Da standen sie sich nun gegenüber, mit todernstem Gesicht und Hass in ihrem Blick. Zwei große Gestalten, die das Schicksal an diesem Ort und dieser Stunde zusammengeführt hatte. Das Duell war unvermeidlich. Die Wahl der Waffen hatte Aufsehen erregt, und eine beträchtliche Menge an Schaulustigen war nun rund um die beiden Duellierenden versammelt. Dieses Spektakel wollte man sich nicht entgehen lassen. Die Sekundanten standen bereit und achteten auf die Einhaltung die zuvor vereinbarten Regeln. Sie waren es auch, die die aufgeregte Menschenmenge auf Abstand hielten und zum Schweigen ermahnten. In der nun einkehrenden Stille, in der man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können, fielen die erste Worte. „Das Wort ist nur Symbol des Begehrens.“ Wie aus der Pistole geschossen kam das Zitat aus dem Mund des Herausgeforderten, denn dieser hatte das Privileg, das Duell zu beginnen. Nach einem kurzen Signal eines der Sekundanten räusperte sich die Herausforderin und ging sofort zum Gegenangriff über. „Worte sind Taschen, in die bald dies, bald jenes, bald mehreres auf einmal hingesteckt worden ist.“ Aus dem Publikum waren vereinzelte Buh-Rufe zu hören, die sich die Sekundanten jedoch sofort verbaten. Und erneut war es am Herausgeforderten, das Wort zu ergreifen, „Die Verführer der Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der Sprache.“ Vereinzelt konnte man Handys aufblitzen sehen, und schon bald wurde fleißig auf Facebook gepostet, Livestreams auf YouTube gestellt ,und auf Twitter vermehrten sich Kommentare mit Hashtag #NietzscheWortDuell in rasanter Weise. Der Herausforderer war inzwischen jedoch keineswegs sprachlos geblieben und hatte unbarmherzig zurückgeschlagen. „Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.“ Sogleich wurde heftig debattiert, wer der beiden Kontrahenten denn bisher das aussagekräftigere Zitat hervor geschossen hätte.
Wetten darüber, wer als Sieger hervorgehen würde, waren schon lange vor Beginn des Duells abgeschlossen worden. Die ganze Universität hatte dem Ereignis seit Tagen entgegen gefiebert und hatte sich seit dem Wurf des Fehdehandschuhs in zwei Lager geteilt. Wie zu erwarten gewesen war, standen die meisten der Professoren und Professorinnen fest auf der Seite von Prof. Kuhnert. Die Studierenden waren da flexibler, und so gab es in diesen Reihen sowohl Zuspruch für den alteingesessenen Professor der Germanistik als auch für die junge Studentin Andrea Berg, die den Herrn Professor zu diesem Duell herausgefordert hatte.
„Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist“, ertönte nun die klare Stimme von Andrea Berg. „Hört, hört“, rief da jemand aus dem Publikum und wurde sogleich zurechtgewiesen. Aber viele gaben dem Zwischenrufer recht, war doch dieses Zitat für den Vorfall in der Nietzsche-Vorlesung „Semantischer Realismus – Die Sprachlosigkeit der Sprache“ sehr zutreffend. Schließlich hatte Prof. Kuhnert ja wohl kaum an dem von seiner Studentin völlig korrekt wiedergegebenem Zitat (wenngleich nicht von Nietzsche, aber vollkommen zum Thema passend) Anstoß nehmen können, sondern nur an dem – zugegebener Weise ziemlich provokanten – Unterton.
Andrea Berg hatte nämlich – auf Grund von Unwissen zu der ihr gestellten Frage - auf sehr raffinierte, wenngleich eben etwas herausfordernde Art und Weise mit den Worten von Hugo von Hofmannsthal geantwortet: „"Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen", was unter ihren Mitstudierenden zu großem Gelächter und daraufhin beim Herrn Professor zu großem Unmut geführt hatte. Dieses Zitat entstammt einem fiktiven Brief, den Hugo von Hofmannsthal im Oktober 1902 in der Berliner Zeitung "Der Tag" publizierte. Sprachskepsis war zum Fin-de-siecle ja geradezu Zeitgeist und eben Thema der gesamten Vorlesung.
Der Ton macht die Musik, nach diesem Sprichwort hatte Prof. Kuhnert wohl seine Reaktion viel mehr ausfallen lassen als nach der Ansicht von Nietzsche, dass von der Musik her gesehen Sprache kein adäquater Ausdruck der Welt sei, da die Beschränkungen der Grammatik andere Formen der Erfahrungsorganisation unterdrücken. Die menschliche Gattung stelle schlussendlich für ihre Mitglieder ja eine Art Verpflichtung auf, "nach einer festen Konvention zu lügen". Nach dieser Theorie von Nietzsche hatte aber die Studentin ja der Verhaltensregel eigentlich voll und ganz Genüge getan.
Schon scholl die sonore Stimme von Prof. Kuhnert durch den Vorlesungssaal: „Wer keine fremde Moral kennt, kennt seine eigene nicht – gleichwie, wer keine fremde Sprache, keine fremde Religion kennt, seine eigene Sprache und Religion nicht kennt.“ Die Menge tobte. Immer mehr Nebenscharmützel waren inzwischen in den Zuschauerreihen ausgebrochen, und es gelang den Sekundanten kaum mehr, das Geschehen unter Kontrolle zu bringen. Seit Nietzsches Lebzeiten hatten seine Worte wohl kaum solch heiß umkämpfte Debatten ausgelöst wie hier am Institut für Sprachwissenschaft an der Uni Wien im Jahre 2016 nach dem gregorianischen Kalender.
Andrea Berg setzte jedoch zum Endstoß an. „Man belohnt seinen Lehrer schlecht, wenn man immer seine Schülerin bleibt.“ Dieses vom Geschlecht her auf die Studentin abgewandelte Zitat ließ nun auch Prof. Kuhnert nicht kalt. Man merkte ihm an, wie ihn die Worte getroffen hatten, und er begann zu wanken. Die Menge konnte sich kaum mehr halten. Es wurden immer mehr Plakate hochgehalten, auf denen „Andrea Berg“ zu lesen war und einige fingen nun an, ihren Namen zu skandieren. Das Duell der Nietzsche-Zitate schien aus den Fugen zu geraten.
Da hob Prof.Kuhnert seinen rechten Arm und forderte mit seinem unter den Studierenden bekanntem strengen Blick Ruhe. Und die Menge gehorchte. Einige Augenblicke herrschte völlige Schweigen, und in dieses hinein verschoss der Professor sein letztes Pulver. „Jedes Wort ist ein Vorurteil.“
„Und mit diesem Zitat gebe ich mich geschlagen und zolle meiner Studentin, Frau Andrea Berg, meine aufrichtige Ehrerbietung für Ihren Mut und Ihre Schlagkraft. Wir könnten uns sicher noch stundenlang mit Nietzsche-Zitaten duellieren, und ich lade meine Studenten und Studentinnen dazu gerne in meiner nächster Vorlesung ein. Meine beleidigenden Worte, die ich Frau Berg im Zorn des Mannes und leider nicht im Geist der Professur an den Kopf geworfen habe, bedauere ich sehr und bitte hier in aller Öffentlichkeit um Entschuldigung. Ich lege meine Waffe, die spitze Zunge der Sprache, hiermit nieder und frage Frau Berg, ob Sie mich begnadigt oder mir doch lieber den Todesstoß versetzen will?“
Besagte Studentin Berg verbeugte sich zuerst vor ihrem Professor und dann vor dem Publikum, welches ihr laut applaudierte und sie bejubelte, so dass sie einige Minuten warten musste, bis ihre Antwort hörbar war: „Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben.“ Als sie das bestürzte Gesicht ihres Professors sah, fing sie laut zu lachen an und ergänzte mit Schalk in den Augen: „..ist uns beiden noch nicht bestimmt. Meinem gekränkten Stolz wurde Genüge getan. Und Nietzsche kann sich wohl kaum beschweren, dass wir ihn für unser Duell aus dem Grab bemüht und ihm somit zu einer schon lange nicht erlebten Renaissance verholfen haben. Sie werden sich vor Inskriptionen zu Ihrer Vorlesung kaum mehr retten können.“
Und so endete das Duell. Wer darüber oder über Nietzsche mehr erfahren will, braucht ja nur danach zu googeln. Mich als Schriftstellerin trifft die Aussage über die Unfähigkeit der sprachlichen Kommunikation jedoch zutiefst, ..dass sie nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen“ und ich habe mich der Kunst verschrieben, immer wieder das Gegenteil zu beweisen. „Hört, hört!“.
Foto: Eigenes Werk