Woran erkennt man einen Freund?

„Woran erkennt man einen Freund?“, fragte mich mein Gegenüber. Da ich die ganze Zeit unbeteiligt dem Gespräch zugehört hatte, da ich meine Blicke umherschweifen ließ, war ich etwas abwesend. Alles blickte auf mich, mir war es unangenehm, plötzlich so in die Mitte gestellt zu werden.

Ich antwortete: „Er interessiert sich persönlich für einen.“ Mein Gegenüber, ein junger Kerl, den ich heute Abend erst kennen gelernt hatte, schien eine solch lapidare Antwort erwartet zu haben. „Natürlich interessiert er sich für Sie persönlich, aber das wird ihr Kreditberater auch tun. Ist der deshalb schon ihr Freund?“. Schon wieder. Ich könnte jetzt genervt antworten, dass der natürlich nicht mein Freund sei oder zumindest nur solange, wie er an mir etwas verdienen wird. Aber wozu stellte er mir all diese Fragen? Wollte er auf meine geringen rhetorischen Fähigkeiten herumreiten, um sich bei den anderen zu profilieren?

„Einen Freund erkennt man daran, dass er mich nur das fragt, was ich ihm auch beantworten kann. Er lockt mich in keine Falle, und er macht sich nicht über mich lustig. Und wenn, dann könnte ich es ihm nicht krumm nehmen. Wodurch meinen denn sie eigentlich, ihren Freund zu erkennen? Ich vermute, er wird ihnen gegenüber den nötigen Respekt erweisen, den ich nicht für sie aufzubringen gedenke. Hat ihr typischer Freund denn unendlich viel Geduld mit Ihnen?“. Puh, ich hätte kaum etwas Unpassenderes sagen können.

Er merkte, dass bei mir nichts zu holen war. Ich war ihm sicherlich etwas zu desinteressiert, zu unachtsam für seinen Geschmack. Er wirkte irgendwie beleidigt.

„Woher nehmen sie ihr angebliches Wissen über meine Freunde? Mir ist ein Mensch etwas wert. Ich achte es sehr, auf eine gute Frage eine gute Antwort zu bekommen. Aber wenn sie genervt sind, dann verlassen sie doch unseren Tisch. Wir sind hier, um etwas Philosophisches zu produzieren, nicht um eine primitive Schlacht um Rangordnungen zu führen. Wenn ihnen mein Stil nicht passt, dann bitte ich sie, an einen anderen Tisch zu gehen!“.

Ich nippte desinteressiert an meinem Bierglas. Zu geschwollen, zu verdorben erschien mir jetzt das ganze Gespräch. Geistig hochschwanger, doch unfruchtbar zu gleich. Scheinschwangerschaft fiel mir ein. Ich musste schmunzeln.

Der Gesprächsleiter hätte mich in Ruhe lassen sollen. Ich höre eigentlich lieber zu und beurteile im Stillen, als dass ich einen Gedanken hinausposaune, ohne diesen überprüft zu haben. Zu leicht ist es geschehen, sich in etwas zu versteigen. Zu banal war seine Frage gewesen, zu unspezifisch für mich, als das ich eine knappe Antwort hätte geben können. Insgeheim bereute ich es schon, an diesem philosophischen Abend teilgenommen zu haben.

Während die anderen sich nun über etwas anderes unterhielten, bemerkte ich, dass mein Verhalten eine gewisse Abneigung mir gegenüber bei diesen bewirkt hatte. Man musterte mich immer wieder einmal und mir war darum bewusst, dass ich mich zusehends in eine Außenseiterrolle begab.