Menschenrechtsvertrag eine bestimmte Mindestzahl von Ratifikationsstaaten oder auch das Vorhandensein von Ratifikationsstaaten aus allen Rechtskreisen erforderlich ist.

Das Völkerrechtsurteil hielt es in Rn. 61 ausdrücklich für möglich, dass der Grundsatz „ne bis in idem“ (Verbot der Doppelbestrafung) eine allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG ist, aber dann nur mit der Tragweite, dass diese die Doppelbestrafung für ein und die selbe Tat innerhalb eines Staates verbietet, nicht aber die Bestrafung durch mehrere Staaten.

Geht man nach der Prüfungstechnik des Völkerrechtsurteils, kann eine allgemeine Regel des Völker- rechts außer über ihre Zugehörigkeit zu einem der universellen Menschenrechtsverträge auch festgestellt werden, wenn sie in genug regionalen internationalen Verträgen, in genug nationalen Verfassungen, in genug bilateralen völkerrechtlichen Verträgen oder in den einfachen Gesetzen von genug Staaten enthalten ist.

Am einfachsten ließe sich das natürlich jeweils an den universellen Menschenrechtsverträgen feststellen, weil man dafür einfach nur die Zahl der Ratifikationsstaaten und ggfs. deren Verteilung über den Globus prüfen müsste.

Dazu ist jedoch anzumerken, dass, wenn universelle Menschenrechtsverträge mit der Zahl ihrer jeweiligen Ratifikatonsstaaten nur in die Zugehörigkeit zum „ius cogens“ hinein wachsen würden, und bis dahin vom Rang normales Völkerrecht wären, dies mit der aus der universellen Menschen-würde (Art. 1 AEMR) hergeleiteten Unteilbarkeit der universellen Menschenrechte und mit Art. 28 AEMR kaum vereinbar wäre.

Das Völkerrechtsurteil klärte außerdem in Rn. 80, dass Zusatzprotokolle zu internationalen Verträgen erst durch ihre Ratifikation durch Deutschland geltendes Recht in Deutschland werden, nicht bereits dadurch, dass Deutschland die bisherige vorherige Fassung des Vertrags ratifiziert hat, und dass andere Vertragsstaaten das jeweilige Zusatzprotokoll ratifiziert haben.

VII.14.3 Erkenntnisse aus dem Mauerschützen III – Urteil

Im Mauerschützen III – Urteil vom 20.03.1995 (BverfGE 41,101) ging es um einen einundzwanzigjährigen DDR-Grenzsoldaten, der entsprechend einem militärischen Befehl als letztes Mittel zur Verhinderung einer nach DDR-Gesetz illegalen Republikflucht einen fliehenden siebzehnjährigen DDR-Bürger erschossen hat. Es gab eine entsprechende allgemeine Befehlslage, aber gesetzlich war im DDR-Recht nur das Verbot der Republikflucht, nicht aber die Erschießung zur Verhinderung einer solchen normiert.

Das Urteil, welches nach der deutschen Wiedervereinigung erging, entschied, dass es keine Rechtfertigung zur Befolgung des Schießbefehls gab.

In dem Urteil wandte das Bundesverfassungsgericht das Menschenrecht auf Leben aus Art. 6 Uno-Zivilpakt an (Rn. 10), den sowohl die BRD als auch die DDR zum Zeitpunkt, über welchen geurteilt wurde, ratifiziert hatten (Rn. 20). Damit hat das Bundesverfassungsgericht die unmittelbare Anwendbarkeit des UNO-Zivilpaktes vor den nationalen Gerichten in Deutschland bestätigt. Zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sagt Rn. 10 des Urteils, diese sei für die Zeit vor dem UNO-Zivilpakt einschlägig; diese konkretisiere, ohne Vertragsrecht zu sein, die Bezugnahme der UNO-Charta auf die Menschenrechte.

Daraus folgt nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin die Einklagbarkeit sämtlicher in den von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen enthaltenen universellen Menschenrechte, allein schon auf Grund der Unteilbarkeit der universellen Menschenrechte (Abschnitt VII.6 dieser Verfassungsbeschwerden).

Die unmittelbare Anwendbarkeit der AEMR hat das Mauerschützen III – Urteil offenbar darüber abgeleitet, dass die Uno-Charta ratifiziert ist, und die universellen Menschenrechte nach Art. 1 Nr. 3 Uno-Charta zu den Zielen gehören, für welche die Vereinten Nationen gegründet worden sind.

Nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin kann der Zivilpakt nur insoweit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als unmittelbar anwendbare Rechtsgrundlage zurückgedrängt haben, wie der Zivilpakt die gleichen Regelungsgegenstände hat wie die AEMR. Entsprechendes gilt für den Sozialpakt. Die weitere unmittelbare Anwendbarkeit von Vorschriften vor den nationalen Gerichten ist vor allem von Bedeutung für die Menschenwürde (außer in der Behindertenrechtskonvention bei der UNO nur in Art. 1 AEMR normiert), den aus dem Wortlaut der AEMR erwachsenden Ranganspruch der universellen Menschenrechte (Art. 28 AEMR) und für das Eigentumsrecht (Art. 17 AEMR), soweit dieses nicht auch in Art. 15 UNO-Sozialpakt bzgl. des geistigen Eigentums geregelt ist. Auch das vom deutschen Bundesjustizministerium herausgegebene Handbuch der Rechtsförmigkeit bezieht sich weiterhin auf die AEMR (Abschnitt VII.10 dieser Verfassungsbeschwerden).

VII.14.4 Erkenntnisse aus dem Zwangsarbeitsurteil

Nach Rn. 30 des Zwangsarbeitsurteil vom 13.05.1996 (BverfGE 94,315) ist Maßstab für die erneute Vorlage einer völkerrechtlichen Frage über Art. 100 Abs. 2 GG, welche in einem früheren Urteil des Bundesverfassungsgerichts schon einmal entschieden wurde, die Darlegung, dass geänderte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse eine erneute Überprüfung nahelegen. Das gilt nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin entsprechend auch für die Verfassungsbeschwerde. Darüber hinaus ist nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin bei einer Verfassungsbeschwerde eine erneute Überprüfung einer Rechtsfrage vorzunehmen, wenn rechtsfortbildende, zum Zeitpunkt eines früheren Urteils schon vorhanden gewesene Tatsachen oder Rechtslagen dem Bundesverfassungsgericht erst mit einer späteren Verfassungsbeschwerde bekannt werden. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die Rechtsfortbildung sind weniger eng als beim Normenverifikationsverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG.

Das Zwangsarbeitsurteil hat außerdem in Rn. 44+57 entschieden, dass internationale multilaterale Schuldenabkommen kein „ius cogens“ sind, denn es hat deren Interpretation der Zuständigkeit der Fachgerichte zugeordnet. Daraus folgt nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin, dass auch das IWF-Recht vom Rang ganz normales Völkerrecht ist.

Nach Rn. 38 des Zwangsarbeitsurteils kam dem Gesetzgeber angesichts der finanziellen Lasten des Wiederaufbaus für die neuen Bundesländer und neuer Wiedergutmachungspflichten (für in der DDR geschehenes Unrecht) nach der deutschen Wiedervereinigung ein besonders weiter Entscheidungsspielraum zu auch bzgl. der Einschätzung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage, ob Deutschland freiwillig weitere Wiedergutmachungsleistungen auf sich nimmt.

Das liegt auf der Linie des Waldenfels-Urteils, wonach im Falle eines Staatsbankrotts „die Schaffung einer Grundlage für die Zukunft“ im Vordergrund steht und nicht die „Abrechnung über die Vergangenheit“.

VII.14.5 Erkenntnisse aus dem Bodenreform III – Urteil

Das Bodenreform III – Urteils vom 26.10.2004 (BverfGE 112,1) beschäftigt sich inhaltlich mit der Beurteilung der in Ostdeutschland unter der sowjetischen Besatzung in den Jahren 1945 – 1949 erfolgten Enteignungen von Grundbesitz.

Nach Rn. 78 des Bodenreform III – Urteils kann eine gerichtliche Entscheidung, welche auf einer innerstaatlichen Vorschrift oder auf eine Auslegung derselben, welche gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts verstößt, über das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) gerügt werden.

Hierzu ist die Beschwerdeführerin der Rechtsauffassung, dass dies für allgemeine Regeln des Völkerrechts, welche nicht in einem internationalen Vertrag enthalten sind, zutrifft. Für die universellen Menschenrechte ist hingegen, soweit sie in von Deutschland ratifizierten Verträgen enthalten sind, das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) die Verbindung, um sie geltend zu machen, und außerdem für alle universellen Menschenrechte incl. der AEMR die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), weil diese der Rechtsgrund für die unantastbare Verbindung in Art. 1 Abs. 2 GG zu den universellen Menschenrechten ist. Art. 2 Abs. 1 GG ist auch für die innerstaatliche Anwendung ein Auffanggrundrecht, welches hinter die anderen Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte zurücktritt; entsprechendes muss gelten, wenn es um die Frage geht, welches Grundrecht oder grundrechtsgleiche Recht die jeweilige Verbindung zur Geltendmachung von Völkerrecht ist.

Nach Rn. 90+91 ist das über die Art. 23 Abs. 1 GG, 24 GG, 25 GG, 26 GG und 59 Abs. 2 GG für Deutschland verbindliche Völkerrecht innerstaatlich anzuwenden, soweit dies mit dem Grundgesetz, darunter vor allem mit den Grundrechten incl. vor allem der Menschenwürde vereinbar ist. Das Bodenreform III – Urteil bestätigt also den Vorrang des Grundgesetzes vor dem Völkerrecht und dessen Vorrang wiederum vor den einfachen Gesetzen. Für eine genauere Differenzierung insbesondere auch unter Würdigung der Ergebnisse des Lissabonurteils siehe Abschnitt VII.1 dieser Verfassungsbeschwerden.

Nach Rn. 96 des Urteils erkennt das Grundgesetz über Art. 1 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 25 S. 1 GG „die Existenz zwingender, also der Disposition der Staaten im Einzelfall entzogener Normen (ius cogens)“ an. „Dabei handelt es sich um die in der Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft fest verwurzelten Rechtssätze, die für den Bestand des Völkerrechts unerlässlich sind und deren Beachtung alle Mitglieder der Staatengemeinschaft verlangen können.“

Nach Rn. 96 zählen zum „ius cogens“ insbesondere Normen über die internationale Friedenssicherung, das Selbstbestimmungsrecht, grundlegende Menschenrechte sowie Kernnormen zum Schutz der Umwelt.

Rn. 96 sagt auch, dass solches (zum ius cogens gehörendes) Völkerrecht „weder einseitig noch vertraglich abbedungen, sondern nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann“.

Das ist nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin im Sinne eines „insoweit“ zu verstehen. Auch wenn insbesondere der UNO-Zivilpakt und der UNO-Sozialpakt bereits in der AEMR enthaltene Rechte weiter spezifizieren und insbesondere mit ihrer Ratifizierung eine stärkere demokratische Legitimation haben als die AEMR, so lassen sie doch die allein in der AEMR enthaltenen Rechte, darunter vor allem die Menschenwürde (Art. 1 AEMR) und den Ranganspruch (Art. 28 AEMR) unberührt. Sonst wäre nicht erklärlich, wie sich die Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen bzgl. der Unteilbarkeit der universellen Menschenrechte auf eine universelle Menschenwürde beziehen können, die für alle Menschen im Rechtssystem der UNO allein in Art. 1 AEMR normiert ist.

Das Bodenreform III – Urteil sagt in Rn. 116, dass es in der Zeit von 1945 bis 1949 keine universell anerkannte Rechtsüberzeugung gegeben habe, „dass der Schutz des Eigentums eigener Staatsbürger Teil des universell geltenden Völkerrechts im Sinne des ius cogens sei.“ Das ist vollkommen richtig, denn die AEMR wurde erst in 1948 geschaffen, und die meisten heutigen Staaten waren damals noch Kolonien, was sie an einem eigenen Beitritt zu den Vereinten Nationen und an ihrer eigenen Verpflichtung auf Art. 1 Nr. 3 UNO-Charta, welche durch die AEMR konkretisiert wird (siehe Mauerschützen III – Urteil und Abschnitt VII.14.3 dieser Verfassungsbeschwerden) hinderte. Erst im Zuge der Entkolonisierung erlangte die AEMR durch den Beitritt von genügend Staaten zu den Vereinten Nationen den Rang von „ius cogens“, den ihr das Mauerschützen III – Urteil im Jahr 1995 zurecht zugebilligt hat.

Rn. 118 des Bodenreform III – Urteils spricht der AEMR, in unvereinbarem Gegensatz zum Mauerschützen III – Urteil, völlig ab, verbindliches Völkerrecht zu sein. Damit können mit den aus Sicht von Rn. 96 des Bodenreform III – Urteils zum ius cogens gehörenden Menschenrechten nur die universellen Menschenrechte aus den vom jeweiligen Staat ratifizierten Menschenrechtsverträgen der UNO gemeint sein.

Das Bodenreform III – Urteil lässt leider keine Beschäftigung damit erkennen, wie sich die universellen Menschenrechtsverträge in ihren Präambeln zur Begründung der Unteilbarkeit der universellen Menschenrechte dann auf eine für alle Menschen nur in Art. 1 AEMR normierte Menschenwürde berufen können, wenn diese doch angeblich bloß eine unverbindliche Versprechung darstellt.

Nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin hat das Bodenreform III – Urteil übersehen, dass die Verbindlichkeit der AEMR für Deutschland bereits bei Schaffung des Grundgesetzes über Art. 1 Abs. 2 GG gegeben war, noch bevor die AEMR zum „ius cogens“ wurde.

In Rn. 132 des Urteils wurde, weil es dort nicht entscheidungserheblich war, offen gelassen, ob auch der das Grundgesetz ändernde Gesetzgeber völkerrechtlichen Einschränkungen unterliegt.

Dem gegenüber wandte sich das Minderheitenvotum von Frau BVRin Prof. Dr. Lübbe-Wolff in Rn. 155 gegen die Offenlassung dieser Frage, weil zwar das ius cogens über den einfachen Gesetzen, zugleich aber das gesamte Grundgesetz über dem ius cogens stehe.

Dazu ist zu ergänzen, dass der Vorrang des gesamten Grundgesetzes vor dem ius cogens bereits im Völkerrechtsurteil (Abschnitt VII.14.2 dieser Verfassungsbeschwerden) geklärt wurde. Die wichtigste Verbindung des Grundgesetzes zu den universellen Menschenrechten, nämlich Art. 1 Abs. 2 GG, hingegen befindet sich, anders als Art. 25 GG, innerhalb des durch die Ewigkeitsgarantie geschützten Bereichs des Grundgesetzes, und ist damit auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen.

VII.14.6 Erkenntnisse aus dem Urteil zur diplomatischen Immunität

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur diplomatischen Immunität vom 06.12.2006 (BverfGE 117,141) stellt in Rn. 26 fest, „nach einhelliger Auffassung“ beziehe „sich Art. 25 GG dagegen nicht auf völkervertragliche Regelungen“.

Das kann sich nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin allein auf solche völkerrechtlichen Verträge beziehen, die einen einfachen völkerrechtlichen Rang und eben keinen „ius cogens“ - Rang haben, zumal die Urteile des Bundesverfassungsgerichts Völkerrecht, Mauerschützen III und Bodenreform III gerade für die von Deutschland ratifizierten universellen Menschenrechtsverträge den „ius cogens“ - Rang anerkannt haben.

Rn. 24 + 25 des Urteils stellen fest, dass für eine allgemeine Regel des Völkerrechts erforderlich ist, dass die überwiegende Mehrheit der Staaten eine Regel als allgemeine Regel des Völkerrechts anerkennt. Die Zustimmung aller Staaten ist dafür nicht erforderlich; und für die Anerkennung mit Wirkung für Deutschland ist es ausdrücklich auch nicht erforderlich, dass Deutschland (also die für die Außenvertretung Deutschlands zuständige deutsche Bundesregierung) eine solche auch ohne ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts anerkennen würde.

Zur Betrachtung dieses Urteils bzgl. der Privatisierung hoheitlicher Bereiche des Staates siehe Abschnitt VIII.10 dieser Verfassungsbeschwerden.

VII.14.7 Erkenntnisse aus dem Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede

Im Urteil vom 08.05.2007 zur völkerrechtlichen Notstandseinrede (BverfGE 118,124) ging es im Normenverifikationsverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG darum, ob es einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG gibt, wonach der damals von Argentinien wegen Zahlungsunfähigkeit erklärte Staatsnotstand das Land berechtigte, zeitweise die Zahlung gegenüber seinen Gläubigern zu verweigern (Rn. 6).

Laut Rn. 30 des Urteils bezieht sich Art. 25 GG nicht auf das Recht aus völkerrechtlichen Verträgen. So kam es, dass die Souveränität der Staaten (Art. 2 Abs. 1 UNO-Charta), sowie die individuellen und kollektiven universellen Menschenrechte (incl. des Selbstbestimmungsrechts des argentinischen Volkes) in dem damaligen Urteil auf erschreckende Weise ausgeblendet wurden.

Das Urteil entschied damals, dass es eine solche allgemeine Regel des Völkerrechts aus Art. 25 der ILC-Standards zur Staatenverantwortlichkeit gebe, dass diese aber nur zwischen Staaten als allgemeine Regel des Völkerrechts gelte, nicht aber, soweit Staaten Privaten auf privatrechtliche Weise gegenüber treten, wie das bei der Begebung von Staatsanleihen der Fall sei. Denn ob die auf Art. 25 der ILC-Standards beruhende völkerrechtliche Notstandseinrede auch Privaten gegenüber gilt, ist völkerrechtlich umstritten und damit kein ius cogens.

Die ILC-Standards zur Staatenverantwortlichkeit stammen von der „International Law Commission“, welche diese für die Vereinten Nationen erarbeitet hat. Die ILC-Standards sind laut Rn. 35 des Urteils zur völkerrechtlichen Notstandseinrede vom 12.12.2001 von der UNO-Vollversammlung angenommen worden und schon vor einer für ihr formelles Inkrafftreten hinreichenden Zahl von Ratifikationsstaaten allgemein als ius cogens anerkannt.

Die direkten Auswirkungen des Urteils zur völkerrechtlichen Notstandseinrede dürften sich darauf beschränkt haben, dass in das in Deutschland befindliche Vermögen des Staates Argentinien, welches nicht diplomatischen Zwecken dient, vollstreckt werden kann (siehe hierzu auch Abschnitt VIII.10 dieser Verfassungsbeschwerden).

Die weltbildprägende Wirkung war jedoch verheerend. Die Beschwerdeführerin möchte zugleich betonen, dass das Bundesverfassungsgericht bzgl. des Grades an Bewusstsein für die weltbildprägende Verantwortung seiner Urteile heute erheblich weiter ist, als dies beim Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede der Fall war.

Wollte man die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts allein für nicht völkervertragsrechtlich kodifiziertes ius cogens nachvollziehen, so hätte es außer den ILC-Standards auch anhand der AEMR urteilen müssen, denn auch diese ist selbst nicht ratifiziert. Sie hat jedoch eine weitaus höhere rechtliche Autorität als die ILC-Standards, weil sie das Ziel aus Art. 1 Nr. 3 Uno-Charta konkretisiert (Mauerschützen III – Urteil, Abschnitt VII.14.3 dieser Verfassungsbeschwerden). Und die damalige Vorlagefrage war so weit gefasst, dass auch die AEMR hätte berücksichtigt werden müssen, da die Vorlagefrage nicht auf nicht subjektivierbares ius cogens beschränkt war.

Das Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede ignoriert, jedenfalls soweit der Text des Urteils dies erkennen lässt, völlig die direkte Anwendung der universellen Menschenrechte aus den ratifizierten Verträgen in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht und die Anerkennung von deren ius cogens – Rang durch die Urteile zu Völkerrecht (Abschnitt VII.14.2 dieser Verfassungsbeschwerden), Mauerschützen III (Abschnitt VII.14.3 dieser Verfassungsbeschwerden) und Bodenreform III (Abschnitt VII.14.5 dieser Verfassungsbeschwerden). Und es ignoriert, die Begründung für diese Anwendung über Art. 1 Abs. 2 GG und Art. 25 GG nach Rn. 96 des Bodenreform III – Urteils.

Das Minderheitenvotum von Frau BVRin Prof. Dr. Lübbe-Wolff betont hingegen zutreffend, dass das Vorrangverhältnis, um welches es in dem Urteil gegangen sei, „durch das ius cogens der Menschenrechte unterfüttert“ ist (Rn. 86).

Die Aussage, völkerrechtliche Verträge im allgemeinen dürften nur durch die Fachgerichte ausgelegt werden, ist selbst bzgl. sämtlicher Verträge mit einfachem völkerrechtlichem Rang offensichtlich unzutreffend, denn das ist durch das eigene verantwortungsvolle Handeln des Bundesverfassungsgerichts bereits seit Jahrzehnten widerlegt.

Denn das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach über NATO-Recht geurteilt, darunter in den Urteilen zur Lagerung chemischer Waffen (BVerfG 77,170), zum Tornado-Einsatz in Afghanistan (2 BvE 2/07) und zur NATO-Strategie von 1999 (2 BvE 6/99). Das hätte das Bundesverfassungsgericht nicht gedurft, wenn die These zuträfe, dass ausschließlich die Fachgerichte dazu befugt wären. Dann hätte es die Anwendung der NATO-Strategie 1999 auch insoweit, wie diese mit dem NATO-Vertrag und der UNO-Charta kollidiert,selbst nichts entgegen setzen dürfen, mit allen Konsequenzen, die dies mittelfristig für den Weltfrieden hätte haben können; stattdessen stellte das Bundesverfassungsgericht damals den Vorrang der UNO-Charta vor dem NATO-Vertrag und wiederum dessen Vorrang vor der zum NATO-Sekundärrecht gehörenden NATO-Strategie klar, wandte also außer NATO-Recht auch die UNO-Charta an.

Ebenfalls wird die direkte Anwendung der Uno-Charta durch das Bundesverfassungsgericht bewiesen durch das Supranationalisierungsverbot (Rn. 255+342) der GASP durch das Lissabonurteil. Hätte man dem Lissabonurteil allein das Grundgesetz zu Grunde gelegt, so hätte nur der Vorrang des gesamten Grundgesetzes, davon bedeutsam vor allem des Friedensgebots (Art. 1 Abs. 2 GG) und des Angriffskriegsverbots (Art. 26 Grundgesetz) erfolgen können. Ein komplettes Supranationalisierungsverbot bedeutet jedoch, dass die GASP (ebenso wie das NATO-Recht und das Recht aller anderen regionalen sicherheitspolitischen Bündnisse) vom Rang her normales Völkerrecht mit einfachem völkerrechtlichen Rang geblieben ist, sodass auch das Angriffskriegs-verbot aus Art. 2 Abs. 4 UNO-Charta oberhalb der GASP geblieben ist. Dieses Ergebnis war nur möglich durch zumindest implizite direkte Berücksichtigung des Ranganspruchs aus Art. 103 Uno-Charta.

Der Notwendigkeit, das Bundesverfassungsgericht vor Überlastung zu schützen, damit genug Zeit für die wirklich wichtigen Fälle bleibt, lässt sich auch anders genüge tun. Nämlich, indem alle Fachgerichte verpflichtet werden, sämtliches für Deutschland gültiges Völkerrecht incl. explizit aller von Deutschland ratifizierter universeller Menschenrechte und der AEMR anzuwenden, soweit dies noch im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung von Gesetzen möglich ist. Dann würden diese Fälle erst dann beim Bundesverfassungsgericht landen, wenn dies nicht möglich wäre, und Gesetze zur Befolgung des Völkerrechts geändert werden müssen. Genauso, wie dies mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Grundgesetzes auch praktiziert wird. Keiner käme ernsthaft die Idee, diese allein den Fachgerichten zuweisen zu wollen und damit den Vorrang der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte vor den einfachen Gesetzen auf formelle Weise zu unterlaufen.

Die Ausblendung der universellen Menschenrechte, deren Anwendung doch angesichts der Tatsache, dass Deutschland und Argentinien sich beide auf diese verpflichtet haben, besonders nahe gelegen hätte, hat auch unfreiwillig zu einem Eindruck geführt, als sei das Eigentum (und nicht die Menschenwürde) das wichtigste aller Menschenrechte. Als wäre möglicherweise der Wesensgehalt aller Menschenrechte ein Eigentumskern statt eines Menschenwürdekerns.

Dabei hat Bundesverfassungsgericht im Bodenreform III – Urteil (Abschnitt VII.14.5 dieser Verfassungsbeschwerden) selbst geurteilt, dass universelle Menschenrecht auf Eigentum (Art. 17 AEMR) kein ius cogens sei, weil es im UNO-Zivilpakt nicht wiederholt werde. Dem gegenüber dem Eigentum deutscher Gläubiger unbeabsichtigt mehr Raum zu geben als der Menschenwürde der Argentinier, wirkt wie zweierlei Maß bzw. wie eine dem Sachverhalt und der Rechtslage unangemessene Einschränkung des Blickwinkels beim Urteil zur völkerrechtlichen Notstands-einrede, wenngleich natürlich ein erheblicher Teil der Verantwortung dafür bei der damaligen argentinischen Regierung bzw. deren rechtlicher Vertretung und der versäumten Geltendmachung der Menschenrechte der argentinischen Einwohner lag.

Das Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede konnte auch zu dem falschen Eindruck verleiten, Staaten könnten den Ansprüchen ihrer privaten Gläubiger rechtlich gar nichts entgegen halten. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, die Staaten vollständig an die Gläubiger auszuverkaufen, bis hin zu deren grundlegendsten Strukturen wie Regierung, Parlament, Militär, Polizei, Geheimdienst und obersten Gerichten, weit über die Argentinien in den zehn Jahren (1991 – 2001) im Rahmen der vom IWF erwzungenen Vertiefung der Schuldenkrise aufgezwungene Privatisierung des Zolls (Abschnitt IV.5.4 dieser Verfassungsbeschwerden) und erheblicher Teile der Daseinsvorsorge hinaus.

Das Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede zeigt auch zweierlei Maß im Vergleich zum Waldenfels-Urteil. Denn die argentinische Diktatur, welche Argentinien die erdrückende Schulden- last gebracht hatte, hatte qualitativ und quantitativ erheblich weniger Verbrechen begangen als die Nazi-Diktatur, welche Deutschland den Staatsbankrott nach dem Zweiten Weltkrieg gebracht hat.

Insbesondere hat die argentinische Diktatur keinen derart großen Völkermord begangen und keinen Weltkrieg ausgelöst. Und die Argentinier hatten ihre Diktatur nicht auch selbst durch Wahlen an die Macht gebracht, im Gegensatz zur deutschen Reichstagswahl von 1933.

Wollte man an Deutschland die gleichen Maßstäben messen wie es Argentinien, sicherlich auch auf Grund von dessen mangelnder Berufung auf die Menschenrechte seiner Einwohner im Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede ergangen ist, so hätte Deutschland niemals wieder zu Wohlstand kommen dürfen, jedenfalls nicht bevor alle Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Naziregimes entschädigt worden wären.

Stattdessen wurde im Waldenfels-Urteil (Abschnitt IV.6.7 dieser Verfassungsbeschwerden) völlig zutreffend der Blick auf die Verpflichtungen Deutschlands in der Zukunft gerichtet, jedenfalls stärker als auf die Abrechnung mit der Vergangenheit. Das gleiche Recht muss auch, allein schon auf Grund der Ausrichtung der Präambel des Grundgesetzes auf die Völkerfreundschaft, allen anderen Staaten von Deutschlands Exekutive, Legislative und Judikative zugestanden werden.

Zielführender für die Frage, welcher Spielraum für den Kompromiss zwischen den Menschenrechten der Einwohner und der Gläubiger besteht, ist das Zitat aus einer Stellungnahme der Regierung Südafrikas aus dem Jahr 1930, wonach vom Schuldnerstaat die Schließung seiner Schulen, Universitäten und Gerichte, die Entlassung seiner Polizeikräfte und die Vernachlässigung seiner Daseinsvorsorge bis zu einem Ausmaß, in welchem Chaos und Anarchie ausgelöst werde, nicht verlangt werden könne, „nur um seine ausländischen und oder einheimischen Darlehensgeber zu befriedigen“ (siehe Rn. 86 der abweichenden Stellungnahme von Frau BVRin Prof. Dr. Lübbe-Wolff im Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede).

Nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin werden in der damaligen Stellungnahme Bereiche aufgezeigt, zu deren Schutz auch der Erfüllung des Eigentumsrechts der Gläubiger Grenzen gesetzt werden müssen. Das Maß für die genauen Spielraum des zu findenden Kompromisses können jedoch nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin auf Grund der Unteilbarkeit der Menschen-rechte allein die im jeweiligen Schuldnerstaat geltenden Grund- und Menschenrechte incl. der universellen Menschenrechte sein (siehe Abschnitte IV.4.1 und VII.6 dieser Verfassungsbeschwerden). Dabei muss sich wiederspiegeln, welches Maß im jeweiligen Land an sozialen Menschenrechten gilt,und wie gut dort das Eigentumsrecht menschenrechtlich abgeischert ist, sowie, wie weit die Menschenrechte der Einwohner des Landes zum Zeitpunkt des Staatsbankrotts des Staatsbankrotts im jeweiligen Land bereits verwirklicht sind.

Anders als im damaligen Minderheitenvotum von Frau BVRin Prof. Dr. Lübbe-Wolff ist die Beschwerdeführerin der Rechtsauffassung, dass unter Berufung auf die Grund- und Menschen-rechte der Einwohner des Schuldnerstaates, ganz im Sinne des Waldenfels-Urteils, regelmäßig nicht nur eine Stundung, sondern auch eine Reduzierung der Schuldenlast geboten sein kann. Zur Vermeidung von Willkür gegenüber den Gläubigern muss im Falle eines Staatsbankrotts der Schuldnerstaat dabei jedoch die Darlegungslast zur Glaubhaftmachung haben, welche bisher unzureichend erfüllten menschenrechtlichen Ansprüche ihn nach seiner Einschätzung zur Kürzung seiner Schulden in welchem Ausmaß berechtigen, wobei eine Schätzung genügen muss. Nur so lässt sich die rechtsstaatliche gebotene gerichtliche Überprüfbarkeit sichern.

Darüber hinaus scheint es der Beschwerdeführerin geboten, zwischen einer allgemeinen völker- rechtlichen Notstandseinrede und einer völkerrechtlichen Einrede des Staatsbankrotts im besonderen zu differenzieren, da ein Staatsbankrott weit mehr als viele andere Situationen, welche eine Regierung als Notstand empfinden mag, die Gefahr der Verletzung sozialer und bürgerlicher Menschenrechte der Einwohner des Schuldnerstaats mit sich bringt.

Besondere Aktualität hat Rn. 94 des damaligen Minderheitenvotums durch die Griechendlandhilfe und den europäischen Finanzierungsmechanismus erhalten. Bereits damals kritisierte Frau BVRin

Prof. Dr. Lübbe-Wolff vollkommen zutreffend:

„Privatgläubiger – auch solche, die Staatsanleihen mit ungünstigen Risikobewertungen und entsprechend günstigen Zinsversprechungen bewusst als spekulative Anlage gekauft haben“ ... „können ihre Forderungen danach von nun an in Deutschland auch angesichts katastrophaler innerer Zusammenbrüche des Schuldnerstaates nicht nur titulieren lassen, sondern bei entsprechendem Immunitätsverzicht in den Anleihebedingungen auch mit Vollstreckung in für hoheitliche Zwecke bestimmtes Vermögen des Schuldnerstaates durchsetzen.“

Wie weit weg, ja nahezu beschaulich, scheint doch die damalige Situation im Vergleich zu heute, wo direkt alle Staaten Europas mit der Strenge der IWF-Praxis ausverkauft werden sollen, und wo die privaten Gläubiger im Staateninsolvenzverfahren die Politik der Staaten mit eben dieser Strenge bestimmen sollen.

Die verheerenden Auswirkungen, die es für die Menschen und Völker Europas und für die vom Grundgesetz gewollte Art und Weise der europäischen Integration hätte, wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht sich am Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede festklammern würde, dürfte sich jeder ausmalen können.

VII.14.8 Erkenntnisse aus dem Urteil vom 07.09.2011

Das Urteil vom 07.09.2011 zu den Pilotverfahren zu Griechenlandhilfe und bisherigem Euro-Rettungsschirm entschied auch, inwieweit man sich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Unterlassen einer Gesetzgebung wehren kann. Der Kläger Dr. Gauweiler hatte gerügt, dass die Bundesregierung es unterlassen habe, wirksame Maßnahmen „gegen diejenigen Spekulanten zu ergreifen, die nach Darstellung der Bundesregierung gegen den Euro beziehungsweise gegen bestimmte Mitgliedsstaaten des Euro-Währungsgebiets derart aggressiv spekulierten, dass zur Rettung der Währungsstabilität die ,Rettungspakete' erforderlich seien.“

Dazu stellte das Urteil klar:

„Ein Unterlassen des Gesetzgebers kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wenn sich der Beschwerdeführer auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen umgrenzt.“

Das gilt nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin nicht nur für ausdrücklich im Grundgesetz formulierte Aufträge, bestimmte Fragen auf einfachgesetzlicher Ebene zu regeln, sondern auch, wenn der Gesetzgeber es unterlässt, einer im Grundgesetz verankerten Verpflichtung auf die Anwendung der für Deutschland geltenden universellen Menschenrechte nachzukommen, welche insbesondere über Art. 1 Abs. 2 GG (als Teil der Rechtsstaatlichkeit im materiellen Sinne, siehe Abschnitt VII.12 dieser Verfassungsbeschwerden) , aber auch über Art. 25 GG normiert ist.

Wenn ein Einzelner im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde durch Verbindung über Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte geltend machen kann, wie dies im Urteil vom 07.09.2011 bestätigt wurde, dass Aufträge des Grundgesetzes zur einfachgesetzlichen Regelung bestimmter Fragen ausgeführt werden, was ohne die Verbindung mit Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten selbst bei noch so großer persönlicher Betroffenheit allein einem Normenkontrollverfahren vorbehalten bleiben müsste, dann muss es über die Verbindung mit Art. 38 GG, Art. 1 Abs. 1+2 GG und Art. 25 GG umso mehr möglich sein, gegen das Unterlassen der Anwendung der universellen Menschenrechte in Deutschland vorzugehen.

Denn zur Unveräußerlichkeit i. S. v. Art. 1 Abs. 2 GG gehört auch das insbesondere alle Organe des Staates verpflichtende verfassungsrechtliche Gebot zur Anwendung der AEMR (seit Bestehen des Grundgesetzes) und der von Deutschland ratifizierten universellen Menschenrechte, da eine Nichtanwendung eine Veräußerung wäre.

Und im vorliegenden Fall klagt die Beschwerdeführerin noch nicht einmal in einer eigenständigen Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtanwendung universeller Menschenrechte, sondern macht in ihren Verfassungsbeschwerden gegen Zustimmungsgesetze zu mit universellen Menschenrechten unvereinbaren internationalen Regelungen (ESM-Vertrag, Fiskalpakt und EFSF-Rahmenvertrag) Inhalte, Rang und unmittelbare Anwendbarkeit (incl. Justiziabilität vor allen deutschen Gerichten) universeller Menschenrechte geltend, soweit dies hier entscheidungserheblich ist.

VII.15 Die Nicht-Existenz einer verfassungsrechtlichen oder völkerrechtlichen Befindlichkeitseinrede

Manchmal gebietet der Respekt konstruktive Kritik, wäre angstvolles Schweigen Ausdruck von Egozentrismus und Ausdruck fehlender Solidarität. Menschenrechte wühlen die meisten von uns emotional auf, es lässt wohl keinen zu Mitgefühl befähigten Menschen kalt, wenn ihm weitere Menschenrechte bekannt werden, welche er bisher noch nicht gekannt und in seinen Handlungen dementsprechend noch nicht entsprechend berücksichtigt hat. In vielen von uns löst das Schuldgefühle aus, wir haben Angst, nicht gut genug zu sein, den Ansprüchen nicht genügen zu können.

Das Bekanntwerden weiterer, einem bisher noch unbekannter, Menschenrechte löst auch eine graduelle Verschiebung des Standpunktes aus, von welchem man die Welt betrachtet, sowie eine Erweiterung des Weltbildes. Das kann nicht nur neue Kraft und neuen Sinn geben, sondern auch Ängste auslösen, weil sich das Bild, welches man von der Welt hat, dabei ein Stück weit verschiebt. Viele Menschen scheinen sich vor einer Erweiterung ihres Weltbilds zu fürchten, als ob ihr Weltbild unterzugehen drohte.

Bei Persönlichkeiten mit hochrangigen Positionen kommt dann noch hinzu, dass sie oft eine Erwartungshaltung zu spüren glauben, schon alles wissen zu müssen, was es schwieriger macht, sich sehr grundlegendem neuem Wissen zu öffnen. Als ob es keiner merken dürfte, wenn hochranggige Persönlichkeiten der Organe Deutschlands sich fortbilden, als ob ihnen nicht gerade das eine Welle der Sympathie im ganzen Volk brächte.

Diese Beweggründe wirken oft eher unbewusst auf uns ein. Sie schaffen einen gewaltigen emotionalen Anreiz, die das eigene Weltbild graduell verschiebenden Tatsachen oder Rechtsgrundlagen wegzuschieben, um sich der Erweiterung des eigenen Weltbilds nicht aussetzen zu müssen.

Das zeigt sich in der Vernachlässigung des Zitiergebots (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) in der Gesetzgebung und noch weitaus gravierender in der immer noch sehr weit verbreiteten Ignorierung der universellen Menschenrechte in Legislative, Exekutive und Judikative Deutschlands.

Es gibt jedoch keinerlei Rechtsgrundlage dafür. Der für die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte vor allem maßgebliche Art. 1 Abs. 3 GG kennt keine Befindlichkeitseinrede, der für die Verbindung zu den universellen Menschenrechten, daneben aber auch zu allen anderen in Deutschland verbindlichen Menschenrechten aus internationaler Rechtsquelle, maßgebliche Art. 1 Abs. 2 GG auch nicht.

In den universellen Menschenrechtsverträgen fehlt die Befindlichkeitseinrede ebenso wie in der AEMR und in der UNO-Charta, deren Art. 1 Nr. 3 ja nach dem Mauerschützen III - Urteil (Abschnitt VII.14.3 dieser Verfassungsbeschwerden) durch die AEMR konkretisiert wird. Deutschland hat auch keine völkerrechtlichen Vorbehalte bzgl. Befindlichkeiten gegenüber diesen Rechtsgrundlagen geltend gemacht. Es gibt auch keinerlei zum ius cogens gehörenden ungeschriebenen Rechtsgrundsatz einer solchen Einredemöglichkeit. Gäbe es einen solchen, könnten alle staatlichen Organe die Anwendung jeglicher völkerrechtlicher Vorschriften verweigern, welche sie dem Risiko der Erweiterung ihres Weltbildes aussetzen würden.

Diese emotionalen Hürden bzgl. der Berufung auf die Menschenrechte sind nicht nur ein deutsches Phänomen. Wie das Urteil zur völkerrechtlichen Notstandseinrede zeigt, haben damals selbst die juristischen Vertreter Argentiniens es versäumt, ihren Gläubigern die Grundrechte sowie Menschenrechte aus internationaler Rechtsquelle entgegen zu halten, welche das Land außer dem Recht der Gläubiger auf Eigentum ebenfalls zu berücksichtigen hat, und zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung welcher staatlicher Leistungen sich Argentinien vorrangig vor der vollständigen und pünktlichen Bedienung seiner Gläubiger verpflichtet sah. Die Berufung allein auf eine kalte, abstrakte völkerrechtliche Notstandseinrede, vollkommen losgelöst von allen Grund- und Menschenrechten, musste den Gläubigern geradezu willkürlich vorkommen und ihre Fähigkeit zum Mitgefühl mit der verarmten argentinischen Bevölkerung und ihr Verständnis für den Wiederaufbau des ausverkauften argentinischen Staatswesens hemmen.

Die Menschen, welche auf die Anwendung der universellen Menschenrechte angewiesen sind, erleben jedoch noch wesentlich heftigere Erschütterungen und Herausforderungen, ihr Weltbild wieder neu zusammenzusetzen, wenn diese Rechte nicht berücksichtigt werden.

Bei allem Mitgefühl und Respekt fordert die Beschwerdeführerin den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts höflich auf, seiner historischen Verantwortung gerecht zu werden und die damit verbundene Erweiterung des eigenen Weltbildes couragiert in Kauf zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht ist für viele Menschen in diesem Land die letzte hochrangige Institution, auf deren Verantwortungsbewusstsein sie noch vertrauen.

Fortsetzung: https://sites.google.com/site/euradevormwald/02-esm/059-entstaatlichung