Doc Surprise

Doc Surprise ist mein Beistand fürs Leben. Er hat keine eigene Praxis, die man aufsuchen könnte, wenn man ein Wehwehchen hat. Nein, er ist nicht niedergelassen. Schon gar nicht ist er dazu ausgebildet worden, ein Beistand für Leute wie mich zu sein. Auf jeden Fall hat er keine Schule besucht und sich von dem ganzen kulturellen Blabla nie etwas vormachen lassen. Dafür schätze ich ihn.

Wenn es mir gut geht, dann bedauere ich es manchmal, dass er sich nicht bei mir blicken lässt. Und dann läuft auch alles irgendwann irgendwie immer schief. Erst dann, wenn er wieder aufkreuzt, wendet sich das Blatt wieder und ich bekomme wieder Auftrieb und Luft zum Atmen und so.

Früher bin ich ihm immer aus dem Weg gegangen. Ich habe versucht mein Leben geordnet zu halten. Da ist er mir natürlich nicht willkommen gewesen dabei. Die Rechnung habe ich dafür natürlich erhalten. Das Päckchen auf meinen Schultern ist nicht etwa kleiner und leichter geworden, nein, vielmehr ist es mir immer unbequemer und unhandlicher vorgekommen mit jedem Jahr ohne ihn.

Er ist eine ganze Zeit lang fast so etwas wie mein erklärter Erzfeind gewesen. Ihm habe ich alles vorgeworfen, was an meinem Leben noch nicht gut genug für mich gewesen ist. Daraufhin hat er mich natürlich gemieden.

Das geordnete Leben hat mir klar gemacht, dass ich alles selbst in der Hand habe und nur das tun müsste, was für mich das Richtige wäre. Und so habe ich mir versucht etwas Eigenes aufzubauen. Das ist solange gut gegangen, bis mir die eigenen Kräfte mehr und mehr nachgelassen haben und ich nicht mehr gewusst habe, wie ich sie mir zurückholen habe können.

Es ist dann ein Crash gekommen, ein Knockout, ein Aufwachen auf der Intensivstation, und ich habe damit begonnen wieder zu träumen.

Das sind allesamt wohlgeordnete Träume gewesen. Alles zur rechten Zeit am rechten Platz ist da vorgekommen. Doch der reiche Schatz auf meinen Schultern, der mir da schon zu schwer geworden ist, begann wieder leichter für mich zu werden. Doch nicht etwa ich bin stärker geworden, nein, vielmehr hat der Sack durch irgendeinen dummen Zufall ein Loch bekommen und das Mehl in ihm ist in einem stetigen Drang der Schwerkraft aus dem Sack heraus nach unten auf den Boden geflossen, eine Spur meines vergebenen Wohlstands hinterlassend.

Das Loch im Sack ist mir erst gar nicht aufgefallen. Ich habe wirklich erst gedacht, ich würde wieder stärker werden. Doch weit gefehlt habe ich da. Die Ordnung der Dinge führt immer nur zu dem, zu was diese Ordnung ihrer eigenen Meinung nach führen würde müssen. Das ist doch immer so! Das mit der Ordnung hat man nicht im Willen und auch nicht im Blut. Ohne Rücksicht auf Verluste nimmt der Wandel der Dinge seinen Lauf. So geht sie ihren Gang, diese Zeit, und wandelt die Dinge. Ja, sie erhebt sich früher oder später immer wieder einmal über die Dinge und wird zu einem mächtigen Wesen voller zerstörerischem Potential.

Und diese Ordnungskraft sieht nichts, weiß nichts und versteht nichts vom Menschen und von dieser Welt, wie wir sie kennen. Sie ist von Natur aus blöde. Wie besessen folgt sie ihrem inneren Drang zum Ordnen der Dinge. Und dabei stirbt alles Lebendige ab. Und das hat Doc Surprise wohl mir angesehen. Er wird genau erkannt haben, wie sie mich fertig gemacht hat. Und so hat er mir nichts, dir nichts, einen Schlitz in meinen Sack geschnitten zu meiner eigenen Erleichterung. Das ist seine Überraschung für mich gewesen.

Irgendwann dann ist der Sack fast ganz leer gewesen. Da habe ich meine verkrampften Hände wieder herunternehmen können und sie auch endlich wieder in den Schoss legen können. Doch Doc Surprise habe ich für diesen Bärendienst noch immer nicht gar so gerne, wie es sich geziemt hätte, danken wollen. Er hat es eh auch noch heimlich geschehen machen, sprichwörtlich 'hinter meinem Rücken', habe ich erkannt. Und auch gegen meinen Willen, habe ich eingeflochten. Na ja, fast eben. Ein Bisschen habe ich mich aber schließlich doch danach gesehnt, wieder ausreichend Luft zu bekommen und die Seele endlich einmal wieder baumeln zu lassen.

Doch Doc Surprise hat von nun an großen Eifer dabei gezeigt, mich wieder auf seine Seite zu bringen. Ebenso gut gesagt, bin ich endlich auch bereit dazu gewesen, mich von ihm auf seine Seite bringen zu lassen. Seine Sicht auf die Dinge dieses Daseins habe ich selbst zu kennen und zu schätzen gelernt. Doch zuvor habe ich noch eine Phase gehabt, in der ich nicht gewusst habe, wo ich stehe und wie es mir wirklich geht.

Und so hat für mich der eigentliche Abgesang auf die Ordnung nach und nach mehr Bedeutung bekommen. Das mit der Ordnung der Dinge verbundene (Un-)Heil für den Menschen hat begonnen mich zu überfordern. In einem nicht enden wollenden Schwanengesang habe ich lange noch versucht zur Ordnung zu halten und vieles für sie eingesetzt und zum Besseren zu wenden gewusst. Doch dann ist das Heute gekommen, und mit dem Heute ist wieder der Sonnenschein in mein Dasein zurückgekehrt. Und jetzt weiß ich, auf Doc Surprise ist eigentlich doch Verlass. Auf jeden Fall verdient er eigentlich fast genau so viel Achtung wie jene Ordnungskräfte dieser Welt, denen all diese Menschen vertrauen.

Gott sei Dank ist nun alles dabei wieder gut zu werden!