U-Bahnstationen sind sein Lieblingsort. Diese Menschenmassen, hektisches Treiben, und dann der Lärm – der perfekte Ort. Diesmal hatte er die Landstraße gewählt. Wo U3, U4 und Schnellbahn zusammenkommen, sind immer viele Leute unterwegs. Und desto eiliger sie es haben, desto besser. Dass heutzutage jeder mit Blick auf sein Handy anstatt auf seine Umgebung unterwegs ist, ist ja ein Glücksfall für ihn.
Meist steht er etwas abseits vom Menschenstrom, um nicht mitgerissen zu werden. Er ist ein aufmerksamer Beobachter und kann Leute sehr gut einschätzen. Die Blondine mit dem neuesten I-Phone und der Guccitasche zum Beispiel ist garantiert ein guter Fang. Sie spricht ganz erregt in ihr Handy, fuchtelt dabei mit ihrer freien Hand in der Luft herum. Und ihre Tasche klafft sperrangelweit auseinander, wobei das große getigerte Portemonnaie ganz oben liegt. Er reiht sich neben sie in die Masse ein, die von der U4 und von der Schnellbahn zur U3 eilt. Niemanden, auch nicht der Frau selbst, fällt es auf, wie er sich auf der Rolltreppe direkt neben sie stellt und blitzschnell in ihre offene Tasche greift. Fast wie ein Zauberer lässt er das modisch getigerte Portemonnaie in seiner großen Hosentasche verschwinden. Die Guccitasche als solche wäre zwar vielleicht die lohnendere Beute, aber das brächte viel Geschrei und wäre zu riskant.
Er hastet die Rolltreppe hinunter, hetzt den Bahnsteig entlang, steigt aber nicht in den jetzt einfahrenden Silberpfeil ein, sondern durchquert die Station und entschwindet mit der Rolltreppe nach oben Richtung Beatrixgasse. Er wirft einen unauffälligen Blick hinter sich. Nein, keiner hat etwas bemerkt, er wird nicht verfolgt. Er stellt sich in den nächsten Hauseingang und zieht das Portemonnaie aus seinem Versteck hervor. Was würde wohl diesmal darin sein? Er hatte schon Brieftaschen gestohlen, die mehr gekostet hatten als ihr Inhalt. Aber auch das Gegenteil war der Fall gewesen. Einmal hatte er versehentlich eine abgerissene alte Geldbörse entwendet. Zu seinem Erstaunen und seiner enormen Freude waren darin 20.000 Euro gewesen. Der Mann musste wohl gerade zum Autokauf unterwegs gewesen sein oder er hätte seine Verlobte mit einem sündteuren Smaragdring überraschen wollen. Pech gehabt. Mitleid kannte er nicht. Wer war schon so blöd, so viel Geld in bar mit sich herumzutragen? Der hatte es doch verdient gehabt, eine Lektion erteilt zu bekommen.
Voll Spannung öffnete er das getigerte Portemonnaiemonster. Diesen Augenblick liebte er besonders. Wenn er schon in Sicherheit war und herausfinden konnte, wie viel ihm sein Beutezug eingebracht hatte. Er öffnete die Börse und schaute neugierig hinein, doch auf den ersten Blick schien sie leer zu sein. Nein, das konnte jetzt nicht wahr sein. Kein Mensch, und schon gar keine Frau, schleppt so ein Riesending in der Handtasche herum ohne Bankomat- oder Visakarte, ohne DM-, Bipa- oder Billacard, ohne zumindest ein paar Euro drin.
Als er nun hektisch ein Seitenfach nach dem anderen öffnete, fand er wenigstens in einem eine Visitenkarte. Er dachte zumindest, dass es sich um eine Visitenkarte handelte, dem Aussehen nach. Als er aber las, was darauf stand, traute er seinen Augen nicht. Das konnte doch nicht wahr sein! Panisch schleuderte er sowohl das Portemonnaie als auch die Karte weit von sich. Aber es war zu spät. Die Blondine war so schnell und geräuschlos neben ihm aufgetaucht, dass er nur mehr die Handschellen klicken hörte. Und wortlos zog sie ihn zum wartenden Polizeiauto ums Eck und stieß ihn grob hinein.
Eine kleine Böe hob die Karte vom Asphalt hoch und wehte sie zur nach unten fahrenden Rolltreppe, wo sie auf einer Stufe liegen blieb. Ein junger Mann bemerkte das kleine Papierviereck und hob es neugierig auf.
Der Mann schüttelte den Kopf. Was es heutzutage für seltsame Werbungen gab, dachte er sich. Er drehte die Karte um, weil er wissen wollte, wofür damit geworben wurde. Aber seltsamerweise war die Rückseite leer. Naja, dachte er, wahrscheinlich ein Teaser für einen neuen Actionstreifen, und schon hatte er das Ding in den nächsten Papierkorb geworfen.
Dieser Text ist im VHS-Kurs Kreatives Schreiben bei Nicole Kovanda entstanden (Info siehe LinkTipps). Zuerst ging es darum, einen Steckbrief für eine Figur zu entwerfen (Alter, Herkunft, Aussehen und Charakter) und mit dieser Figur sollte man dann in einer Kurzgeschichte Leben einhauchten.