023. III. Die Verfassungswidrigkeit der kleinen Vertragsänderung, und was nun stattdessen vorgesehen ist

III. Die Verfassungswidrigkeit der kleinen Vertragsänderung, und was nun stattdessen vorgesehen ist

III.1 die „kleine Vertragsänderung“ (Art. 136 Abs. 3 AEUV)

III.1.1 die Blankettartigkeit des neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV und der Begriff der Stabilitätsunion

Die plötzliche Weigerung des britischen Premierministers vom 09.12.2011, die kleine Vertragsänderung dem britischen Parlament zur Zustimmung vorzulegen, brachte den Vorwand, diese nun erst einmal nicht allen nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten vorzulegen, sondern stattdessen zusätzlich den Fiskalpakt (V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) zu initiieren. Laut dem Nachwort der Erklärung zum Euro-Gipfel vom 09.12.2011 und laut Abs. 7 der Erwägungsgründe i. V. m. Art. 16 Fiskalpakt ist jedoch beabsichtigt, den Fiskalpakt so bald wie möglich ins EU-Primärrecht zu überführen. Damit dürfte der Zeitpunkt gemeint sein, wenn der Fiskalpakt (Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) und die beiden Verordnungen zur haushaltspolitischen Überwachung (Abschnitt VI.2 dieser Verfassungsbeschwerden) durch wären. Unabhängig vom Fiskalpakt und von der Frage von Zeitpunkt sowie Art und Weise von dessen Überführung ins EU-Primärrecht wird, als ob nichts wäre, die Zustimmung zu Art. 136 Abs. 3 AEUV in Deutschland betrieben.

Der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV lautet wie folgt:

„Die Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“

Seinem Wortlaut nach ermächtigt Art. 136 Abs. 3 AEUV also die Staaten der Eurozone, auf EU- sekundärrechtlicher oder intergouvernementaler Ebene einen beliebigen „Stabilitätsmechanismus“ einzurichten, ohne jede Vorbedingung. Als Muss-Vorschrift bestimmt Art. 136 Abs. 3 AEUV, dass alle Finanzhilfen im Rahmen eines solchen Mechanismus „strengen Auflagen“ unterliegen. Und die Aktivierung des Mechanismus ist als Muss-Vorschrift vorgesehen, wenn dies für die Stabilität des Euro-Währungsgebiets für unabdingbar angesehen wird. Eine spätere Deaktivierung des Mechanismus ist im Wortlaut des Art. 136 Abs. 3 AEUV nicht vorgesehen.

Maßgeblich für die Auslegung, für welchen Zweck die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 AEUV in erster Linie gedacht ist, sind die Erwägungsgründe des Beschlusses zur Initiierung der Änderung des Art. 136 AEUV. Darin ist in Abs. 3 ebenfalls von einem „Stabilitätsmechanismus“, von der „Stabilität des Euro-Währungsgebiets“ und von der Verbindung „aller erforderlichen Finanzhilfen“ mit „strengen Auflagen“ die Rede. Die Formulierung zeigt eindeutig, wie auch die des Art. 136 Abs. 3 AEUV selbst, dass damit eine primärrechtliche Grundlage für die Griechenland-Hilfe und den europäischen Finanzierungsmechanismus (EFSM, EFSF und ESM) geschaffen werden soll.

Abs. 4 der Erwägungsgründe spricht von der „Finanzstabilität“ des Euro-Währungsgebietes. Zur Definition des Rechtsbegriffs „Finanzstabilität“ siehe Abschnitt III.15 dieser Verfassungsbeschwerden.

Wie zentral die „Finanzstabilität“, also die Stabilität des Finanzsektors (incl. vor allem Bankenret-tung), für die Initiierung von Art. 136 Abs. 3 AEUV gewesen ist, und wie zentral diese innerhalb des insgesamt blankettartigen Rechtsbegriffs der „Stabilität des Euro-Währungsgebiets als Ganzes“ ist, zeigt auch Nr. 11 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 23./24.06.2011:

„Die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets bekräftigen, dass sie alle notwendigen Maßnahmen ergreifen werden, um die Finanzmarktstabilität im gesamten Euro-Währungsgebiet sicherzustellen.“

Link zu den Schlussfolgerungen:

www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/123075.pdf

Abs. 4 der Erwägungsgründe sagt darüber hinaus, mit dem neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV sei die Bezugnahme auf Art. 122 Abs. 2 AEUV für den Stabilitätsmechanismus „für den Umgang mit Risiken für die Finanzstabilität des gesamten Euro-Währungsgebiets“, „wie sie im Jahr 2010 aufgetreten sind“, nicht mehr nötig. Art. 122 Abs. 2 AEUV wurde bisher als EU-primärrechtliche Grundlage für den europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus und für den Euro-Stabilisierungsmechanismus angegeben, wobei umstritten ist, was aber sehr fraglich ist, denn Art. 122 Abs. 2 AEUV hat im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 07.09.2011 zum Pilotverfahren in den Entscheidungsgründen keine Rolle gespielt.

Laut Abs. 2 der Erwägungsgründe kamen die Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten auf der Tagung des Europäischen Rats am 28.+29.10.2010 überein, „einen ständigen Krisenmechanismus zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro“ einzurichten. Genau diese Übereinkunft ist laut Tz. 2 der Erwägungsgründe der ausschlaggebende Anlass für die legislative Initiierung des neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV gewesen. Der „ständige Krisenmechanismus“ ist, wie im Abschnitt dieser Verfassungsbeschwerden zum Staateninsolvenzverfahren gezeigt wird, nichts anderes als der europäische Stabilisierungsmechanismus ESM als die dritte Stufe des europäischen Finanzierungsmechanismus).

Abs. 3 der Erwägungsgründe verweist außerdem auf die Absätze 1 bis 4 der auf der Sitzung vom 16.+17.12.2010 angenommenen Schlussfolgerungen des Europäischen Rats.

Nach Abs. 1 der Schlussfolgerungen sollen der europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und der Euro-Stabilisierungsmechanismus (EFSF) von einem ständigen Krisenmechanismus namens „europäischer Stabilitätsmechanismus“ (ESM) abgelöst werden. Nach Abs. 2 der Schlussfolgerungen ist dies ab dem 01.07.2013 vorgesehen (gewesen). Abs. 1 stellt außerdem klar, dass Art. 136 Abs. 3 AEUV die EU-primärrechtliche Grundlage für den ESM werden soll.

Abs. 3 der Schlussfolgerungen erläutert, dass die Arbeiten an der zwischenstaatlichen Einrichtung für den neuen ESM bis März 2011 abgeschlossen sein sollten. Zu den Merkmalen des ESM wird in Abs. 3 auf die Erklärung der Eurogruppe vom 28.11.2010 zu den allgemeinen Merkmalen des künftigen Mechanismus verwiesen; diese beweisen, dass mit dem ESM, grob gesagt, die unbefristete Verlängerung des Euro-Rettungsschirms sowie die Wiener Initiative und das Staateninsolvenzverfahren gemeint sind – siehe Abschnitte IV.6.2.2 bis IV.6.2.5 dieser Verfassungsbeschwerden zum Staateninsolvenzverfahren.

Die für die Aktivierung des Mechanismus nach Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV erforderliche Unabdingbarkeit zur Wahrung der Stabilität des Euroraumes ist keinerlei ernst zu nehmende Hürde. Denn Abs. 2 der Erwägungsgründe erläutert bereits, dass die Regierungschefs sich bereits auf der Tagung des Europäischen Rats am 28./29.10.2010 einig gewesen seien, dass „zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt“ ein „ständiger Krisenmechanismus“ (also der ESM) eingerichtet werden müsse. Es bestand also schon am 28./29.10.2010 Einigkeit, dass bereits die Voraussetzungen gegeben seien zur Aktivierung selbst der dritten Stufe des europäischen Finanzierungsmechanismus. Zudem sagt Abs. 3 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 16./17. 12.2010, dass der Mechanismus bereits im Falle „eines Risikos für die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt“ zu aktivieren sei. Es reicht also schon die Intensität eines Risikos zur Aktivierung aus. Und Abs. 3 sagt außerdem, dass die Aktivierung dann erfolgen werde „in gegen-seitigem Einvernehmen der Mitgliedsstaaten des Euro-Währungsgebiets“ (also allein durch die Regierungschefs der Länder der Eurozone, ganz ohne Parlament).

Und auf dem Gipfel vom 24./25.03.2011 wurde das Vorliegen der Voraussetzungen zur Aktivierung vom Europäischen Rat bekräftigt (siehe Abschnitt III.16 dieser Verfassungsbeschwerden).

Darüber hinaus ist Art. 136 Abs. 3 AEUV vorgesehen als Blankett-Grundlage für alle beliebigen der „Finanzstabilität“ (der Großbanken) förderlichen intergouvernementalen Verträge, insbesondere auch für intergouvernementale Verträge im Raum der erweiterten Zusammenarbeit (Abschnitt III.20 dieser Verfassungsbeschwerden) incl. des Fiskalpakts, des ESM-Vertrags und des EFSF-Rahmenvertrags. Art. 136 Abs. 3 AEUV hat dabei die Funktion, die Formvorschriften des Art. 329 AEUV (insbesondere die Zustimmungsbedürftigkeit beim Europaparlament) lex-specialis-mäßig zu umgehen, und Art. 20 EUV lex-specialis-mäßig insoweit zu umgehen, wie Art. 20 EUV den Raum der erweiterten Zusammenarbeit nur hinsichtlich der zwischen EU und Mitgliedsstaaten geteilten Zuständigkeiten, nicht aber der alleinigen Zuständigkeiten der EU (wie z. B. der bzgl. des Euro), eröffnet.

Dass der offizielle Anlass für den neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV der europäische Finanzierungsmechanismus gewesen ist, kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass er auf Grund seiner weiten Formulierung die EU-Verordnungen zur Einführung des Ungleichgewichtsverfahren und der haushaltsmäßigen Überwachung sowie zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstsumspaktes zwecks Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung abdecken soll; für diese gibt es, wie in Abschnitt V.2-V.7 und VI.2 dieser Verfassungsbeschwerden gezeigt wird, sonst keine entsprechende EU-primärrechtliche Grundlage. Die Änderungen wären ultra-vires. Nach Leitsatz 4 des Lissabonurteils wacht das Bundes-verfassungsgericht darüber, dass die Kompetenzen der EU nicht ultra-vires-mäßig überdehnt werden.

Laut Abs. 5 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 16./17.12.2010 sollte „die Arbeit an den sechs Gesetzgebungsvorschlägen zur wirtschaftspolitischen Steuerung“ beschleunigt wer-den, um im Juni 2011 angenommen werden zu können. Damit sind die von der EU-Kommission am 29.09.2010 vorgestellten fünf Verordnungsentwürfe und der eine Richtlinienentwurf zur Einführung des Ungleichgewichtsverfahrens und zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gemeint, mit welchen die EU-Kommission zur EU-Wirtschaftsregierung werden will, welche am 28.09.2011 beschlossen worden sind, und seit dem 01.01.2012 von der Kommission angewandt werden trotz fehlender völkervertragsrechtlicher Grundlage (Abschnitt V.23 dieser Verfassungsbeschwerden).

Nr. 18 und 19 des Berichts der Task Force (Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden) vom 21.10.2010 bestätigen, dass Art. 136 Abs. 3 AEUV als primärrechtliche Grundlage vorgesehen gewesen ist für die Sanktionen im Rahmen der Neuregelung des Stabiltäts- und Wachstumspaktes.

Aus dem WIFO-Gutachten (Abschnitt VI.1.1 dieser Verfassungsbeschwerden) vom Mai 2010 sind offensichtlich wesentliche Inhalte von der EU-Kommission für ihre Vorschläge vom 29.09. 2010 zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung übernommen worden. Das WIFO-Gutachten enthält darüber hinaus Empfehlungen, um die Mittel und die Mechanismen der EU-Kohäsionspolitik so umzustrukturieren, dass die EU-Kommission damit auch den Provinzen / Bundesländern der EU-Mitgliedsstaaten direkt Auflagen macht, welche mit den Fördermitteln verknüpft werden sollen.

Es geht also vor allem darum, dass die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten der Eurozone verbindliche Auflagen macht. Beim europäischen Finanzierungsmechanismus ist das Druckmittel dazu die Vergabe von Krediten. Bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstsumspaktes sind die Auflagen (dort „Empfehlungen“ genannt) mit Bußgeldern als finanzielle Sanktionen verbunden. Und bei der Änderung der EU-Fördermittel will man die Gewährung von Fördergeldern für die Bundesländer mit den Auflagen verbinden, gerade auch i. V. m. den Empfehlungen der Wirtschaftsregierung und den Auflagen aus dem europäischen Finanzierungsmechanismus.

Die Formulierung des Art. 136 Abs. 3 AEUV ist so offen, dass man darauf beliebige EU-Verordnungen stützen könnte, welche primär die „Finanzstabilität“ (der Großbanken) fördern, nicht nur die für die Wirtschaftsregierung. Art. 136 Abs. 3 AEUV ist also als Blankettnorm zur Umgehung der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) und von Art. 4 Abs. 1 EUV gedacht.

Art. 136 Abs. 3 AEUV ist nicht die erste primärrechtliche Vorschrift, welche so weit gefasst wird, dass sie nach ihrem Inkrafttreten bald für wesentlich mehr sekundärrechtliche Initiativen benutzt wird, als dies in den Erwägungsgründen bei der Initiative zur Einfügung der betreffenden primär- rechtlichen Vorschrift vorgesehen bzw. angegeben gewesen ist.

Die Binnenmarktklausel war ursprünglich nur dafür vorgesehen, die Kompetenzen zur Verwirklichung des Binnenmarktes etwas abzurunden. Die Binnenmarktklausel wurde auch benutzt als Grundlage für das Einfrieren des Vermögens von Terrorverdächtigen ohne ordentlichen Rechtsweg dagegen (siehe Sachverhaltsschilderungen im Urteil des EU-Gerichts 1. Instanz zu T-306/01 und des EUGH zu C-402/05) sowie für eine EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Inzwischen wurde die Binnenmarktklausel durch den Lissabonvertrag sogar zur Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV) umgebaut, wonach die EU von sich aus alle ihre Kompetenzen, für welche sie das für notwendig hält, abrunden kann. Dem hat das Lissabonurteil dadurch die erforderlichen Grenzen gezogen, dass alle Anwendungen der im EU-Primärrecht enthaltenen Blankett-Ermächtigungen für Deutschland jeweils eines eigenen Zustimmungsgesetzes bedürfen.

Art. 136 Abs. 3 S. 2 AEUV verpflichtet für alle auf Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV gestützten Finanzhilfen auf eine der Praxis des IWF entsprechende, also alle Grund- und Menschenrechte der Einwohner der Schuldnerstaaten ignorierende, Strenge (Abschnitt III.4 dieser Verfassungsbeschwerden), und das mit Auflagen von EU-sekundärrechtlichem Rang.

Und Art. 136 Abs. 3 S. 2 AEUV sagt nichts dazu, wer diese Auflagen machen dürfte, sodass die an Art. 136 Abs. 3 S. 2 AEUV anknüpfenden Mechanismen buchstäblich jeden dazu bestimmen könnten.

Blankett-Ermächtigungen, egal ob innerhalb des EU-Primärrechts oder innerhalb des EU-Sekundär- rechts, verstoßen gegen Art. 4 Abs. 1 EUV, wonach alle nicht innerhalb des EU-Primärrechts auf die EU übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedsstaaten verbleiben. Innerhalb des Primär-rechts hat Art. 136 Abs. 3 AEUV auch den Sinn, insbesondere die Struktursicherungsklausel des Art. 4 Abs. 2 EUV lex-specialis-mäßig zu umgehen. Aus der besonderen Bedeutung von Art. 4 Abs. 2 EUV für die Integrationsverantwortung und den Respekt gegenüber den mitgliedsstaatlichen Verfassungen lässt sich erklären, dass das Bundesverfassungsgericht im Lissabonurteil die Zustimmung zu den damals ins Primärrecht eingefügten Blankett-Ermächtigungen und Brückenklauseln nicht komplett untersagt, sondern nur durch die Festlegung der jeweils erneuten Ratifizierungsbedürftigkeit bei jeder neuen Anwendung dieser Klauseln festgelegt hat. Das ist bei Art. 136 Abs. 3 AEUV hingegen nicht möglich, da dessen Einfügung bereits aus formalen Mängeln scheitert (Abschnitt III.3.1 dieser Verfassungsbeschwerden), angesichts der Menschenrechtsfeindlichkeit der vorgesehenen Auflagen (Abschnitt III.4 dieser Verfassungsbeschwerden), und angesichts der geplanten Nutzung von Art. 136 Abs. 3 AEUV zur Errichtung der halb-diktatorischen EU-Wirtschaftsregierung (siehe Abschnitt V. dieser Verfassungsbeschwerden) mitsamt Exportierbarmachung aller unveräußerlicher Güter.

Art. 136 Abs. 3 AEUV soll außerdem mit verdeckter völkerrechtlicher Rückwirkung (Abschnitt III.9 dieser Verfassungsbeschwerden) eine Grundlage nachschieben für Griechenland-Hilfe und EFSM (zur Derogierung von Art. 125 AEUV), für die EFSF (zur Derogierung von Art. 329 AEUV) und für das Six Pack und die haushaltsmäßige Überwachung (zur Derogierung von Art. 4 Abs. 1 EUV und Art. 5 EUV).

Die Zustimmung zu Art. 136 Abs. 3 AEUV kann nur als insgesamt verfassungswidrig erkannt werden. Abgesehen davon, dass eine verfassungskonforme Eingrenzung dieser Blankett-Ermächtigung nicht möglich ist, und dass die Zustimmung bereits aus formellen Gründen insgesamt als verfassungswidrig zu beurteilen ist (Abschnitt III.3.1 dieser Verfassungsbeschwerden), verbietet sie sich auch bereits auf Grund der Völkerfreundschaft und des Staatsauftrags europäische Integration (Art. 23 GG). Denn eine entsprechende Eingrenzung könnte nur ein gewisses Maß an Schutz für die Einwohner Deutschlands bringen. Alle anderen Staaten der Eurozone würden mit voller Wucht durch den europäischen Finanzierungsmechanismus, die EU-Wirtschaftsregierung und die Reform der EU-Fördermittel getroffen, was nicht im Sinne der auf die Völkerfreundschaft gerichteten europäischen Integration (Art. 23 GG) wäre.

Am 09.08.2011 hat Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler der Gesamtheit der Mechanismen, welche man auf die Blankett-Ermächtigung stützen will / wollte, den Namen „Stabilitätsunion“ gegeben.

Http://de.reuters.com/articlePrint?articleId=DEBEE7780EK20110809

III.1.2 das Zustimmungsgesetz zu 136 Abs. 3 AEUV

Das Zustimmungsgesetz zu Art. 136 Abs. 3 AEUV würde laut seinem Art. 2 nach dem Tag der Verkündung (des Zustimmungsgesetzes) im Bundesgesetzblatt in Kraft treten.

Die Gesetzesbegründung tut so, als sei Art. 136 Abs. 3 AEUV allein zur „Rechtssicherheit“ für den ESM geschaffen worden, verschweigt aber selbst insoweit, worin denn diese „Rechtssicherheit“ bestehen würde (zur Umgehung der Formvorschriften des Art. 329 AEUV, für die IWF-artige Strenge etc.; siehe Abschnitte III.1.1 und III.3.1 dieser Verfassungsbeschwerden).

Das ganze Ausmaß der Verfassungswidrigkeit des Art. 136 Abs. 3 AEUV und des Zustimmungsgesetzes zu diesem zeigt folgender Satz der Gesetzesbegründung:

„Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes findet keine Anwendung, da die Änderung des Artikels 136 AEUV mitgliedsstaatlichen Handlungsspielraum aufzeigt, ohne für diesen inhaltliche Vorgaben zu enthalten.“

Diese Formulierung hat den Sinn, gegenüber Bundestag, Bundesrat und Volk gegenüber den Ein-druck zu vermitteln, Art. 136 Abs. 3 AEUV weite die Macht der EU in keiner Weise aus, sei gar beinahe nur deklaratorisch und unterfalle damit trotz Zugehörigkeit zum EU-Primärrecht nicht dem Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG – mit dem Ziel, dadurch das für Grundgesetzänderungen erhöhte Abstimmungsquorum von 2/3 (Art. 79 Abs. 2 GG) zu umgehen. Dabei muss zumindest der Bundesregierung bekannt sein, dass nach dem Lissabonurteil der nicht auf die GASP bezogene Teil des EU-Primärrechts oberhalb erheblicher Teile des Grundgesetzes steht (Abschnitt VII.1 dieser Verfassungsbeschwerden). Und wenn es (im Sinne von Rn. 240, aber entgegen Leitsatz 3 des Lissabon-Urteils) so sein sollte, dass das EU-Sekundärrecht oberhalb des Restes des Grundgesetzes steht, dann würde man mit der Zustimmung zu Art. 136 Abs. 3 AEUV blankettartig nahezu beliebige über erheblichen Teilen des Grundgesetzes stehende EU-Verordnungen genehmigen, ohne dafür die nach Art. 79 Abs. 2 GG nötige Zweidrittelmehrheit zu achten. Beim Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten war es gerade die Schaffung einer ständigen Umgehbarkeit des für Änderungen der Weimarer Reichsverfassung erforderlich gewesenen erhöhten Abstimmungsquorums, welches zum Absturz der Weimarer Reichsverfassung geführt hat (Abschnitt III.12 dieser Verfassungsbeschwerden). Außerdem ist jede Zustimmung unter Missachtung von Art. 79 Abs. 2 GG zu völkerrechtlichen Regelungen, durch welche direkt oder indirekt auch nur gegenüber Teilen des Grundgesetzes stehendes Recht geschaffen wird, ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes (Rn. 217 Lissabon-Urteil).

Und das mit einer Vorschrift, deren Zustimmungsgesetz bereits auf Grund der drastischen Verletzung von Art. 48 Abs. 6 EUV (und dadurch auch von Art. 38 GG) vollständig zu untersagen ist.

Die Begründung des Zustimmungsgesetzes stellt außerdem klar, dass Art. 136 Abs. 3 AEUV das Grundgesetz weder ändern noch die Grundlage dafür schaffen würde. Das ist eine Selbstverständlichkeit angesichts des dualistischen Charakters des Grundgesetzes (Abschnitt VII.8.1 dieser Verfassungsbeschwerden) und mindert in keiner Weise den Umgehungsversuch gegenüber Art. 79 Abs. 2 GG.

Fortsetzung: https://sites.google.com/site/euradevormwald/02-esm/023-lissabon