Ameise 7903 reichte das Blattstück an ihre rechte Nachbarin weiter und übernahm danach – wie zuvor – von ihrer linken Nachbarin das nächste. Die Arbeit verlief präzise wie immer und erforderte kein Nachdenken. Sie war Teil der Kolonie und wusste, was sie zu tun hatte.
Plötzlich war da eine Stimme „PSt, 7903. Ich brauche deine Hilfe. Bitte komm schnell. Ich warte bei der Brombeerhecke auf dich.“ 7903 hatte diese Stimme noch nie zuvor gehört und schaute auf. Sie sah gerade noch einen großen Schatten, aber nicht mehr. Wer oder was war das? Warum wurde gerade sie um Hilfe gebeten? Während sie weiter Blattstücke weiterreichte, hielt sie es immer mehr für eine Einbildung. Aber irgendwie ließ es ihr doch keine Ruhe und nach einigen Minuten schlich sie sich fort und lief zur Brombeerhecke.
Dort angekommen dachte sie sofort an einen Hinterhalt, denn vor ihr stand ein riesiger Vogel. Bevor sie aber die Flucht ergreifen konnte, sprach das Rotkehlchen: „Hab keine Angst, ich tu dir nichts. Ich brauche dringend deine Hilfe. Meine Frau wurde vom bösen Nachtkobold gefangen und wird jetzt in seinem Waldschloss festgehalten. Die weise Eule hat mir gesagt, dass nur du sie befreien kannst. Bitte hilf uns.“
Nach langem Hin und Her und viel Zaudern stimmte 7903 zu, es zu versuchen. „Klettere in mein Gefieder und ich fliege dich hin. Dort setze ich dich dann bei einem Türchen ab, das viel zu klein ist für mich, aber du passt ohne Probleme durch. Du musst die goldene Kammer finden, dort wird meine Frau gefangen gehalten. Irgendwie musst du sie befreien, denn sie fürchtet sich sehr von dem Nachtkobold und wer weiß, was er ihr antun will.“
Und schon kletterte 7903 in das Gefieder des Vogels und hielt sich gut an, denn das Rotkehlchen flog schnell durch den Wald. Beim Schloss des Nachtkobolds angekommen gelangte die Ameise ganz leicht durch die kleine Tür. Soweit so gut. Aber das Schloss war riesig und nachdem, sie stundenlang herumgeirrt war und es schon dunkel wurde gab sie es auf, das goldene Zimmer zu finden. Als sie so verzweifelt am Boden saß, kam ein Glühwürmchen vorbeigeflogen und fragte, warum denn eine Ameise alleine da so traurig saß. „Ach“, fing 7903 an, „ich soll das Rotkehlchenweibchen retten, aber es gibt hier tausende Räume. Jetzt wird es auch noch dunkel und ich werde das goldene Zimmer wohl nie finden.“ Da lachte das Glühwürmchen und schaltete sein Licht ein. „Da kann ich dir helfen. Schau, Licht haben wir schon. Du musst mir nur folgen, denn ich weiß, wo der Nachtkobold das Rotkehlchen eingesperrt hat.“ Und schon flog es voraus und 7903 folgte ihm sogleich. Nach vielen Stiegen, Gängen und Türen landete das Glühwürmchen und deutete auf eine goldene Tür: „Hier ist es. Mehr kann ich dir aber leider nicht helfen, denn Schlüssel habe ich auch keinen.“ So gesprochen flog das Glühwürmchen davon, noch bevor 7903 überhaupt daran denken konnte, sich zu bedanken.
Aber was sollte 7903 jetzt machen. Zwar war es für sie kein Problem, die Tür hinaufzuklettern und durch das Schlüsselloch in das Zimmer zu gelangen. Aber wie sollte sie das Rotkehlchen befreien, das war doch viel zu groß für das Schlüsselloch. Aufs Neue verzweifelt blieb sie lange im Schlüsselloch sitzen und wusste nicht weiter. Da sang das Rotkehlchen plötzlich: Hört mich denn keiner? Bitte, bitte, helft mir. Der Nachtkobold hat mich gefangen und ich kann hier nicht heraus. Und mein armer Mann wartet doch so auf mich.“
Wie konnte sie das Rotkehlchen nur im Stich lassen, nein, das ging nicht. Irgendetwas musste ihr einfallen. Und wirklich, sie hatte eine Idee. Beim Rotkehlchenweibchen angelangt, erklärte sie ihr den Plan und kletterte hurtig zum einzigen Fenster hinauf, welches zwar groß genug war, dass der Vogel hindurchfliegen hätte können, aber es war versperrt. 7903 jedoch konnte durch einen Ritz hinausklettern. Das Rotkehlchenmännchen wartete draußen und schnell flogen sie zum Ameisennest zurück. Dort erklärte 7903 seinen Plan einer anderen Ameise, diese erzählte es der nächsten und so weiter. Und schon machten sich tausende Ameisen auf den Weg zum Waldschloss. Dort kletterten sie zum Fenster des goldenen Zimmers hinauf und fingen an, die Mauer um das Fenster anzuknabbern und den Mörtel aufzuweichen. Immer mehr Ameisen kamen und schon gab es rund um das Fenster einen kleinen Ritz. Sie fraßen sich so lange durch die Mauer durch bis das Fenster zu Boden stürzte. Sofort erkannte das Rotkehlchenweibchen seine Chance und schwang sich durch das Fenster ins Freie. Das Rotkehlchenmännchen, das an der Mauer mitgepeckt hatte, war unendlich erleichtert, seine Frau wiederzusehen, und das Pärchen bedankte sich überschwenglich bei 7903 und den anderen Ameisen. Dann flogen sie schnell davon, bevor der Nachtkobold zurückkam.
7903 und die Ameisen jedoch machten sich auf den Weg zurück zu ihrem Nest. Wie üblich marschierten sie im Gleichmarsch. 7903 jedoch fiel das plötzlich schwer und sie lief manchmal in die vordere Ameise hinein oder blieb stehen und die hinter ihr stolperte über sie. Irgendwie fühlte sie sich wie ein Fremdkörper und musste die ganze Zeit daran denken, dass sie gerne dem Rotkehlchenpärchen in den Wald gefolgt wäre. Wie schön musste es sein, Teil eines Paares zu sein und nicht gleich einer ganzen Kolonie.
Aber sie war doch Teil eines Ganzen und auch wenn die Kolonie aus Millionen Ameisen bestand, war die Kolonie ohne Ameise 7903 nicht vollständig. Als die Ameisentruppe mit 7903 beim Nest ankam, war da plötzlich das vertraute Gefühl, schließlich war das immer ihre Heimat gewesen. Und ganz selbstverständlich lief sie die Gänge und genoss es, wie in dem scheinbaren Chaos Ordnung herrschte und jede Ameise genau ihren Platz einnahm und wusste, was sie zu tun hatte. Sie war ein wichtiger Teil von etwas Großem und jede Ameise war wichtig für die Kolonie.
Das war ein aufregender Tag gewesen und sie würde ihn nie vergessen. Aber sie wollte nicht jeden Tag so ein Abenteuer erleben. Viel besser war es doch, sich in der Kolonie geborgen zu fühlen. Ab und zu erzählte sie aber den Kleinen, wie sie das Rotkehlchenweibchen aus dem Waldschloss des bösen Nachtkobolds gerettet hatte. Die fanden das furchtbar aufregend und fühlten sich umso mehr wohl im Schutz der Ameisenkolonie.
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