oder Erleichterungsseufzer über das Umblättern der Seiten des Buches Die Möwe Jonathan
Erwartungsvoll blickte er mich an. Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat ganz nahe an ihn heran und nahm ihm das Röhrchen aus der Hand. Er nickte mir aufmunternd zu: „Probier, es wird dir gefallen.“ Wider besseren Wissens entkorkte ich die Phiole und hob sie bis zu meinem Kinn. Dann hätte ich sie fast fallen gelassen, so herzzerreißend schien mir der Schrei, den ich daraus vernahm. „Möwe am Meer. Eingefangen an der Nordsee, letzten Sommer. Gefällt es dir?“ Nein, es gefiel mir keineswegs. Der Ruf einer Möwe gehörte ans Meer. Er bedeutete salzige Meeresluft, Weite und Freiheit. Er bedeutete Loslassen, Liebe am Strand und lange Schiffsreisen. All dies aber war eingesperrt worden in dieses kleine Gefäß und aus dem Glasbehälter drang nicht der freie Ruf einer Möwe, sondern unendliche Sehnsucht nach dem Himmel. Es war ein furchtbar trauriger Ton, voll Verzweiflung. Es klang nach verpestetem Wasser, ölverschmierten Federn und sterbenden Fischen. Es war der Todesschrei der Freiheit. Der stolze Ruf des pfeilschnellen weißen Vogels, der am Himmel nur ihm bekannte Pfade zog, eingesperrt in einen gläsernen Sarg seiner Stimme, verändert bis zur Unkenntlichkeit. Kaum ein paar Sekunden waren vergangen, mir aber schien es wie eine Ewigkeit, in der mir die Möwe alle ihre Qualen zugeschrien hatte. Ich hielt es nicht mehr aus und stoppelte die Phiole wieder zu, meine Hände zitterten, als ich sie vorsichtig an ihren Platz im Regal zurückstellte.
Die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben. „Es hat dir nicht gefallen?“ Unsere Augen trafen sich, und ein Abgrund tat sich auf, der vorher nicht da gewesen war. Aber so schnell wollte er nicht aufgeben. „Ich habe dich vielleicht falsch eingeschätzt. Gibst du mir noch eine zweite Chance?“ Wie sollte ich Nein sagen, fühlte ich fast Mitleid mit ihm. Und auch ich hatte doch gehofft, dass uns etwas verband. „Ja“, flüsterte ich zaghaft, „ich gebe dir noch eine Chance.“
Er nickte fast unmerklich mit dem Kopf. Und sofort begannen seine schlanken Hände an den Regalen entlang zu gleiten, vorbei an hunderten Röhrchen. Einmal streckte er seine gelenkigen Finger fast nach einem aus, doch dann zog er sie wieder zurück, und seine Suche ging einige Regale weiter. „Ja genau, das ist es.“, sagte er zu mir oder doch mehr zu sich selbst, als sein Daumen und sein Zeigefinger sich um eine Phiole schlossen, die er mir äußerst sanft in die Hand drückte. Dabei schaute er mir so hoffnungsvoll in die Augen, und auch die kurze Berührung unserer Hände war fast elektrisierend. Kaum wagte ich, das Röhrchen zu entkorken, so viel Angst hatte ich, dass er sich wieder geirrt haben könnte.
Behutsam zog ich den Korken heraus und hob die Phiole an mein Ohr. Zuerst hörte ich gar nichts, dann ein kaum wahrnehmbares Rascheln. Gebannt lauschte ich einem ganz feinen Ton, dann wieder lange Stille. Dies wiederholte sich mehrmals. Das Geräusch hatte mich in seinen Bann gezogen, und ich merkte kaum, dass ich die Luft anhielt und auf das Umblättern der nächsten Seite wartete wie eine Ertrinkende auf die Atemluft.
Erneut trafen sich unsere Augen. Diesmal aber hielten seine meinen Blick gefangen. Mir entkam ein unwillkürlicher Seufzer der Erleichterung. Da plötzlich hielt er eine weitere Phiole in der Hand, erschreckte mich mit einer blitzschnellen Bewegung in Richtung meines Mundes, schien dort etwas einzufangen, und korkte das Gefäß mit geübter Hand sofort wieder zu. Ich fühlte mich auf infamste Weise ausgenutzt und betrogen, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und stürmte aus dem Raum, die Stiegen hinauf an die frische Luft.
Er jedoch blieb zurück, mit einem neuen Ton für sein Gefängnis der Geräusche, sein Hobby, seine Leidenschaft, seine große Liebe, sein Ein und Alles, sein Leben. In dem andere Menschen keinen Platz hatten, außer als Medium für mehr Material. Einsam aber glücklich beschriftete er die Phiole:
Aufnahmedatum: 25.04.2017
Titel: Stoßseufzer der Erleichterung (gefolgt von einer Ohrfeige, leider zu langsam gewesen, um Geräusch einzufangen)
Dauer: 2,372 Sekunden
Spezies: Mensch
Geschlecht: weiblich
Alter: 37 Jahre
Auslöser: Umblättern von Buchseiten
Qualität: ausgezeichnet