Protestantismus und Suizidneigung

Seit Émile Durkheim in seinem Klassiker der empirischen Sozialforschung "Le Suicide" 1897 auf den Zusammenhang zwischen Protestantismus und Suizidneigung hingewiesen hat, ist dieser Zusammenhang Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Um den ursächlichen Effekt des Protestantismus herauszukristallisieren, nutzen wir in unserer Analyse der von uns digitalisierten einmaligen preußischen Kreisdaten aus dem 19. Jahrhundert den Teil der regionalen Variation in der Ausbreitung des Protestantismus, der von der Distanz zur Lutherstadt Wittenberg stammt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Protestantismus in der Tat zu einem deutlichen Anstieg der Selbstmordrate geführt hat. Neben den positiven Aspekten der Reformation deuten diese Befunde auf eine "dunkle Seite" der Reformation hin.

Durkheim stellte die These auf, dass die höheren protestantischen Selbstmordraten im religiösen Individualismus des Protestantismus begründet waren: Während ihre einheitliche Gemeinschaft die Katholiken sozial einbettete, warf der Protestantismus den Einzelnen auf seine Beziehung zu Gott zurück. In einer ökonomischen Theorie des konfessionsspezifischen Selbstmords modellieren wir neben dieser These auch eine alternative These: Die höhere Suizidrate könnte darauf zurückzuführen sein, dass die protestantische Doktrin den Suizid nicht als Todsünde brandmarkte. Letztlich bestätigen unsere vertiefenden empirischen Befunde aber eher Durkheims soziologische als unsere theologische These: So zeigen unsere Analysen, dass die Suizidneigung der Protestanten in Gegenden mit geringerem Kirchenbesuch stärker ausgeprägt ist - also dort, wo die soziale Integration, aber auch die Hingabe zur protestantischen Doktrin geringer ausfallen dürfte. Außerdem zeigen unseren Befunde, dass die Suizidrate der Protestanten zwar auch heute noch höher als die der Katholiken, aber niedriger als die der Konfessionslosen ist, die keiner theologischen Doktrin unterliegen. Insofern scheint sich die höhere Suizidneigung unter Protestanten also eher soziologisch als theologisch erklären zu lassen.


Wissenschaftlicher Artikel:

Social Cohesion, Religious Beliefs, and the Effect of Protestantism on Suicide (with S.O. Becker). Review of Economics and Statistics 100 (3): 377-391, 2018


Zeitungsartikel:

Sind Protestanten schlauer? Die Zeit, No. 42, 12.10.2017, p. 76

Ein Beitrag über die ersten Ergebnisse unserer Forschung:

Die Ökonomie des Suizids. Sonntagsökonom in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 15.1.2012 über unsere Forschung zum Effekt des Protestantismus auf die Suizidneigung


Nicht-technische Beiträge:

How Luther’s Quest for Education Changed German Economic History: 9+5 Theses on the Effects of the Protestant Reformation (with S.O. Becker). In: J.-P. Carvalho, S. Iyer, J. Rubin (eds.), Advances in the Economics of Religion, International Economic Association Series, New York: Palgrave Macmillan, 215-227, 2019

Economics Helps Explain Why Suicide Is More Common among Protestants (with S.O. Becker). Aeon, 14.1.2019

Religion Matters, in Life and Death (with S.O. Becker). VOX, 15.1.2012