047. Wirtschaftsregierung, Verodnungen, Staatshaushalte, Defizite

V.1.2 das Zustimmungsgesetz zum Fiskalpakt und zum Protokoll zum Fiskalpakt

Das Gesetz zu Drucksache 17/9046 ist formell ein Zustimmungsgesetz zum Fiskalpakt und zu dem gesondert neben dem Fiskalpakt beschlossenen (Zusatz-) Protokoll. Das Zustimmungsgesetz würde am Tag nach seiner Verkündung in Kraft treten.

V.2.1 Übersicht über die sekundärrechtlichen Initiativen im Rahmen des „Six Pack“ zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung

Am 29.09.2010 hat die EU-Kommission der Öffentlichkeit die Entwürfe zu fünf EU-Verordnungen und einer EU-Richtlinie vorgestellt, welche zusammen als die eu-sekundärrechtliche Grundlage zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung vorgesehen sind („Six Pack“), und welche am 28.09.2011 auf EU-Ebene beschlossen und am 13.12.2011 im EG-Amtsblatt verkündet worden sind.

Es handelt sich dabei um folgende Verordnungsentwürfe:

Links, die oben nicht klappen:

http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/pdf/com2010_522de.pdf

http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/pdf/com2010_524de.pdf

http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/pdf/com2010_525de.pdf

www.cep.eu/fileadmin/user_upload/CEP-Monitor/KOM_2010_527_Makrooekonomische_UEberwachachung/EU_1174_2011.pdf

http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/pdf/com2010_526de.pdfhttp://ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/pdf/com2010_527de.pdf

www.cep.eu/fileadmin/user_upload/CEP-

Die Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Fiskalpakt (Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) wendet sich gegen die Zustimmung zum Fiskalpakt auch insoweit, wie dieser als intergouvernementale Grundlage dienen würde für sämtliche Vorschriften der hier genannten Verordnungen. Und sie wendet sich gegen die an diesen anknüpfenden EU-Verordnugen (Abschnitte V.3 bis V.7 und VI.2 dieser Verfassungsbeschwerden). Ohne Art. 136 Abs. 3 AEUV sind diese Verordnungen insoweit ultra-vires, wie sie keine Grundlage im bisherigen EU-Primärrecht finden. Darüber hinaus kann der Fiskalpakt als intergouvernementaler Vertrag keine wirksame Grundlage für EU-Verordnungen sein.

Mit der EU-Wirtschaftsregierung ist gemeint, dass immer neue Anlässe geschaffen werden, nach denen die EU-Kommission sanktionsbewehrte Empfehlungen gegenüber Staaten der Eurozone initiieren kann, damit sie insbesondere im Bereich der Wirtschaft, aber auch bei Finanz- und Lohnpolitik eine Macht erhält, als würde sie in den betreffenden Staaten mit regieren und legislieren. Daher der Begriff „EU-Wirtschaftsregierung“.

Die hier genannten, EU-Verordnungen sind das Werkzeug zur Errichtung der halb-diktatorischen EU-Wirtschaftsregierung. Das beweist auch der Spiegel-Artikel „Euro-Zone Merkel schmiedet Plan für gemeinsame Wirtschafsregierung“ vom 29.01.2011

www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,742359,00.html

Die Kanzlerin will die EU-Wirtschaftsregierung für „eine engere Verzahnung der nationalen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Und das ist genau das, wofür das Ungleichgewichtsverfahren gedacht ist, über sanktionsbewehrte Empfehlungen, ohne weitere Zustimmungen von Parlamenten, den Staaten der Eurozone beliebige Eingriffe in Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik aufzuzwingen. Für Eingriffe in die Sozialpolitik findet sich immer auch eine finanz- oder wirtschaftspolitische Begründung.

Auch der Vorsitzende der Eurogruppe, der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker, bestätigt, wenngleich grob verharmlosend, dass es bei der EU-Wirtschaftsregierung um die „strengthened coordination of economic policy within the euro zone“ geht, und um „divergences in the competitiveness“ (Spiegel-Artikel „More Teeth for Brussels“ vom 01.03.2010)

www.spiegel.de/international/europe/0,1518,680955,00.html

(Im englischsprachigen Artikel steht das Datum in us-amerikanischer Schreibweise mit zuerst der Angabe des Monats.)

Laut dem gleichen Spiegel-Artikel vom 01.03.2010 hat EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso Anfang Februar 2010 verlangt, Staaten Strukturreformen unter Androhung finanzieller Sanktionen aufzuzwingen.

Auch das beweist, dass es bei der Änderung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht primär um stabilere Finanzen geht, sondern dass das der Vorwand ist, um bestimmte Strukturreformen zu erzwingen. Siehe dazu auch Abschnitt V.15 dieser Verfassungsbeschwerden.

Und Joschka Fischer (ehem. deutscher Außenminister, heute u. a. im Vorstand des European Coun-cil on Foreign Relations tätig) wird zitiert, er habe in einer Kolumne ein Finanzüberwachungsgremium mit Zähnen zur Erlangung der Kontrolle über die Finanzen der Mitgliedsstaaten verlangt.

Vergleiche dazu auch Abschnitt VI.2.2 dieser Verfassungsbeschwerden.

Ebenfalls am 29.09.2010 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde der Entwurf der EU-Richtlinie über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedsstaaten (veröffentlicht unter Az. KOM (2010) 523 endgültig). EU-Richtlinien haben keine unmittelbare Anwendbarkeit (Art. 288 S. 3 AEUV); sie geben nur verbindliche Ziele vor und bedürfen für unmittelbare Verbindlichkeit immer eines Umsetzungsgesetzes auf nationaler Ebene, bzgl. dessen geklagt werden kann, falls das Umsetzungsgesetz mit dem Grundgesetz oder mit über dem EU-Sekundärrecht stehendem Völkerrecht kollidieren sollte. Die Beschwerdeführerin konzentriert sich in den folgenden Ab- schnitten auf die Verfassungswidrigkeit der fünf Verordnungen.

Dass Art. 136 Abs. 3 AEUV zumindest auch als Rechtsgrundlage aller Änderungen bei den Sanktionen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und zur Einführung des sanktionsbewehrten Ungleichgewichtsverfahrens als Rechtsgrundlage vorgesehen ist, bestätigen auch die Nr. 18+19 der Empfehlungen der Task Force vom 21.10.2010 (siehe Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden).

V.2.2 Zusammenhang zwischen Art. 136 Abs. 3 AEUV bzw. Fiskalpakt und der EU-Wirtschaftsregierung

Solange es nur darum ginge, über Wirtschaft und Finanzen zu debattieren und einander dazu völlig unverbindliche und in keiner Weise sanktionierbare Empfehlungen zu machen, würden dafür Art. 121 AEUV, Art. 136 Abs. 1+2 AEUV und Art. 288 AEUV vollkommen ausreichen. Bei der Wirtschaftsregierung bzw. Art. 136 Abs. 3 AEUV bzw. beim Fiskalpakt geht es aber gerade darum, noch mehr Anlässe für beliebige sanktionsbewehrte Empfehlungen zu bekommen.

Dass Art. 136 Abs. 3 AEUV offen ist für beliebig viele noch zu schaffende Mechanismen, wird bereits in Abschnitt III.1.1 dieser Verfassungsbeschwerden dargelegt.

Die Aktivierung eines solchen Stabilisierungsmechanismus würde nach Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV jeweils einen Beschluss erfordern, der feststellt, dass die Aktivierung unabdingbar sei, „um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren“.

Dass Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV als Grundlage auch für die Änderung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zwecks Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung gedacht ist, findet sich in Abs. 5 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 16./17.12. 2010, wonach „die Arbeit an den sechs Gesetzgebungsvorschlägen zur wirtschaftspolitischen Steuerung zu beschleunigen“ sei.

Der Bericht der Task Force vom 21.10.2010 (Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden) bestätigt in Rn. 40 + 47 inzwischen, dass die Ausdehnung der Sanktionsbewehrung beim Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Einführung der Sanktionsbewehrung beim Ungleichgewichtsverfahren sich auf Art. 136 Abs. 3 AEUV stützen sollten.

Zusätzlich zu Art. 136 Abs. 3 AEUV hat man nun intergouvernemental die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt und das Ungleichgewichtsverfahren in Art. 9 Fiskalpakt verankert.

Dass Art. 136 Abs. 3 AEUV, und nicht etwa Art. 121 AEUV oder Art. 126 AEUV, als Grundlage für die Verordnungen zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung gedacht ist, wird außerdem bewiesen durch das WIFO-Gutachten von Mai 2010. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird diesbezüglich auf Abschnitt VI.1. dieser Verfassungsbeschwerden verwiesen.

Ein weiterer, noch offiziellerer Beweis dafür, dass Art. 136 Abs. 3 AEUV als die primärrechtliche Grundlage zur Errichtung der EU-Wirtschaftsregierung vorgesehen ist, findet sich in Nr. 18+19 der Empfehlungen der Task Force vom 21.10.2010 (siehe Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwer-den).

Den Beweis, dass die EU-Kommission (und nicht etwa der Europäische Rat oder der ESM) als EU-Wirtschaftsregierung vorgesehen ist, lieferte EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso in seiner Rede vom 28.09.2011 vor dem Europaparlament selbst:

„Aufgrund der Gemeinschaftsbefugnisse ist die Kommission die Wirtschaftsregierung der Union. Ganz gewiss brauchen wir dafür keine neuen Institutionen.“

http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/11/607&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat im Januar 2012 bestätigt, dass mit der EU-Wirtschaftsregierung die EU-Kommission gemeint ist:

„Meine Vision ist eine der politischen Union, weil Europa muss seinen eigenen einmaligen Weg gehen. Wir müssen schrittweise enger und enger werden, auf allen politischen Ebenen. Über einen längeren Prozess werden wir mehr und mehr Macht der Europäischen Kommission übertragen, die dann alles innerhalb Europa entscheidet, wie eine Europaregierung.“

http://allesschallundrauch.blogspot.com/2012/01/merkel-will-eine-europaregierung.html#ixzzlkbgPyuGW

V.3 Verordnung zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (Az. KOM (2010) 522 endgültig)

Die Existenz dieser Verordnung dem Grunde nach ist durch die Ermächtigung in Art. 126 Abs. 14 AEUV im Rahmen der korrigierenden Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gedeckt, nicht jedoch deren ultra-vires-mäßige Ausdehnung.

Auch das Anpassungsziel nach Art. 3 Abs. 4 dieser EU-Verordnung einer Defizitminderung von 0,5 % des BIP pro Jahr bleibt noch im Rahmen der bisherigen Ermächtigungsgrundlage, soweit es an das Defizitkriterium anknüpft. Soweit es hingegen an das Gesamtschuldenkriterium anknüpft, über-schreitet es hingegen die Ermächtigungsgrundlage des Art. 126 AEUV, weil im EU-Primärrecht ohne Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV keine Grundlage besteht für das Anknüpfen finanzieller Sanktionen an Verletzungen des Gesamtschuldenkriteriums, und weil eine intergouvernementale Vorschriften außerhalb des EU-rechtlichen Ruams wie Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt keine rechtmäßige Grundlage sein können für ein dem EU-Sekundärrecht vorbehaltenes Instrument wie eine EU-Verordnung.

Finanzielle Sanktionen sieht Art. 126 Abs. 11 AEUV ausschließlich bzgl. des Defizitkriteriums (Art. 126 Abs. 2 lit. a AEUV) vor, bzgl. des Schuldenkriteriums (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV) des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hingegen geht es in Art. 126 AEUV nur bis zum Absatz 4, wo- nach der Wirtschafts- und Finanzausschuss (Ecofin) des Ministerrates auf Initiative der EU-Kommission dazu eine Meinung formulieren kann. Das gesamte Verfahren laut den Absätzen 5 bis 9 und 11 bis 13 des Artikels 126 AEUV bezieht sich ausschließlich auf das Defizit-, nicht jedoch auf das Gesamtschuldenkriterium.

Auch auf Art. 126 Abs. 14 AEUV mit seinen drei Unterabsätzen können Sanktionen bzgl. der Überschreitung des Gesamtschuldenkriteriums nicht gestützt werden. Unterabsatz 1 stellt lediglich klar, dass Protokoll Nr. 12 zum Verfahren bei einem übermäßigen Defizit den Art. 126 AEUV ergänzt. Protokoll Nr. 12 wiederum enthält auch eine Definition für das Gesamtschuldenkriterium, jedoch keine Ermächtigung für EU-Verordnungen.

Unterabsatz 2 will dem Ministerrat erlauben, nach einem speziellen legislativen Verfahren das Protokoll 12 zu ändern. Nach Art. 51 EUV haben jedoch alle Protokolle und alles (einschließlich der Erklärungen), was sich in den Anhängen zu den Verträgen befindet, die gleiche rechtliche Verbind-lichkeit und den gleichen Rang wie die Verträge selbst. „Die Verträge“ bezeichnet gem. Art. 1 EUV und Art. 1 AEUV den EUV und den AEUV. Da Protokoll 12 also den gleichen Rang und die gleiche Verbindlichkeit hat wie der AEUV, kann es nur über ein völkerrechtliches Vertragsänderungsverfahren, welches eines Zustimmungsgesetzes auf nationaler Ebene bedarf, geändert werden. Das Lissabonurteil hat die Anwendung sämtlicher Selbstermächtigungsklauseln im EU-Primärrecht zur Änderung des EU-Primärrechts für Deutschland untersagt (Leitsatz 2 a, Rn. 223, 236). Damit kann Unterabsatz 2 keine Grundlage dafür sein, Protokoll Nr. 12 zu ändern. Umso mehr kann es keine Grundlage dafür sein, ein Protokoll (EU-Primärrecht) durch eine EU-Verordnung (EU-Sekundär-recht) zu ändern.

Unterabsatz 3 enthält eine Ermächtigung für die EU-Ebene zur sekundärrechtlichen Festlegung von „Regeln“ und Definitionen zur Anwendung von Protokoll Nr. 12. Das Wort „Regeln“ bezeichnet keinen bestimmten Rechtsakt der EU, kann also auch als Ermächtigung für EU-Verordnungen an- gewendet werden, auch bzgl. des Gesamtschuldenkriteriums, und Unterabsatz 3 ist auch die gültige Grundlage für die bisherige Fassung von EU-Verordnung Nr. 1467/97. Bei der Schaffung von Art. 126 AEUV und auch noch bei dessen jüngster Änderung durch den Lissabonvertrag sind Sanktionsmechanismen nach Abs. 11 aber ausschließlich bezüglich des Defizits, nicht bezüglich des Gesamtschuldenkriteriums vorgesehen worden; eine veröffentlichte Meinung des Ecofin-Ausschusses des Ministerrats nach Art. 126 Abs. 4 AEUV ist noch keine Sanktion. Die vertragsschließenden Staaten haben in Art. 126 AEUV sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Frage, an die Verletzung welcher Kriterien Sanktionen geknüpft werden können und an welche nicht, von einer solchen Tragweite ist, dass sie nur innerhalb des EU-Primärrechts geregelt werden darf. Und auch dafür will also die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV die primärrechtliche Grundlage sein, bzw. jetzt erst einmal Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt.

Damit sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 7 dieser EU-Verordnung insoweit ultra-vires bzw. von Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV abhängig, wie sie den öffentlichen Schuldenstand zur Grundlage von Sanktionen machen wollen. Art. 4 Abs. 7 sieht ausdrücklich das Gesamtschuldenkriterium als Teil des Defizitverfahrens mit seinen Sanktionen, obwohl das Defizitverfahren im AEUV, wie oben dargestellt, nur für das Defizitkriterium durch das EU-Primärrecht gedeckt ist.

Art. 8 und Art. 12 dieser EU-Verordnung sind (außer mit der Blankettermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV, und weil man auf intergouvernementale Verträge kein EU-Sekundärrecht stützen kann) insoweit ultra-vires, wie es um ihre Anwendung auf Fälle der Verletzung des Gesamtschuldenkriteriums geht.

Ultra vires ist (außer mit der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV) auch die Berücksichtigung von Kosten des Umstiegs von einer staatlichen Rentenversicherung auf ein Mehrsäulenmodell (Art. 2 Abs. 7 dieser EU-Verordnung). Die Berücksichtigung in Zusammenhang mit dem Defizitkriterium und die Verbindung des Defizitkriteriums mit Sanktionen (Art. 126 Abs. 11 AEUV) sind bereits in der bisherigen Fassung des Art. 2 Abs. 7 dieser EU-Verordnung enthalten, sodass in Fällen der Nichterfüllung des Defizitkriteriums auch bisher schon der Druck durch mögliche Bußgelder auch als Druck auf die betroffenen Mitgliedsstaaten zur Durchführung einer entsprechenden Rentenreform wirkte. Neu und belastend ist, dass die Anrechnung bgzl. der einer solchen Rentenreform und auch der Sanktionsmechanismus nun auch noch ultra-vires (bzw. gestützt allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder auf Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt) auf das Gesamtschuldenkritieium ausgeweitet werden sollen. Dass die Benutzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zur Erzwingung des Übergangs auf ein Mehrsäulenmodell in der Rentenversicherung beabsichtigt ist, beweist Abs. 5 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 16./17. 12.2010, wonach der Europäische Rat den Bericht des Ministerrats „über die Behandlung von Reformen der Altersvorsorgesysteme im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ begrüßt „und fordert, dass der Bericht seinen Niederschlag in den Spezifikationen zur Umsetzung des überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspaktes findet“.

Wie in Abschnitt V.8 dieser Verfassungsbeschwerden dargestellt, enthält das EU-Primärrecht keinerlei Grundlage dafür, über EU-rechtliche Vorschriften die Rentenversicherungen der Mitgliedsstaaten grundlegend umzugestalten. Genau das unternimmt Art. 2 Abs. 7 dieser EU-Verordnung jedoch, indem er Zuschüsse aus Steuermitteln für die Umstellung von einer staatlichen Rentenversicherung auf ein Mehrsäulenmodell aus der Überschreitung der Stabilitätskriterien fünf Jahre lang auf linear-degressiver Basis herausrechnen will. Gemeint ist eine Senkung der Beiträge und der Leistungen aus der staatlichen Rentenversicherung und stattdessen die ergänzende Einführung einer privaten Rentenversicherung, welche unter bestimmten Voraussetzungen aus staatlichen Haushaltsmitteln bezuschusst wird, wie man es in Deutschland in begrenztem Umfang bereits von der Riester-Rente kennt. Die EU-Kommission hat gerade erst in 2010 ein Grünbuch veröffentlicht für eine Richtlinie zum Übergang zu einem Mehrsäulenmodell der Alterssicherung, wobei eine Kompetenzgrundlage für eine solche Richtlinie in den Verträgen der EU genauso wenig gegeben wäre wie dafür, die EU-Befugnisse zur staatlichen Rentenversicherung über EU-Verordnungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt selbstermächtigend auszuweiten; aber genau dafür ist Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV als Blankett-Ermächtigung vorgesehen worden. Diese Verfassungs-beschwerden wenden sich nicht gegen ein Grünbuch, hier soll aber verdeutlicht werden, dass die EU-Kommission es mit ihrem Mehrsäulenmodell offenbar nicht abwarten kann, bis sie nach dem Grünbuch, dem Weißbuch und den Verbändeanhörungen ihren Richtlinienentwurf einbringen könnte. Bis dahin würde viel Zeit ins Land gehen, in welcher sich Diskurse in Öffentlichkeit und Parlamenten entfalten könnten, ob und inwieweit ein solches Modell überhaupt gewünscht wird, und ob und inwieweit eine Rechtsgrundlage für ein Tätigwerden der EU-Kommission auf dem Gebiet besteht oder nicht. Stattdessen wird es schnell in Verordnungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt hinein gepackt; ultra vires (bzw. auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder nun erst einmal auf Art. 3, Art. 4, Art. 5 und Art. 7 Fiskalpakt gestützt) kommt es leichter durch, wenn die diskursive Entfaltung durch überhöhte Geschwindigkeit vereitelt wird.

Und der Systemwechsel zum Mehrsäulenmodell würde den Mitgliedsstaaten noch nicht einmal dauerhaft gedankt, denn Überschreitungen von Defizit- und Schuldenstandkriterien sollen nach Art. 2 Abs. 7 der EU-Verordnung nur für 5 Jahre und auch nur in linear-degressiven (also fallenden) Beträgen erfolgen dürfen. Das bedeutet, dass die Herausrechnung der staatlichen Zuschüsse zu einer riesterähnlichen Säule nur befristet wäre und nur in jährlichen fallenden Beträgen erfolgen würde, und damit auch der Anreiz der EU, weiterhin staatliche Zuschüsse zu leisten, befristet wäre. Nach Ablauf der Frist würde der betreffende Staat wieder genauso unter Druck gesetzt wie vorher.

Anstatt wirklich für die Einhaltung der Stabilitätskriterien bzgl. Neu- und Gesamtverschuldung zu sorgen, und das bzgl. der Gesamtverschuldung auch demokratiekonform im EU-Primärrecht abzusichern, wird der Stabilitäts- und Wachstumspakt dafür instrumentalisiert, ultra-vires (bzw. über die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder über Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt) einen grundlegenden Systemwechsel in der staatlichen Rentenversicherung zu erzwingen. Das macht den Eindruck, als handele man in dem Bewusstsein, keine Mehrheit im Volk für eine solche Rentenreform zu haben.

Auch darum siehe die Abschnitte III.8, III.10, III.17 und X.1 dieser Verfassungsbeschwerden.

Besondere Brisanz erhält diese EU-Verordnung auch dadurch, dass Art. 7 Fiskalpakt die umgekehrte Abstimmung nun auch für die Entscheidung, ob ein Staat ins Defizitverfahren muss, enthält, und dadurch, dass in diese Entscheidung gem. Art. 6 + Art. 9 Abs. 1 EU-Verordnung 2011/0386 (COD) einzubeziehen ist, ob der jeweilige Staat alle offiziellen Meinungen der EU-Kommission zu seinem Haushaltsentwurf erfüllt hat (Abschnitte V.1 und VI.2.2 dieser Verfassungsbeschwerden).

Am 28.09.2011 hat das Europaparlament den Verordnungsentwurf in geänderter Form angenommen.

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2011-0425+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE#BKMD-22

Ein Art. 2a („wirtschaftspolitischer Dialog“) wurde eingefügt, welcher der besseren Unterrichtung des Europaparlaments dient, ihm aber weiterhin keinerlei Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Defizitverfahren gibt.

Nach Art. 10a soll die EU-Kommission direkt Überprüfungen bei den Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten durchführen können, offenbar ein weiteres Machtsymbol, um sich daran anzunähern, eine Regierung der EU zu werden.

In Art. 16 ist nun verankert, dass die Geldbußen in Zusammenhang mit der korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes an die EFSF und danach (nach dessen Errichtung) an den ESM fließen.

Nach Art. 17a ist die Verordnung 1467/97 zur korrektiven Komponente nach drei Jahren und danach alle fünf Jahre auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

Die Verschärfung der Verordnung 1467/97 zur korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wurde beschlossen ohne hinreichende primärrechtliche Grundlage. Darüber ist im Rahmen der vorliegenden Verfassungsbeschwerde gegen die Zustimmung zum Fiskalpakt zu entscheiden, weil mit dem Fiskalpakt der Versuch unternommen wird, eine intergouvernementale Grundlage nachzuschieben (Abschnitte II.7 + V.1 dieser Verfassungsbeschwerden).

Über Art. 8 Fiskalpakt i. V. m. Art. 3 Abs. 2 Fiskalpakt (Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) sollen nun alle von dessen Mitgliedern (primär in zwangsweiser Prozeßstandschaft für die EU-Kommission, daneben aber auch zusätzlich freiwillig möglich) das Aufbrechen der nationalen Verfassungen für den Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Instrumentalisierung aller von der Kommission gewünschten Institutionen der Exekutive und der Judikative des jeweils betroffenen Mitgliedsstaats durch die Kommission für die Überwachung und Durchsetzung der Empfehlungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vor dem EUGH einklagen können. Damit würden die Staaten, welche die Verfassungsänderungen nicht erfüllen oder bestimmte Teile ihrer Exekutive oder Judikative nicht der Kommission zur Durchsetzung der Empfehlungen zur Verfügung stellen wollen, von Sanktionen getroffen und obendrein vom EUGH gezwungen, die Verfassungsänderungen und Zurverfügungstellung der gewünschten Teile ihrer Exekutive und Judikative doch noch zu erfüllen.

V.4 Verordnung über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-raum (Az. KOM (2010) 524 endgültig)

Diese EU-Verordnung umfasst laut ihrem Art. 1 einen Sanktionsmechanismus gegenüber den Euro-Mitgliedsstaaten „zur besseren Durchsetzung der präventiven und der korrektiven Komponente im Euroraum“, also zur Durchsetzung der EU-Verordnungen 1466/97 und 1467/97. Das ist dem Grunde nach, obgleich nicht dem Umfang nach, insoweit gedeckt von Art. 126 Abs. 11 AEUV, wie es um Sanktionen für die Überschreitung des Euro-Defizitkriteriums des Art. 126 Abs. 2 lit. a AEUV geht; hinsichtlich des Gesamtschuldenkriteriums (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV; Art. 1 Nr. 1 und Art. 4 Nr. 7 der Neufassung von EU-Verordnung 1467/97) und bzgl. der präventiven Komponente hingegen ist es ultra-vires (bzw. abhängig von der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV), weil insoweit bisher jeweils jegliche EU-primärrechtliche Ermächtigung für Sanktionen fehlt.

Die finanziellen Sanktionen gehen zu Lasten der Haushalte der Euro-Mitgliedsstaaten und schränken damit den Spielraum spürbar ein, welchen die nationalen Parlamente im Rahmen ihres Haushaltsrechtes haben und schwächen damit auch die Reichweite des grundrechtsgleichen Wahlrechts (Art. 38 GG) spürbar. EU-Verordnungen sind verbindlich und unmittelbar wirksam (Art. 288 S. 2+3 AEUV). Sie kommen ebenso wie EU-Richtlinien zustande auf Initiative der EU-Kommission und durch Beschluss des Ministerrates und des Europaparlaments. EU-Richtlinien (Art. 288 S. 4 AEUV) geben nur die aus Sicht des EU-Rechts zu erreichenden Ziele mit EU-sekundärrechtlichem Rang vor, überlassen es aber dem nationalen Gesetzgeber, wie er diese umsetzt, sodass die nationalen Parlamente es in der Hand haben, die Richtlinien so in nationale Gesetze umzusetzen, dass dies mit dem Grundgesetz und den universellen Menschenrechten vereinbar geschieht. EU-Verordnungen hinge-gen werden erlassen ohne Mitentscheidung des nationalen Gesetzgebers. Darum darf ihr Anwendungsbereich in keiner Weise die im EU-Primärrecht verankerte Ermächtigung überschreiten, auf welcher sie beruhen. Und die nationalen Parlamente haben eine Ermächtigung zu finanziellen Sanktionen eben nur gegeben bzgl. des Defizitkriteriums (Art. 126 Abs. 2 lit. a + Abs. 11 AEUV). Hinsichtlich der Koordinierung und Überwachung der Wirtschaftspolitik (Art. 121 AEUV) und des Gesamtschuldenkriteriums (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV) hingegen hat man es bewusst bei Beschämungsmechanismen bewenden lassen.

In Staaten wie Belgien z. B., die schon seit vielen Jahren einen Gesamtschuldenstand von über 60% des BIP haben, hätte das nationale Parlament dem Stabilitäts- und Wachstumspakt niemals zugestimmt, wenn das bedeutet hätte, dass das Land von dessen Inkrafttreten an jährlich finanziell sanktioniert würde.

So sinnvoll die jährliche Senkung des Defizits um 0,5% des BIP auch bzgl. des Gesamtschuldenkriteriums sowie im Rahmen der präventiven Komponente ist, besteht auch insoweit (außer mit der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV, und weil der intergouvernementale Fiskalpakt keine wirksame Rechtsgrundlage für EU-Verordnungen sein kann), keine primärrechtliche Rechtsgrundlage dafür, an das Verfehlen dieser Messgröße Sanktionen zu koppeln.

Durch die leichtfertigen und quantitativ ebenso maßlosen wie wettbewerbswirtschaftsfeindlichen Bankenrettungspakete in zeitlichem Zusammenhang mit der in 2008 ausgebrochenen Wirtschafts-krise sind inzwischen zahlreiche Euro-Mitgliedsstaaten über das Defizitkriterium und über das Gesamtschuldenkriterium (Art. 2 von Protokoll 12 zu den Verträgen; S. 161, 185+186 von „Der Staatsbankrott kommt“, Michael Grandt, Kopp-Verlag). Die nationalen Parlamente hätten den gigantischen Bankenrettungspaketen niemals zugestimmt, wenn sie gewusst hätten, dass sie und ihre Souveräne (die Völker) dafür zum Dank vor die Wahl gestellt würden, zwischen einer drastischen Schwächung ihrer gesetzlichen Rentenversicherung sowie beliebigen von der EU-Kommission entworfenen Strukturreformen auf der einen Seite oder jährlichen Bußgeldern auf der anderen Seite wählen zu müssen.

Das ist in besonders offenkundiger und drastischer Weise unvereinbar mit dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG), weil hier gleich mehrfach ultra-vires vorliegt:

-- hinsichtlich der Knüpfung von Sanktionen an Gesamtschuldenkriterium und präventive Komponente (siehe auch Nr. 18 des Berichts der Task Force vom 21.10.2010, Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden)

-- hinsichtlich der de-facto Verbindlichmachung (mittels Sanktionen) des von den nationalen Parlamenten außer für das Defizitkriterium nur als unverbindliches Rechtsinstrument zugestimmten Instruments der Empfehlung (Art. 288 S. 7 AEUV)

-- ultra-vires-mäßige Anmaßung neuer (in den Verträgen nicht enthaltener) Zuständigkeitsgebiete für die EU, durchgesetzt mittels ultra-vires-mäßigen Sanktionen de-facto verbindlich gemachter Empfehlungen

Die Verpflichtung zur jährlichen Senkung des Defizits um 0,5% nicht nur bei Überschreitung des Defizitkriteriums, sondern auch, solange der zulässige Gesamtschuldenstand von 60% überschritten ist, und solange bei der präventiven Komponente das mittelfristige Haushaltsziel noch nicht erreicht ist, wäre für sich allein betrachtet nicht zu beanstanden, wenn dafür im EU-Primärrecht bzgl. des Gesamtschuldenkriteriums und bzgl. der präventiven Komponente entsprechende Rechtsgrundlagen geschaffen würden. Aber dann dürften die Haushalte der Mitgliedsstaaten nicht gleichzeitig mit den jedes Maß verlierenden Bankenrettungskosten belastet werden (siehe insbesondere Abschnitt XI. dieser Verfassungsbeschwerden), die ihnen das Erreichen dieser Ziele gerade verunmöglichen, und dann dürfte das Sanktionsverfahren nicht ultra-vires-mäßig (bzw. gestützt auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder auf Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt) vermengt werden mit im Primärrecht, also von den nationalen Parlamenten, nicht genehmigten Kompetenzanmaßungen für alles, wozu der EU-Komission Strukturreformen einfallen. Eine Ausweitung der Sanktionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes kann im Hinblick auf das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG), die Demokratie (Art. 20 Abs. 1 + 2 GG, die Rechtsstaatlichkeit (Art. 1 Abs. 2+3 GG, Art. 20 Abs. 2+3 GG) und die Souveränität Deutschlands (Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 Uno-Charta) nur verfassungsgemäß sein, wenn zu-gleich sämtliche Verbindungen von Sanktionen mit Zuständigkeitsgebieten, welchen der EU in ihrem Primärrecht nicht klar benannt zugestanden wurden, untersagt werden, egal, ob solch eine Verbindung über Empfehlungen oder Korrekturmaßnahmenpläne oder über die Berücksichtigung von Rentenreformen und Strukturreformen erfolgen würde.

Die Art und Weise und die Geschwindigkeit, mit welcher die Sanktionen nach dieser EU-Verordnung formell zustande kommen sollen, ist aus mehreren Gründen mit dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG) und mit dem unantastbaren und bereits vorverfassungsrechtlichen Strukturprinzip Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) unvereinbar.

Für den präventiven Bereich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sieht Art. 3 dieser EU-Verordnung vor, dass bereits zu dem Zeitpunkt, in welchem der Ministerrat auf Vorschlag der Kommission im Falle einer besonders lang anhaltenden oder besonders großen Abweichung von einer vorsichtigen Haushaltspolitik (Art. 6 Abs. 3 EU-Verordnung 1466/97) eine Empfehlung gem. Art. 121 Abs. 4 AEUV gibt, wie der betroffene Mitgliedsstaat zu einer vorsichtigen Haushaltspolitik zurückkom- men, oder welche größeren Strukturreformen er stattdessen durchführen soll, die EU-Kommission dem Ministerrat vorschlägt, dass der betroffene Staat eine verzinsliche Einlage von 0,2% seines BIP leisten muss.

Für die Abstimmung bzgl. der Verpflichtung zur Leistung der verzinslichen Einlage sieht diese Verordnung das Prinzip der „umgekehrten Abstimmung“ (Art. 3 Abs. 1 der EU-Verordnung) vor. Dieses beinhaltet, dass der Vorschlag der Kommission als angenommen gilt, wenn nicht innerhalb von 10 Tagen im Ministerrat eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen dagegen stimmt. Für verbindliche Rechtsakte sehen Art. 289 Abs. 1 AEUV und Art. 294 AEUV vor, dass diese zustande kommen, wenn das Europaparlament und der Ministerrat diese jeweils mehrheitlich beschließen. An keiner Stelle im EU-Primärrecht ist eine umgekehrte Abstimmung vorgesehen; sie im EU-Verordnungswege einzuführen, ist daher ein besonders schwerer Fall von ultra-vires. Sie ist zugleich unvereinbar mit der Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) und dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG). Ein Beschluss über eine Zwangseinlage in Höhe von 0,2% des BIP hat solch eine Tragweite, dass es demokratiewidrig ist, einfach rechtlich eine Zustimmung der Vertreter von allen Euro-Mitgliedsstaaten zu fingieren, wenn innerhalb einer bestimmten Frist keine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat dagegen zustande kommt. Genehmigungsfiktionen mag es in Deutschland im Bereich der Verwaltung geben, aber nirgendwo für Projekte oder Anträge auch nur annähernd vergleichbarer Größenordnungen. Das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) bezieht sich auf die Wahlen zum deutschen Bundestag; darum müssen dem deutschen Bundestag auch bei fortschreiten-der europäischer Integration noch Kompetenzen von erheblichem Gewicht verbleiben (Rn. 246 + 351 des Lissabonurteils). Da die Wahl der Bundeskanzlerin und in deren Folge auch die Bestimmung der übrigen Regierungsmitglieder wiederum auf der Wahl der Bundestagsabgeordneten auf-baut, greift auch insoweit Art. 38 GG; auch den Vertretern der Bundesregierung müssen im Ministerrat noch Machtbefugnisse von erheblichem Gewicht verbleiben. Das ist aber nicht der Fall, wenn diese nur 10 Kalendertage Zeit haben, um, wenn sie in einem bestimmten Fall eine Zwangseinlage ablehnen, eine qualifizierte Mehrheit dagegen zustande zu bekommen. Das ist fast unmöglich, da jeder Minister sich zuvor zumindest noch innerhalb der eigenen Regierung abstimmen muss, bevor er im Ministerrat um eine Mehrheit werben kann.

Für die korrektive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, also für den Fall der Verletzung des Defizitkriteriums oder des Gesamtschuldenkritieriums, sieht Art. 4 Abs. 1 dieser EU-Verordnung eine unverzinsliche Zwangseinlage von 0,2% des BIP vor – ebenfalls mit umgekehrter Abstimmung und nur 10 Tagen Frist. Hierzu rügt die Beschwerdeführerin mit der gleichen Begründung die gleichen Verstöße bzgl. ultra-vires (bzw. bzgl. Aufbauens allein auf der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder unwirksam auf Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt ), Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) und grundrechtsgleichem Wahlrecht (Art. 38 GG) wie bei der präventiven Komponente.

Nr. 21+22+24+25 des Berichts der Task Force (Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden) bestätigt die umgekehrte Abstimmung, und trotz deutlicher Kritik an der umgekehrten Abstimmung auf dem Gipfel vom 28./29.10.2010 haben die Premierminister in Nr. 7 der Schlussfolgerungen zum Gipfel vom 11.03.2011 (Abschnitt III.13 dieser Verfassungsbeschwerden) verlangt, dass die fünf EU-Verordnungsentwürfe vom 29.09.2010 entsprechend dem Bericht der Task Force verabschiedet wer-den sollen.

Zu beiden Komponenten kann der betroffene Mitgliedsstaat innerhalb von 10 Tagen nach (echter oder gem. der umgekehrten Abstimmung fingierter) Annahme durch den Ministerrat bzgl. des Vorschlags der Kommission zur Festlegung einer Zwangsanleihe, einen begründeten Antrag an die Kommission stellen, diese Zwangseinlage zu senken oder aufzuheben (Art. 3 Abs. 4 und 4 Abs. 4 der EU-Verordnung). Die Kommission kann dann auf Grund des Antrags die Verringerung oder Aufhebung der Einlage vorschlagen. „Kann“ ist etwas anderes als „soll“ oder „muss“. Die Kommission kann also vollständig nach eigener Interessenlage oder eigenem Machtkalkül entscheiden, ob sie einen solchen Antrag weiter leitet oder einfach liegen lässt. Das ist mit Art. 19 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 38 GG unvereinbar; den vom Volk gewählten Abgeordneten und der von diesen demokratisch legitimierten Regierung darf nicht jede Rechtsmittelmöglichkeit willkürlich genommen wer-den können. Die Verletzung der Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) zu Lasten der deutschen Regierung ist in dem Fall zugleich eine Verletzung des grundrechtsgleichen Wahlrechts (Art. 38 GG).

Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung sieht die umgekehrte Abstimmung auch bzgl. der verzinslichen (präventive Komponente) oder der unverzinslichen (korrektive Komponente) Zwangseinlage in ein Bußgeld vor, auch wieder nur mit 10 Tagen Frist. Sämtliche oben in diesem Abschnitt der Verfassungsbeschwerden geltend gemachten Einwendungen bzgl. der umgekehrten Abstimmung und der 10-Tages-Frist werden gleichermaßen geltend gemacht, soweit es die Umwandlung in ein Bußgeld betrifft.

Nach Art. 8 der EU-Verordnung nehmen bei sämtlichen Abstimmungen zur Zwangseinlage und zu deren Umwandlung in ein Bußgeld nur die Euro-Mitgliedsstaaten teil und die anderen EU-Mitgliedsstaaten nicht. Das ist sachgerecht, da es Sanktionen betrifft, die nur Euro-Mitgliedsstaaten treffen können, und die im Namen der Stabilität des Euro (nicht der ganzen EU) verhängt werden sollen; das entspricht auch Art. 139 Abs. 4 AEUV, wonach über bestimmte in Art. 139 genannte Vorschriften einschließlich der auf Art. 126 AEUV gestützten Sanktionen bei Überschreitung des 3%-Defizitkriteriums, nur die Euro-Mitgliedsstaaten zu entscheiden haben.

Rechtswidrig ist es, soweit es um Sanktionen bzgl. des Gesamtschuldenstandskriteriums oder der präventiven Komponente geht, allerdings insoweit nicht wegen des Ausschlusses der EU-Mitgliedsstaaten, die andere Währungen als den Euro haben, sondern weil die Ausdehnung der Sanktionen über das 3%-Defizitkriterium hinaus, wie in den Abschnitten V.3+V.6 dieser Verfassungsbeschwerden dargestellt, ultra-vires ist bzw. allein auf der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder auf Art. 3, 4, 5 und 7 Fiskalpakt aufbaut.

Ultra-vires ist auch der Ausschluss des Landes, gegen das man die Sanktionen verhängen will, von der darüber entscheidenden Abstimmung im Ministerrat ( Art. 8 der EU-Verordnung), weil es dafür keinerlei Rechtsgrundlage in den Verträgen der EU gibt. Art. 139 Abs. 4 AEUV regelt nur den Ausschluss des Stimmrechts der Mitgliedsstaaten ohne Euro für bestimmte, dort genau eingegrenzte Entscheidungen, welche ausschließlich die Euro-Mitgliedsstaaten betreffen, und kann daher keine rechtmäßige Grundlage für eine Stimmrechtsaussetzung eines Euro-Mitgliedsstaates sein. Art. 7 Abs. 2 EUV ermöglicht die Stimmrechtsaussetzung nur zu Lasten solcher EU-Mitgliedsstaaten, die fortwährend und in schwerem Maße die Werte nach Art. 2 EUV brechen, auf Vorschlag der EU-Kommission, oder wenn mindestens ein Drittel der Mitgliedsstaaten im Ministerrat das beantragt, wenn das Europaparlament dies mehrheitlich und danach der Europäische Rat dies einstimmig beschließen. Die Werte aus Art. 2 EUV sind Respekt für die Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Respekt für die Menschenrechte einschließlich der Menschenrechte von Personen, die Minderheiten angehören.

Die Überschreitung des Defizitkriteriums, die des Gesamtschuldenstandskriteriums und auch das Fehlen einer vorsichtigen Haushaltspolitik (Art. 5 Abs. 1 der EU-Verordnung 1466 /97) im Rahmen der präventiven Komponente sind alle keine Verstösse gegen die Werte aus Art. 2 EUV, sodass darauf kein Entzug des Stimmrechts nach Art. 7 EUV gestützt werden kann.

Im Gegenteil wäre eine Stimmrechtsaussetzung gem. Art. 8 der in diesem Abschnitt behandelten EU-Verordnung bzgl. der Entscheidungen über die Zwangseinlage und deren Umwandlung in eine Geldbuße insoweit gegen die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und damit gegen die Werte der EU gerichtet, wie es um Sanktionen geht, die mangels Grundlage im EU-Primärrecht ultra-vires sind (Sanktionen bzgl. des Gesamtschuldenkriteriums und bzgl. der präventiven Komponente), und soweit es um Sanktionen geht zur Erzwingung de-facto nicht der Verminderung des Defizits auf unter 3% des BIP, sondern der Empfehlungen gegenüber den Ländern mit übermäßigem Defizit geht, zumindest soweit diese Empfehlungen Rechtsgebiete betreffen, zu denen im EU-Primärrecht keine legislative Ermächtigung für die EU existiert, oder soweit die Empfehlungen eine solche Ermächtigung überschreiten.

Es gibt im EU-Primärrecht somit keinerlei Rechtsgrundlage für eine Stimmrechtsaussetzung des jeweils betroffenen Euro-Mitgliedsstaats in Zusammenhang mit Beschlüssen über die Zwangsanleihe und über deren Umwandlung in eine Geldbuße. Art. 8 Abs. 1 der hier behandelten EU-Verordnung ist somit ultra-vires.

Soweit eine Stimmrechtsaussetzung nach Art. 8 Abs. 1 dieser EU-Verordnung ultra-vires erfolgen würde oder zur Durchsetzung von Empfehlungen, die ultra-vires sind, wäre dies gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerichtet, denn zur Demokratie gehört, dass man sich keine Machtbefugnisse anmaßen darf, und zur Rechtsstaatlichkeit, dass geltendes geschriebenes Recht anzuwenden ist und nicht überdehnt werden darf. Ultra-vires-Verstöße sind zugleich auch immer gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Solche Anwendungen von Art. 8 Abs. 1 dieser EU-Verordnung wären damit selbst ultra-vires-Verstöße bzw. eine Unterstützung für solche Verstöße und damit ebenfalls gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und damit gegen die Werte der EU gerichtet. Und die Stimmrechtsaussetzung (Art. 7 Abs. 2 EUV) ist im EU-Primärrecht doch gerade, von den nationalen Parlamenten über Zustimmungsgesetze eingewilligt, gegen die gedacht, die fortwährend und in schwerem Maße gegen die Werte der EU verstoßen, und nicht gegen deren Opferstaaten.

Art. 7 der Verordnung sah ursprünglich vor, dass die Einnahmen aus den über diese Verordnung erwirtschafte-ten Geldbußen verteilt werden unter den Euro-Mitgliedsstaaten, welche selbst gerade einmal nicht Ziel eines Defizitverfahrens (welches Art. 4 Abs. 7 der Neufassung der EU-Verordnung 1467/97 ultra-vires-mäßig bzw. allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV auf-bauend) auch auf das Gesamtschuldenstandskriteriums anwenden will) oder eines Verfahrens wegen übermäßiger Ungleichgewichte sind.

Auf dem Gipfel des Europäischen Rats vom 24./25.03.2011 wurde in der den Schlussfolgerungen zum Gipfel als Anlage I beigefügten „Vereinbarung über die Merkmale des ESM“ vereinbart, die Bußgelder im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes als Einzahlungen der Schuldnerstaaten in den ESM zu verwenden – und sie damit eben nicht an die übrigen Staaten der Eurozone aus- zuzahlen (siehe Abschnitt IV.6.2.4 dieser Verfassungsbeschwerden). Art. 7 der Verordnung über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euroraum (Az. KOM (2010) 524 endgültig, siehe Abschnitt V.4 dieser Verfassungsbeschwerden) und Art. 4 der Verordnung über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum (Az. (Az. KOM (2010) 524 endgültig, siehe Abschnitt V.5 dieser Verfassungsbeschwerden) wurden entsprechend geändert.

Besondere Brisanz erhält die Verschärfung dieser EU-Verordnung auch dadurch, dass für die Frage, ob ein Staat nach dieser EU-Verordnung sanktioniert wird, nicht nur die Erfüllung der vom Ministerrat genehmigten Empfehlungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, sondern auch allein die Erfüllung der allein von der Kommission beschlossenen Empfehlungen gem. Art. 8 + Art. 9 Abs. 1+2 von EU-Verordnung 2011/0386 (COD) die Entscheidungsgrundlage wären. Und das kombiniert mit der umgekehrten Abstimmung nach der hier erörterten EU-Verordnung.

Am 28.09.2011 hat das Europaparlament den Verordnungsentwurf in geänderter Form angenommen.

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2011-0422+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE#BKMD-14

Ein Art. 1a („wirtschaftspolitischer Dialog“) wurde eingefügt, welcher der besseren Unterrichtung des Europaparlaments dient, ihm aber weiterhin keinerlei Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Defizitverfahren gibt.

Neu hinzu gekommen ist Art. 6a, welcher Geldbußen nun auch bei Statistikfälschungen in Zusammenhang mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vorsieht.

Nach Art. 8a ist diese Verordnung nach drei Jahren und danach alle fünf Jahre auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

Die Verschärfung dieser Verordnung wurde beschlossen ohne hinreichende primärrechtliche Grundlage. Darüber ist im Rahmen der vorliegenden Verfassungsbeschwerde gegen die Zustimmung zum Fiskalpakt zu entscheiden, weil mit dem Fiskalpakt der Versuch unternommen wird, eine intergouvernementale Grundlage nachzuschieben (Abschnitt II.7 + V.1 dieser Verfassungsbeschwerden).

Über Art. 8 Fiskalpakt i. V. m. Art. 3 Abs. 2 Fiskalpakt (Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) sollen nun alle von dessen Mitgliedern (primär in zwangsweiser Prozessstandsschaft für die EU-Kommission, daneben aber auch zusätzlich freiwillig möglich) das Aufbrechen der nationalen Verfassungen für den Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Instrumentalisierung aller von der Kommission gewünschten Institutionen der Exekutive und der Judikative des jeweils betroffenen Mitgliedsstaats durch die Kommission für die Überwachung und Durchsetzung der Empfehlungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vor dem EUGH einklagen können. Damit würden die Staaten, welche die Verfassungsänderungen nicht erfüllen oder bestimmte Teile ihrer Exekutive oder Judikative nicht der Kommission zur Durchsetzung der Empfehlungen zur Verfügung stellen wollen, von Sanktionen getroffen und obendrein vom EUGH gezwungen, die Verfassungsänderungen und Zurverfügungstellung der gewünschten Teile ihrer Exekutive und Judikative doch noch zu erfüllen.

V.5 Verordnung über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum (Az. KOM (2010) 525)

Diese Verordnung ist insgesamt ultra-vires (bzw. allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV bzw. des Art. 9 Fiskalpakt aufbauend) und damit unanwendbar, da sie der Durchsetzung einer Verordnung dient, welche, wie in Abschnitt V.7 dieser Verfassungsbeschwerden dargestellt, selbst dermaßen ultra-vires ((bzw. allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV aufbauend oder nach Art. 9 Fiskalpakt) ist, dass sie für Deutschland als ganzes unanwendbar ist. Was allein dazu dient, etwas vollständig verfassungswidriges durchzusetzen, kann selbst auch nur vollständig verfassungswidrig sein.

Wie in Abschnitt V.7 dieser Verfassungsbeschwerden dargelegt, würde die „Verordnung über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ (Az. KOM (2010) 527 endgültig) der EU-Kommission die Macht geben, bzgl. aller beliebigen volkswirtschaftlichen Größen, bei denen die Euro-Mitgliedsstaaten größere Unterschiede aufweisen, den Euro-Mitgliedsstaaten beliebige sanktionsbewehrte Empfehlungen zu machen.

Wie in Abschnitt V.7 belegt, will die EU-Kommission über die Empfehlungen in Zusammenhang mit dem Ungleichgewichtsverfahrens eine Generalzuständigkeit bekommen für Arbeitsmärkte, Produkt- und Dienstleistungsmärkte und Regulierung der Finanzmärkte. Zur Finanzpolitik, Lohnpolitik und ganz allgemein zur Volkswirtschaft will sie über die Empfehlungen ausdrücklich gleich noch auf alle diese Bereiche auch insoweit zugreifen können, wie die Zuständigkeiten bisher bei den Mitgliedsstaaten verbleiben, also wie die EU für diese nach ihrem Primärrecht gar keine Zuständigkeit hat. Und das alles basierend auf der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder auf Art. 9 Fiskalpakt.

Nr. 4.7 und 4.8 der Auflagen gegenüber Portugal vom 03.05.2011 (Abschnitt IV.5.9 dieser Verfas-sungsbeschwerden) im Rahmen von EFSM und EFSF beweisen inzwischen, wofür die EU-Kom-mission eine Generalzuständigkeit bei der Lohnpolitik haben will: um die gleichen Lohnkürzungen und Flexibilisierungen bzgl. Arbeitszeit und -ort dann auch gegenüber den Eurostaaten ohne akute Liquiditätsprobleme durchsetzen zu können.

Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit und der Verringerung der Leistungsbilanzsalden innerhalb der Eurozone will sie außerdem gleich noch die Senkung der Gehälter im öffentlichen Dienst der reicheren Euro-Mitgliedstaaten sowie alle „Starrheiten“ der Arbeits- und Produktmärkte beseitigen.

Das drastischste Unterfangen jedoch dürfte sein, sich gleich die Befugnis anzumaßen, über das Instrument der Empfehlungen, die von „schweren Ungleichgewichten“ betroffenen Staaten dazu zu zwingen, zur Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanz gleich alle bisher nicht handelbaren Güter, für die die Kommission das so haben möchte, exportfähig zu machen (Abschnitte V.11+V19 dieser Verfassungsbeschwerden).

Diese EU-Verordnung umfasst laut ihrem Art. 1 einen Sanktionsmechanismus für die wirksame Korrektur volkswirtschaftlicher Ungleichgewichte im Euroraum.

Das ist, abgesehen von der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV bzw. des Art. 9 Fiskalpakt, bereits dem Grunde nach ultra-vires, weil Art. 121 AEUV, auf welchen sie sich laut ihren Erläuterungen und ihren Erwägungsgründen bezieht, keinerlei Rechtsgrundlage dafür enthält, im Verordnungswege einen Sanktionsmechanismus in Zusammenhang mit Art. 121 AEUV zu schaffen.

Die finanziellen Sanktionen gehen zu Lasten der Haushalte der Euro-Mitgliedsstaaten und schränken damit den Spielraum spürbar ein, welchen die nationalen Parlamente im Rahmen ihres Haushaltsrechtes haben und schwächen damit auch die Reichweite des grundrechtsgleichen Wahlrechts (Art. 38 GG) spürbar. EU-Verordnungen sind verbindlich und unmittelbar wirksam (Art. 288 S. 2+3 AEUV). Sie kommen ebenso wie EU-Richtlinien zustande auf Initiative der EU-Kommission und durch Beschluss des Ministerrates und des Europaparlaments. EU-Richtlinien (Art. 288 S. 4 AEUV) geben nur die aus Sicht des EU-Rechts zu erreichenden Ziele mit EU-sekundärrechtlichem Rang vor, überlassen es aber dem nationalen Gesetzgeber, wie er diese umsetzt, sodass die nationalen Parlamente es in der Hand haben, die Richtlinien so in nationale Gesetze umzusetzen, dass dies mit dem Grundgesetz und den universellen Menschenrechten vereinbar geschieht. EU-Verordnungen hinge-gen werden erlassen ohne Mitentscheidung des nationalen Gesetzgebers. Darum darf ihr Anwendungsbereich in keiner Weise die im EU-Primärrecht verankerte Ermächtigung überschreiten, auf welcher sie beruhen. Und die nationalen Parlamente haben eine Ermächtigung zu finanziellen Sanktionen eben nur gegeben bzgl. des Defizitkriteriums (Art. 126 Abs. 2 lit. a + Abs. 11 AEUV). Hinsichtlich der Koordinierung und Überwachung der Wirtschaftspolitik (Art. 121 AEUV), auf welche sich auch die Verordnung bzgl. der volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte und die hier betrachtete mit den Durchsetzungsmechanismen dazu beziehen, hingegen hat man es bewusst bei Beschämungsmechanismen bewenden lassen.

Diese EU-Verordnung ist in besonders offenkundiger und drastischer Weise unvereinbar mit dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG), weil hier gleich mehrfach ultra-vires angewendet bzw. allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV bzw. des Art. 9 Fiskalpakt aufgebaut wird :

-- hinsichtlich der Knüpfung von Sanktionen an willkürlich bestimmbare Kriterien für schwere Ungleichgewichte (große Unterschiede bei volkswirtschaftlichen Meßgrößen) zwischen den Euro-Mitgliedsstaaten (siehe auch Nr. 18 des Berichts der Task Force vom 21.10.2010, Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden)

-hinsichtlich der de-facto Verbindlichmachung (mittels Sanktionen) des von den nationalen Parlamenten nur als unverbindliches Rechtsinstrument zugestimmten Instruments der Empfehlung (Art. 288 S. 7 AEUV)

-- ultra-vires-mäßige Anmaßung neuer (in den Verträgen nicht enthaltener) Zuständigkeitsgebiete für die EU, durchgesetzt ultra-vires-mäßig mittels durch ultra-vires-mäßige Sanktionen de-facto ver-bindlich gemachter Empfehlungen

Die Art und Weise und die Geschwindigkeit, mit welcher die Sanktionen nach dieser EU-Verordnung formell zustande kommen sollen, sind aus mehreren Gründen mit dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG) und mit dem unantastbaren und bereits vorverfassungsrechtlichen Struktur-prinzip Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) unvereinbar.

Art. 3 dieser EU-Verordnung sieht vor, dass bereits zu dem Zeitpunkt, in welchem der Ministerrat auf Vorschlag der Kommission feststellt, dass der betroffene Euro-Mitgliedsstaat zum wiederholten Male eine Empfehlung nicht befolgt hat oder zum wiederholten Male keinen oder nur einen unzureichenden Korrekturmaßnahmenplan eingereicht hat, vom Ministerrat auf Vorschlag der Kommission Geldbußen verhängt werden in Höhe von 0,1% des Vorjahres-BIP des betroffenen Euro-Mitgliedsstaates.

Das ist noch wesentlich drastischer als bei dem Sanktionsmechanismus zur präventiven und zur korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (siehe Abschnitt V.4 dieser Verfassungsbeschwerden). Denn bei dieser EU-Verordnung hier kommt direkt die Geldbuße ohne den Zwischenschritt mit der verzinslichen oder unverzinslichen Einlage. Und es genügt für die Bußgeldfestsetzung schon, dass der Staat nur zweimal innerhalb einer beliebig langen Zeit ab Inkrafttreten der Verordnung jeweils auch nur eine Empfehlung nicht befolgt hat; das Erreichen dieses Zeitpunktes lässt sich von EU-Seite erheblich beschleunigen, indem man einfach genug Empfehlungen macht, deren gleichzeitige Erfüllung faktisch gar nicht möglich ist, oder die mit der Verfassung des betroffenen Staates nicht vereinbar sind. Keinen Korrekurmaßnahmenplan einzureichen, kann jeder Euro-Mitgliedsstaat leicht vermeiden, indem er einfach einen Korrekturmaßnahmenplan einreicht, der mit seiner Verfassung konform ist, und dessen Maßnahmen die Regierung des Staates sowieso durchführen wollte. Die Knüpfung von Sanktionen direkt an „unzureichende“ Korrekturmaßnahmenpläne selbst gegenüber Staaten, welche alle vom Ministerrat abgenickten Empfehlungen der Kommission erfüllen, bietet hingegen breiten Raum zur Willkür, denn die betroffenen Staaten können gar nicht im Vorhinein wissen, ob von ihnen vorzuschlagende Korrekturmaßnahmen der EU-Kommission genügen würden.

Für die Abstimmung über die Auferlegung einer Geldbuße sieht diese Verordnung das Prinzip der „umgekehrten Abstimmung“ (Art. 3 Abs. 1 der EU-Verordnung) vor. Dieses beinhaltet, dass der Vorschlag der Kommission als angenommen gilt, wenn nicht innerhalb von 10 Tagen im Ministerrat eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen dagegen stimmt. Für verbindliche Rechtsakte sehen Art. 289 Abs. 1 AEUV und Art. 294 AEUV vor, dass diese zustande kommen, wenn das Europaparlament und der Ministerrat diese jeweils mehrheitlich beschließen. An keiner Stelle im EU-Primärrecht ist eine umgekehrte Abstimmung vorgesehen; sie im EU-Verordnungswege einzuführen, ist daher ein besonders schwerer Fall von ultra-vires. Sie ist zugleich unvereinbar mit der Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) und dem grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG). Ein Beschluss über ein Bußgeld in Höhe von 0,1% des BIP hat solch eine Tragweite, dass es demokratiewidrig ist, einfach rechtlich eine Zustimmung der Vertreter aller Euro-Mitgliedsstaaten zu fingieren, wenn innerhalb einer bestimmten Frist keine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat dagegen zustande kommt. Genehmigungsfiktionen mag es in Deutschland im Bereich der Verwaltung geben, aber nirgendwo für Projekte oder Anträge auch nur annähernd vergleichbarer Größenordnungen. Das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) bezieht sich auf die Wahlen zum deutschen Bundestag; darum müssen dem deutschen Bundestag auch bei fortschreitender europäischer Integration noch Kompetenzen von erheblichem Gewicht verbleiben (Rn. 246+351 des Lissabonurteils). Da die Wahl der Bundeskanzlerin und in deren Folge auch die Bestimmung der übrigen Regierungsmitglieder wiederum auf der Wahl der Bundestagsabgeordneten aufbaut, greift auch insoweit Art. 38 GG; auch den Vertretern der Bundesregierung müssen im Ministerrat noch Machtbefugnisse von erheblichem Gewicht verbleiben. Das ist aber nicht der Fall, wenn diese nur 10 Kalendertage Zeit haben, um, wenn sie in einem bestimmten Fall eine Geldbuße ablehnen, eine qualifizierte Mehrheit dagegen zustande zu bekommen. Das ist fast unmöglich, da jeder Minister sich zuvor zumindest noch innerhalb der eigenen Regierung abstimmen muss, bevor er im Ministerrat um eine Mehrheit werben kann.

Nr. 21+22+24+25 des Berichts der Task Force (Abschnitt III.14 dieser Verfassungsbeschwerden) bestätigt die umgekehrte Abstimmung, und trotz deutlicher Kritik an der umgekehrten Abstimmung auf dem Gipfel vom 28./29.10.2010 haben die Premierminister in Nr. 7 der Schlussfolgerungen zum Gipfel vom 11.03.2011 (Abschnitt III.13 dieser Verfassungsbeschwerden) verlangt, dass die fünf EU-Verordnungsentwürfe vom 29.09.2010 entsprechend dem Bericht der Task Force verabschiedet werden sollen.

Der betroffene Mitgliedsstaat kann innerhalb von 10 Tagen nach (echter oder gem. der umgekehrten Abstimmung fingierter) Annahme durch den Ministerrat bzgl. des Vorschlags der Kommission zur Festlegung einer Geldbuße, einen begründeten Antrag an die Kommission stellen, diese zu senken oder aufzuheben (Art. 3 Abs. 3 der EU-Verordnung). Die Kommission kann dann auf Grund des Antrags die Verringerung oder Aufhebung der Einlage vorschlagen. „Kann“ ist etwas anderes als „soll“ oder „muss“. Die Kommission kann also vollständig nach eigener Interessenlage oder eigenem Machtkalkül entscheiden, ob sie einen solchen Antrag weiter leitet oder einfach liegen lässt. Das ist mit Art. 19 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 38 GG unvereinbar; den vom Volk gewählten Abgeordneten und der von diesen demokratisch legitimierten Regierung darf nicht jede Rechtsmittelmöglichkeit willkürlich genommen werden können. Die Verletzung der Rechtsweggarantie zu Lasten der deutschen Regierung ist in dem Fall zugleich eine Verletzung des grundrechtsgleichen Wahl-rechts (Art. 38 GG).

Nach Art. 5 der EU-Verordnung nehmen bei sämtlichen Abstimmungen zur Zwangseinlage und zu deren Umwandlung in ein Bußgeld nur die Euro-Mitgliedsstaaten teil und die anderen EU-Mitgliedsstaaten nicht. Das ist sachgerecht, da es Sanktionen betrifft, die nur Euro-Mitgliedsstaaten treffen können, und die im Namen der Stabilität des Euro (nicht der ganzen EU) verhängt werden sollen.

Rechtswidrig ist es, soweit es um Sanktionen bzgl. der schweren Ungleichgewichte zwischen den Euro-Mitgliedsstaaten geht, allerdings insoweit nicht wegen des Ausschlusses der EU-Mitgliedsstaaten, die andere Währungen als den Euro haben, sondern weil die Ausdehnung der Sanktionen über das 3%-Defizitkriterium hinaus, wie in den Abschnitten dieser Verfassungsbeschwerden zu den entsprechenden Verordnungen dargestellt, ultra-vires ist, bzw. sich allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV bzw. des Art. 9 Fiskalpakt stützen würde.

Ultra-vires (bzw. abhängig von der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV bzw. des Art. 9 Fiskalpakt) ist aber auch der Ausschluss des Landes, gegen das man die Sanktionen verhängen will, von der dar-über entscheidenden Abstimmung im Ministerrat ( Art. 5 der EU-Verordnung), weil es dafür keinerlei Rechtsgrundlage in den Verträgen der EU gibt. Art. 139 Abs. 4 AEUV regelt nur den Ausschluss des Stimmrechts der Mitgliedsstaaten ohne Euro für bestimmte, dort genau eingegrenzte Entscheidungen, welche ausschließlich die Euro-Mitgliedsstaaten betreffen, und kann daher keine rechtmäßige Grundlage für eine Stimmrechtsaussetzung eines Euro-Mitgliedsstaates sein. Art. 7 Abs. 2 EUV ermöglicht die Stimmrechtsaussetzung nur zu Lasten solcher EU-Mitgliedsstaaten, die fortwährend und in schwerem Maße die Werte nach Art. 2 EUV brechen, auf Vorschlag der EU-Kommission, oder wenn mindestens ein Drittel der Mitglieds-staaten im Ministerrat das beantragt, wenn das Europaparlament dies mehrheitlich und danach der Europäische Rat dies einstimmig beschließen. Die Werte aus Art. 2 EUV sind Respekt für die Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Respekt für die Menschenrechte einschließlich der Menschenrechte von Personen, die Minderheiten angehören.

Das Bestehen schwerer Ungleichgewichte (größerer Unterschiede zwischen den Euro-Mitglieds- staaten gemessen anhand von der EU-Kommission willkürlich auswählbarer volkswirtschaftlicher Parameter) ist kein Verstoß gegen die Werte aus Art. 2 EUV, sodass darauf kein Entzug des Stimmrechts nach Art. 7 EUV gestützt werden kann.

Im Gegenteil wäre eine Stimmrechtsaussetzung gem. Art. 5 der in diesem Abschnitt behandelten EU-Verordnung bzgl. der Entscheidungen über das Bußgeld insoweit gegen die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und damit gegen die Werte der EU gerichtet, wie es um Sankionen geht, die mangels Grundlage im EU-Primärrecht ultra-vires sind oder sich allein auf die Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder des Art. 9 Fiskalpakt stützen könnten (Sanktionen der schweren Ungleichgewichte), und soweit es um Sanktionen geht zur Erzwingung der Empfehlungen gegenüber den Ländern, denen es aus Sicht der EU-Kommission bzgl. der von dieser bestimmten volkswirtschaftlichen Größen noch zu geht im Vergleich zu denen, die man mit Kreditauflagen sowie mit Empfehlungen zur korrektiven bzw. zur präventiven Komponente schon klein bekommen hat.

Es gibt im EU-Primärrecht somit keinerlei Rechtsgrundlage für eine Stimmrechtsaussetzung des jeweils betroffenen Euro-Mitgliedsstaats in Zusammenhang mit Beschlüssen über die Geldbuße. Art. 5 der hier behandelten EU-Verordnung ist somit ultra-vires bzw. abhängig von der Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV oder des Art. 9 Fiskalpakt.

Jegliche Stimmrechtsaussetzung nach Art. 5 dieser EU-Verordnung würde ultra-vires erfolgen zur Durchsetzung von Empfehlungen, die ebenfalls ultra-vires wären. Das wäre gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerichtet, denn zur Demokratie gehört, dass man sich keine Machtbefugnisse anmaßen darf, und zur Rechtsstaatlichkeit, dass geltendes geschriebenes Recht anzuwenden ist und nicht überdehnt werden darf. Ultra-vires-Verstöße sind zugleich auch immer gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Jede Anwendung von Art. 5 dieser EU-Verordnung ist damit als ultra-vires-Verstoß und Unterstützung von ultra-vires-Verstößen und damit ebenfalls gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und damit gegen die Werte der EU gerichtet. Und die Stimmrechtsaussetzung (Art. 7 Abs. 2 EUV) ist im EU-Primärrecht doch gerade, von den nationalen Parlamenten über Zustimmungsgesetze eingewilligt, gegen die gedacht, die fortwährend und in schwerem Maße gegen die Werte der EU verstoßen, und nicht gegen deren Opferstaaten.

Am 28.09.2011 hat das Europaparlament den Verordnungsentwurf in geänderter Form angenom- men.

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2011-0423+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE#BKMD-17

Ein Art. 5a („wirtschaftlicher Dialog“) wurde eingefügt, welcher der besseren Unterrichtung des Europaparlaments dient, ihm aber weiterhin keinerlei Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Ungleichgewichtsverfahren gibt.

In Art. 4 ist nun verankert, dass die Geldbußen in Zusammenhang mit dem Ungleichgewichtsverfahren an die EFSF und danach (nach dessen Errichtung) an den ESM fließen.

Nach Art. 5b ist diese Verordnung nach drei Jahren und danach alle fünf Jahre auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

Es fällt auf, dass in den Erwägungsgründen des Europaparlaments nicht steht, dass die EU-Kommission über die Ungleichgewichtsverfahren ausdrücklich die Macht bekommen solle, sanktionsbewehrte Empfehlungen zu machen bzgl. aller beliebigen Fragen der Lohn-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Auch zur Exportierbarmachung aller bisher nicht handelbarer Güter sagen die Erwägungsgründe des Europaparlaments nichts. Da das Europaparlament diesen Erwägungsgründen der Kommission nicht widersprochen hat und das gleiche Europaparlament zugleich die Verordnungsentwürfe zum Ungleichgewichtsverfahren nicht wesentlich geändert hat, ist davon auszugehen, dass die Kommission dies als Zustimmung werten wird, dass sie ihre Empfehlungen im Rahmen der Ungleichgewichtsverfahren in dieser Richtung machen wird. Auch die Instrumentalisierung der EU-Strukturmittel zur Behördenprivatisierung in Griechenland selbst unabhängig vom Ungleichgewichtsverfahren zeigen sehr deutlich in diese Richtung (Abschnitt VI.1.6 dieser Verfassungsbeschwerden).

Die Verordnung über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger wirtschaftlicher Ungleichgewichte im Euroraum wurde beschlossen ohne hinreichende primärrechtliche Grundlage. Darüber ist im Rahmen der vorliegenden Verfassungsbeschwerde gegen die Zustimmung zum Fiskalpakt zu entscheiden, weil mit Art. 136 Abs. 3 AEUV (Abschnitt III.1 dieser Verfassungsbeschwerden) bzw. mit dem Fiskalpakt (Abschnitt V.1 dieser Verfassungsbeschwerden) oder der Versuch unternommen wird, eine EU-primärrechtliche Blankett-Ermächtigung bzw. eine intergouvernementale Grundlage nachzuschieben (Abschnitt II.7 dieser Verfassungsbeschwerden).

Fortsetzung: https://sites.google.com/site/euradevormwald/02-esm/048-befugnis