Lust auf Krümel. Nähere mich Objekt. Beschleunige maximal. Lande exakt vor Zielobjekt. Krümel riesengroß. Vermutlich Leberkäserest. Rüssel ausgefahren. Richter in den Saal und ins Diktiergerät gleichzeitig sprechend: „Sozialrechtssache Berufsunfähigkeitspension Frau A. Laut Sachverständigengutachten Dr.B. vom 20.02.2017 ist es Frau A. unter Einhaltung ihres Leistungskalküls noch möglich eine Reihe von näher festgestellten leichten körperlichen Arbeiten, insbesondere als Sachbearbeiterin (mit maximal drittelzeitigem besonderem Zeitdruck und dem geistigen Anforderungsprofil einer Bürokraft), zu verrichten.…..blöde Fliege….ähm, letzteres aus dem Protokoll streichen.“
Versteckt hinter Buch. Abwarten. Das war knapp. Krümel noch in Sicht.
Verteidigerin C.: „Meine Mandantin leidet seit Jahren unter schweren und immer wiederkehrenden Panikattacken. Dies wurde von Psychiater Dr.D. bestätigt. Diese Krankheitserscheinungen werden aber vom Sachverständigen Dr.B. ganz unter den Tisch gekehrt. Dafür möchte ich gerne die Gründe wissen.“
Zielobjekt von Hand verdeckt. Suchflug durch Raum angestrebt. Abheben, Zielhöhe erreichen, Erkundigung. Neuer Landeplatz.
Sachverständiger Dr. B.: „Wie aus Befund 13.01.2017 ersichtlich, wurde ein klinischer Test durchgeführt. Wie dieser demonstriert, ist Frau A. durchaus in der Lage, einer Arbeit mit maximal drittelzeitigem Zeitdruck nachzugehen. Die verkehrteste Vorstellung ist, dass Panikattacken dies ausschließen. So eine Attacke ist ja nicht lebensbedrohlich, dauert 5-10 Minuten und dann ist alles vorbei.“
Cheeseburger kein Geruch. Nur Bild. Hineingebissen. Kalt, hart, nicht schmackhaft. Immer mehr solcher Pseudonahrung. Weiterflug angestrebt.
Die Gutachter im rückwärtigen Teil des Saales achten überhaupt nicht auf den Prozess, erzählen sich Witze, spielen am Tablet oder gehen am Laptop einer ganz anderen Arbeit nach. Einer hat sich schon für nach der Verhandlung bei McDonalds etwas bestellt. Einer amüsiert sich mit AngryBirds.
Die Verteidigerin C. erkundigt sich beim Sachverständigen Dr.B, ob er schon einmal eine Panikattacke hatte. Dieser verneint, fährt aber mit Fachvokabular und Hochnäsigkeit fort.
Höre Musik. Nähere mich Verursacherin. Töne werden von Flüssigkeit begleitet. Schmeckt salzig. Keineswegs uninteressant.
Frau A. laufen leise Tränen übers Gesicht. Sie zittert. Außer der Fliege beachtet sie niemand. Sie ist nahe einer Panikattacke.
Im Saal sitzen außer Frau. A. und ihrer Verteidigerin C. lauter Männer, die solche Merkwürdigkeiten nicht schätzen. Sie machen ja nur ihren Job. Ihr Job ist es, dass die Quote nicht überschritten wird. Die Quote von maximal 20% Zuerkennungen bei in etwa 80.000 Anträgen in Wien pro Jahr. Dafür, und nur dafür, bekommen sie Geld.
Flüssigkeit aufgeleckt. Zittriger Untergrund stört. Neuer Versuch Krümel anzusteuern. Perfekte Landung. Gelegenheit. Hineinbeißen.
Richter: „Da es sich nicht um einen unheilbar klinischen Fall handelt, wie die Gutachten bestätigen, und auch die physischen Einschränkungen (Fibromyalgie, Osteoporose, rheumatoide Arthritis, Inkontinenz,..[fährt mit einer langen Liste fort] Arbeitsfähigkeit nicht verhindern, schließen wir das Verfahren. Frau A., haben Sie noch etwas hinzuzufügen?“
Frau A. starrt den Richter an, dann verdrehen sich ihre Augen und sie fällt vom Stuhl.
Richter und Sachverständiger: „Immer das gleiche Theater. Spielen Sie uns hier doch nichts vor. Das ist doch lächerlich. Stehen Sie gefälligst auf.“
Frau A. hat aufgehört zu zucken. Die Verteidigerin beugt sich über sie und kontrolliert Atem und Herzschlag. „Nichts. Schnell, einen Arzt!“
Richter: „Das geht nun aber wirklich zu weit.“
Sachverständiger: „Also, ähm, ich muss ganz dringend in den Verhandlungssaal 219.“
Und die Fliege folgt weiter ihrem Zwang zur Nahrungssuche. Der Körper ist noch warm und im Mundwinkel finden sich noch Krümel.
Foto: Eigenes Werk
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